Entscheidung für Silke

Elfi

Mitglied
Entscheidung für Silke

„Heute Abend wird es später“, sagte Silke fast nebenbei am Frühstückstisch, „Frau Meierbernd hat eine Teambesprechung anberaumt…“
Silke setzte die Kaffeetasse an die Lippen.
„Hast du gestern schon gesagt…“, bemerkte Jürgen trocken.
„Ich habe mit Flo gesprochen!“, erwiderte Silke im scharfen Ton ihrem Mann, der sich vorsorglich hinter dem Lokalteil der Zeitung verschanzte.
„Eiszeit?“, fragte Flo peripher, sah abwechselnd seine Mutter, und Jürgens großen Hände an, ehe er den letzten Bissen seines Schokobrotes in den Mund schob.
„Nein!“, beschwichtigte sie ihren Sohn und schaffte es sogar, ein einigermaßen taugliches Lächeln aufzusetzen.
„Ich habe momentan viel um die Ohren…“ Silke stand vom Tisch auf und räumte ihre Tasse in die Spülmaschine.
„Vergiss nicht, dir ein Brot für die Schule zu machen…“
„Ja, Mama, ich bin fast fünfzehn und kenne deine Litanei schon auswendig: Brot mitnehmen, was zu Trinken einpacken, pünktlich aus dem Haus gehen, Schlüssel nicht vergessen…“
Silke lächelte ihrem Sohn zu, und Jürgen ließ die Zeitung in der Hoffnung auf einen Abschiedskuss von Silke sinken.
„Komm bitte pünktlich nach Haus, damit Florian nicht so lang allein bleiben muss…“
„Du weißt doch, dass ich mich immer beeile!“
Bei seinen Worten fielen Silkes Mundwinkel zum Kinn hinunter.
„Ach, das soll ich dir glauben!?“, fauchte sie.
Jürgen biss sich auf die Lippen; die Bemerkung hatte den wunden Punkt getroffen, und er sah Silke tief in die Augen.
„Silke, ich liebe dich!“
Es klang wie die verzweifelte Bitte eines Durstigen um Wasser.
„Wo sind die Beweise?“ Silke stemmte dabei ihre Hände in die Hüften. Das war nie gut – wusste er aus Erfahrung – und zog es vor, den Artikel über den demografischen Wandel zu studieren.
„Erkundige dich bei deinen Kollegen nach dem Stand der Dinge in der besagten Sache…“
„Mm“, brummte Jürgen nur, und widmete sich abermals dem Lokalteil, während
Silke mit einem letzten Tschüß – wie jeden Morgen um kurz nach 7 Uhr – die gemütliche kleine Küche der Wohnung verließ, um die lange Strecke zur Arbeitsstelle nach Südsindzingen zurückzulegen.
„Du sag mal, Jürgen…“
Jürgen klappte die obere Zeitungsecke um und sah den Jugendlichen an, der betont langsam sein Schulbrot schmierte.
„Was meinte Silke mit der besagten Sache?“
„Ach, nichts Wichtiges…“ Jürgen verbarg sein Gesicht abermals hinter der Lektüre.
„Doch!“, konterte Florian, „Es muss wichtig sein, weil Ma sich momentan doch nur für wichtige Dinge interessiert!“
Jürgen seufzte und ließ die Zeitung sinken.
„Okay, für deine Ma und für mich ist es wichtig…“
„Dann ist es auch für mich wichtig!“, beharrte Florian, und heftete seine Augen voller Interesse auf Jürgens Gesicht.
Jürgen ließ die Arme auf die Zeitung sinken und wich Florians Blick aus.
„Nix da!“, erklärte er, „Für dich ist es nicht wichtig!“, dann blickte er zur Armbanduhr.
„Wichtiger wäre jetzt, dass du dich beeilst, um zur Schule zu kommen!“
Florian zog einen Flunsch und legte sein fertiges Schulbrot in die Brotdose.
„Aber ihr sagt es mir noch?“
„Vielleicht Morgen…“
Florian grinste, nahm seine Brotdose und verschwand aus der Küche.
„Tschüß Jürgen“, sagte er noch, ehe er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog, doch Jürgen saß fast regungslos am Küchentisch und starrte zum Fenster hinaus, als ob er wieder den Specht am Stamm der wuchtigen Tanne beim Pochen beobachten würde, wie zwei Wochen zuvor…
Der Specht in der Tanne… Die Aktentasche mitnehmen und das Haus verlassen… Zum Kombi an der Straße gehen… Den Kieselstein auf dem Autodach entdecken… Wütend auf Florian werden… Näher heran kommen und sehen, dass der Kiesel als Beschwerung für ein weißes Blatt dient, das ganz sacht im Wind flattert… Den Kiesel anheben… Das Blatt in die Hand nehmen und den Text auf der Unterseite lesen, der aus ausgeschnittenen, und aufgeklebten Zeitungsüberschriften bestand:
„Anstatt Silke zu fragen, von wem sie geliebt wird, solltest du dich fragen, welchen Sinn diese Botschaft hat. Aber ich kenne dich… Du mich auch?“

Jürgen saß schon den ganzen Vormittag am Schreibtisch in der Polizeidienststelle der Kreisstadt und starrte grübelnd Löcher in die Luft, anstatt sich der Aktenberge zu erbarmen.
„Was ist los mit dir, Jürgen?“
Jürgen zuckte zusammen und sah auf. Sein Kollege Thorsten stand mit kraus gezogener Stirn neben ihm am Schreibtisch.
„Ach, Thorsten…“, seufzte er, „Meine Frau beteuert immer noch, sie wisse nicht, von wem die Nachricht stammt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr glauben kann…“
Jürgen strich nachdenklich mit seinen Händen über den gestutzten Bart.
„Sie müsste doch wissen, ob, und von wem sie geliebt wird!“
Thorsten lehnte sich an den Schreibtisch an. „Du hast doch Sebastian gebeten, das Papier und den Stein kriminaltechnisch zu untersuchen…“
„Der hat sich noch nicht gemeldet… Und Silkes Überstunden…“
Jürgen blickte zur Schreibtischplatte.
„Der Sinn der Botschaft… ich tappe im Dunkeln, und der Typ kennt mich, aber mir fällt nicht ein, wer das sein könnte…“
„Ach“, wiegelte Thorsten ab, „warte einfach ab, was Sebastian herausfinden kann…
Sieh mal, er kommt gerade mit einer Akte an…“

Jürgen nahm seine Aktentasche, klemmte sich die Akte unter den Arm und verließ das Dienstgebäude. Kurz darauf saß er schon in seinem Kombi. Nachdem er die Akte auf dem Beifahrersitz gelegt hatte, und die Aktentasche im Fußraum davor stand, holte er sein Handy aus der Gürteltasche hervor und wählte Evas Rufnummer.
„Ja?“
„Hallo Eva…“ Jürgen starrte zum Armaturenbrett, ohne es zu betrachten.
„Ach, hallo Jürgen!“ Evas Stimme klang verführerisch, und Jürgen gönnte sich beim Gedanken an ihren wunderbar schönen Anblick ein Grinsen.
„Hast du Zeit für mich?“
„Hat Sebastian was wegen der mysteriösen Botschaft herausgefunden?“
„Ja, das hat er, aber deswegen rufe ich nicht an… Sei in einer halben Stunde auf dem Autobahnparkplatz!“
„Oh, der wehrte Herr möchte sein Vergnügen…“
„Ja, was dachtest du denn? Ich will dich spüren! Du mich doch auch!“
„Doch, gerne… Ich habe nur ein Problem: ich kann mich nicht davon machen…“
„Jetzt stelle dich nicht so an! Das hast du doch sonst auch regeln können!“ Jürgen war lauter geworden, als üblich, und er biss sich auf die Zähne.
„Heute ist es leider nicht möglich… Schwiegermutter hat Geburtstag, und wenn ich nicht erscheine…“
„Na dann… Wann können wir uns denn wieder treffen? Morgen?“
„Ich weiß es noch nicht; ich rufe dich morgen an, okay?“
„Meinetwegen… Okay, bis dann.“
Eva beendete das Gespräch und Jürgen zog einen Flunsch, weil der erste Teil seines Abends nicht nach Plan verlaufen würde…

„Hallo Schatz!“
Silkes fröhlicher Gesichtsausdruck schwand, als sie Jürgen mit verschränkten Armen am Küchentisch sitzen sah. Die fahle Beleuchtung überm Tisch betonte die Grübelfalten auf seiner Stirn; diese, und die graue Akte auf dem Tisch verhießen nichts Gutes! Silke schluckte und kam langsam näher.
„Deine Kollegen haben was herausgefunden?“
Jürgen starrte Silke ganz ernst an, ehe er betont langsam redete.
„Ja, Sebastian hat viel heraus gefunden…“
Silke setzte sich an den Tisch und sah Jürgen in die Augen. Ein wenig Angst schwang in ihrem Blick, und sie versuchte, die geschlossene Akte auf dem Tisch – so gut es ging – zu ignorieren.
„Der Kiesel…“ Jürgen zog die Worte - für Silke qualvoll - in die Länge.
„…kann von überall her sein… Die Fingerabdrücke…“
„Sag es schon!“, drängte sie ihn, und setzte sich weiter vor auf die Stuhlkante.
„Die Fingerabdrücke sind polizeilich nicht erfasst.“
„Also ist nichts bewiesen!“ Silke atmete erleichtert auf und lächelte.
„Ich wäre mir an deiner Stelle nicht so sicher!“
Silkes Schultern sackten hinunter, und ihr Lächeln löste sich wie eine Fata Morgana im Nichts auf.
„Sebastian hat herausgefunden, dass die aufgeklebten Buchstabenschnipsel aus der Sindzinger Zeitung stammen …“
Jürgen beobachtete Silkes Gesicht. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an, und ihr Mund stand staunend offen. Doch sie fasste sich wieder.
„Die Zeitung hat eine Auflage von 500.000 Exemplaren!“
„Ja, und einer der Leser ist der, der dich liebt…“
Jürgens Blick war starr auf Silke gerichtet. Sie rang nach Luft und kämpfte mit den aufsteigenden Tränen in ihren Augen.
„Ich weiß nichts davon! Und außer den drei Kollegen kenne ich niemanden aus Sindzingen!“
„Garantiert doch!“
„Nein!“ Silke schrie es fast heraus, und eine erste Träne kroch über ihre Wange.
„Doch! Deine Kolleginnen!“
Silke merkte, wie ihre Kinnlade hinunter fiel, und sie vergaß beinahe das Atmen.
„Die Botschaft wurde von einer Frau verfasst; die DNA- Spuren können nicht lügen! Wer ist es? Frau Meierbernd?“
„Du… du denkst, ich bin…“
„Beweise…“, begann Jürgen, doch Silke unterbrach seinen Satz, indem sie ruckartig ihren Stuhl nach hinten schob.
„Du spinnst!“, entgegnete sie scharf. Sie flüchtete vom Tisch, und Jürgen zog es vor, den Rest seines unvollendeten Satzes `Beweise mir das Gegenteil´ für sich zu behalten, als die Küchentür mit lautem Knallen ins Schloss fiel.
Der zweite Teil des Abends war für Jürgen ebenfalls nicht nach Plan verlaufen.
Er saß stumm am Tisch, sah zum grauen Aktendeckel, unter dem das unzufrieden stellende Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung lag; die Schreiberin: eine Frau…
Aber ich kenne dich… Du mich auch?
Jürgen grübelte, ob er Frau Meierbernd schon mal begegnet war. Kannte er überhaupt eine von Silkes Arbeitskolleginnen?

Jürgen saß zur Mittagszeit ganz allein in der Kantine der Dienststelle an einem der Tische. Vor ihm stand der Teller mit Bratwurst und Kartoffelsalat, doch er hatte Appetit auf etwas anderes. Leider war der gesamte Vormittag verstrichen, ohne dass sein Handy vibriert hatte…
Er legte das Essbesteck neben dem Teller, griff zu seinem Handy und wählte.
„Ja“
„Hallo Eva…“
„Hallo Jürgen…“, säuselte sie ihm durch die Ohrmuschel zu.
„Treffen wir uns heute?“
„Du kannst es wohl nicht abwarten, wie?“
Jürgen schluckte. Manche Bemerkungen von Eva trafen auf Anhieb ins Schwarze.
„Nein, kann ich nicht…Und unser letztes Treffen liegt über zwei Wochen zurück! Also: was ist? Ich kann auch zu dir nach Sindzingen fahren, wenn…“
Jürgen stockte für einen Moment. Sindzingen… Die Zeitung… Absurde Gedanken!
„…wenn du möchtest.“
„Du meinst wohl: weil du möchtest! Läuft nichts mehr mit deiner Frau?“
„Nein. Seitdem ich sie gefragt hatte, wer sie lieben würde, ist es ganz vorbei…“
„Du Ärmster…“, beteuerte Eva, und Jürgen war sich sicher, von ihrem Mitgefühl gestreichelt zu werden.
„Mir war klar, dass du sie fragen würdest, statt über den Sinn der Botschaft zu grübeln…“
„Die Botschaft hat keinen Sinn! Ich kenne keine von Silkes Kolleginnen!“
Er merkte, dass er seine Stimme senken sollte. „Darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Sag mir lieber, wann wir uns treffen!“, drängte er.
„Gar nicht mehr.“
Mit dem Entgleiten seiner Gesichtszüge wäre beinahe auch das Handy aus seiner Hand gerutscht.
„Wie? Was? Gar nicht mehr? Warum das denn?“ Er starrte fassungslos zum Teller und wartete auf Evas Antwort.
„Warum? Das kann ich dir sagen: nachdem wir uns vor knapp drei Wochen getroffen hatten, hattest du dich entschieden, Silke treu zu bleiben, aber keine zwei Tage später…“
„Mein Gott, es ist eben passiert!“, konterte er nach der kleinen Pause.
„Ja, und es würde immer wieder passieren, weil du dich nur selbst liebst!“
Jürgen schnappte nach Luft, ehe Evas Stimme erneut an sein Ohr drang:
„Jedes weitere Treffen von dir und mir wäre ein Faustschlag gegen Silke. Ich habe mich entschieden, Silke nicht mehr zu schlagen. Und wenn du sie lieben würdest, würdest du genauso denken. Aber ich kenne dich… Du mich auch?“
 

Haremsdame

Mitglied
Hallo Elfi,
manchmal dauert es etwas, bis ich mich an einen längeren Text wage. Es gibt Tage, da ist das Schreiben einfach wichtiger als das Lesen und dann gibt es wieder Tage, an denen ist Zeit zum Lesen...
Deine Geschichte gefällt mir. Sie hat mich lächelnd zurückgelassen. Der Aufbau lässt Neugier und Spannung entstehen. Mir sind aber auch Ungereimtheiten aufgefallen:
„Hast du gestern schon gesagt…“, bemerkte Jürgen trocken.
„Ich habe mit Flo gesprochen!“, erwiderte Silke im scharfen Ton [strike]ihrem Mann[/strike], der sich vorsorglich hinter dem Lokalteil der Zeitung verschanzte.
Ich finde, dass es schon klar ist, wem sie im scharfen Ton erwidert, deshalb würde ich ihrem Mann streichen
„Eiszeit?“, fragte Flo [strike]peripher[/strike], sah abwechselnd seine Mutter[strike],[/strike] und Jürgens großen Hände an, ehe er den letzten Bissen seines Schokobrotes in den Mund schob.
Silke lächelte ihrem Sohn zu, und Jürgen ließ die Zeitung in der Hoffnung auf einen Abschiedskuss [strike]von Silke [/strike]sinken.
Es klang wie die verzweifelte Bitte eines Durstigen um Wasser[blue]Verdurstenden[/blue].
Der Specht in der Tanne… Die Aktentasche mitnehmen und das Haus verlassen… Zum Kombi an der Straße gehen… Den Kieselstein auf dem Autodach entdecken… Wütend auf Florian werden… Näher heran kommen und sehen, dass der Kiesel als Beschwerung für ein weißes Blatt dient, das ganz sacht im Wind flattert… Den Kiesel anheben… Das Blatt in die Hand nehmen und den Text auf der Unterseite lesen, der aus ausgeschnittenen, und aufgeklebten Zeitungsüberschriften bestand:
„Anstatt Silke zu fragen, von wem sie geliebt wird, solltest du dich fragen, welchen Sinn diese Botschaft hat. Aber ich kenne dich… Du mich auch?“
Hier stört mich das Wort Kiesel. Darunter stelle ich mir ein winziges Steinchen vor, das niemals ein Blatt Papier festhalten könnte. Ein kleiner Stein wäre dazu allemal besser geeignet.
Jürgen saß schon den ganzen Vormittag am Schreibtisch in der Polizeidienststelle der Kreisstadt und starrte grübelnd Löcher in die Luft, anstatt sich der Aktenberge zu erbarmen.
Das hast Du gut beschrieben!
Jürgen nahm seine Aktentasche, klemmte sich die Akte unter den Arm und verließ das Dienstgebäude. Kurz darauf saß er schon in seinem Kombi. Nachdem er die Akte auf dem Beifahrersitz gelegt hatte, und die Aktentasche im Fußraum davor stand, holte er sein Handy aus der Gürteltasche [strike]hervor [/strike]und wählte Evas Rufnummer.
„Ach, hallo Jürgen!“ Evas Stimme klang verführerisch, und Jürgen gönnte sich beim Gedanken an ihren wunderbar schönen Anblick ein Grinsen.
wunderbar schön ist eindeutig zuviel. Entweder wunderbar oder schön. Ich würde es ganz weglassen. Denn dass es für ihn ein besonderer Anblick war, geht aus dem Text hervor.
„Oh, der we[strike]h[/strike]rte Herr möchte sein Vergnügen…“
Soweit meine minimalen Veränderungsvorschläge . . .
Mit den besten Grüßen
die Haremsdame
 

Elfi

Mitglied
Entscheidung für Silke

„Heute Abend wird es später“, sagte Silke fast nebenbei am Frühstückstisch, „Frau Meierbernd hat eine Teambesprechung anberaumt…“
Silke setzte die Kaffeetasse an die Lippen.
„Hast du gestern schon gesagt…“, bemerkte Jürgen trocken.
„Ich habe mit Flo gesprochen!“, erwiderte Silke im scharfen Ton,und Jürgen verschanzte sich vorsorglich hinter dem Lokalteil der Zeitung.
„Eiszeit?“, fragte Flo, sah abwechselnd seine Mutter, und Jürgens großen Hände an, ehe er den letzten Bissen seines Schokobrotes in den Mund schob.
„Nein!“, beschwichtigte sie ihren Sohn und schaffte es sogar, ein einigermaßen taugliches Lächeln aufzusetzen.
„Ich habe momentan viel um die Ohren…“ Silke stand vom Tisch auf und räumte ihre Tasse in die Spülmaschine.
„Vergiss nicht, dir ein Brot für die Schule zu machen…“
„Ja, Mama, ich bin fast fünfzehn und kenne deine Litanei schon auswendig: Brot mitnehmen, was zu Trinken einpacken, pünktlich aus dem Haus gehen, Schlüssel nicht vergessen…“
Silke lächelte ihrem Sohn zu, und Jürgen ließ die Zeitung in der Hoffnung auf einen Abschiedskuss sinken.
„Komm bitte pünktlich nach Haus, damit Florian nicht so lang allein bleiben muss…“
„Du weißt doch, dass ich mich immer beeile!“
Bei seinen Worten fielen Silkes Mundwinkel zum Kinn hinunter.
„Ach, das soll ich dir glauben!?“, fauchte sie.
Jürgen biss sich auf die Lippen; die Bemerkung hatte den wunden Punkt getroffen, und er sah Silke tief in die Augen.
„Silke, ich liebe dich!“
Es klang wie die verzweifelte Bitte eines verdurstenden.
„Wo sind die Beweise?“ Silke stemmte dabei ihre Hände in die Hüften. Das war nie gut – wusste er aus Erfahrung – und zog es vor, den Artikel über den demografischen Wandel zu studieren.
„Erkundige dich bei deinen Kollegen nach dem Stand der Dinge in der besagten Sache…“
„Mm“, brummte Jürgen nur, und widmete sich abermals dem Lokalteil, während
Silke mit einem letzten Tschüß – wie jeden Morgen um kurz nach 7 Uhr – die gemütliche kleine Küche der Wohnung verließ, um die lange Strecke zur Arbeitsstelle nach Südsindzingen zurückzulegen.
„Du sag mal, Jürgen…“
Jürgen klappte die obere Zeitungsecke um und sah den Jugendlichen an, der betont langsam sein Schulbrot schmierte.
„Was meinte Silke mit der besagten Sache?“
„Ach, nichts Wichtiges…“ Jürgen verbarg sein Gesicht abermals hinter der Lektüre.
„Doch!“, konterte Florian, „Es muss wichtig sein, weil Ma sich momentan doch nur für wichtige Dinge interessiert!“
Jürgen seufzte und ließ die Zeitung sinken.
„Okay, für deine Ma und für mich ist es wichtig…“
„Dann ist es auch für mich wichtig!“, beharrte Florian, und heftete seine Augen voller Interesse auf Jürgens Gesicht.
Jürgen ließ die Arme auf die Zeitung sinken und wich Florians Blick aus.
„Nix da!“, erklärte er, „Für dich ist es nicht wichtig!“, dann blickte er zur Armbanduhr.
„Wichtiger wäre jetzt, dass du dich beeilst, um zur Schule zu kommen!“
Florian zog einen Flunsch und legte sein fertiges Schulbrot in die Brotdose.
„Aber ihr sagt es mir noch?“
„Vielleicht Morgen…“
Florian grinste, nahm seine Brotdose und verschwand aus der Küche.
„Tschüß Jürgen“, sagte er noch, ehe er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog, doch Jürgen saß fast regungslos am Küchentisch und starrte zum Fenster hinaus, als ob er wieder den Specht am Stamm der wuchtigen Tanne beim Pochen beobachten würde, wie zwei Wochen zuvor…
Der Specht in der Tanne… Die Aktentasche mitnehmen und das Haus verlassen… Zum Kombi an der Straße gehen… Den faustgroßen Stein auf dem Autodach entdecken… Wütend auf Florian werden… Näher heran kommen und sehen, dass der Stein als Beschwerung für ein weißes Blatt dient, das ganz sacht im Wind flattert… Den Stein anheben… Das Blatt in die Hand nehmen und den Text auf der Unterseite lesen, der aus ausgeschnittenen, und aufgeklebten Zeitungsüberschriften bestand:
„Anstatt Silke zu fragen, von wem sie geliebt wird, solltest du dich fragen, welchen Sinn diese Botschaft hat. Aber ich kenne dich… Du mich auch?“

Jürgen saß schon den ganzen Vormittag am Schreibtisch in der Polizeidienststelle der Kreisstadt und starrte grübelnd Löcher in die Luft, anstatt sich der Aktenberge zu erbarmen.
„Was ist los mit dir, Jürgen?“
Jürgen zuckte zusammen und sah auf. Sein Kollege Thorsten stand mit kraus gezogener Stirn neben ihm am Schreibtisch.
„Ach, Thorsten…“, seufzte er, „Meine Frau beteuert immer noch, sie wisse nicht, von wem die Nachricht stammt, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr glauben kann…“
Jürgen strich nachdenklich mit seinen Händen über den gestutzten Bart.
„Sie müsste doch wissen, ob, und von wem sie geliebt wird!“
Thorsten lehnte sich an den Schreibtisch an. „Du hast doch Sebastian gebeten, das Papier und den Stein kriminaltechnisch zu untersuchen…“
„Der hat sich noch nicht gemeldet… Und Silkes Überstunden…“
Jürgen blickte zur Schreibtischplatte.
„Der Sinn der Botschaft… ich tappe im Dunkeln, und der Typ kennt mich, aber mir fällt nicht ein, wer das sein könnte…“
„Ach“, wiegelte Thorsten ab, „warte einfach ab, was Sebastian herausfinden kann…
Sieh mal, er kommt gerade mit einer Akte an…“

Jürgen nahm seine Aktentasche, klemmte sich die Akte unter den Arm und verließ das Dienstgebäude. Kurz darauf saß er schon in seinem Kombi. Nachdem er die Akte auf dem Beifahrersitz gelegt hatte, und die Aktentasche im Fußraum davor stand, holte er sein Handy aus der Gürteltasche und wählte Evas Rufnummer.
„Ja?“
„Hallo Eva…“ Jürgen starrte zum Armaturenbrett, ohne es zu betrachten.
„Ach, hallo Jürgen!“ Evas Stimme klang verführerisch, und Jürgen gönnte sich beim Gedanken an ihrem wunderbaren Anblick ein Grinsen.
„Hast du Zeit für mich?“
„Hat Sebastian was wegen der mysteriösen Botschaft herausgefunden?“
„Ja, das hat er, aber deswegen rufe ich nicht an… Sei in einer halben Stunde auf dem Autobahnparkplatz!“
„Oh, der Herr möchte sein Vergnügen…“
„Ja, was dachtest du denn? Ich will dich spüren! Du mich doch auch!“
„Doch, gerne… Ich habe nur ein Problem: ich kann mich nicht davon machen…“
„Jetzt stelle dich nicht so an! Das hast du doch sonst auch regeln können!“ Jürgen war lauter geworden, als üblich, und er biss sich auf die Zähne.
„Heute ist es leider nicht möglich… Schwiegermutter hat Geburtstag, und wenn ich nicht erscheine…“
„Na dann… Wann können wir uns denn wieder treffen? Morgen?“
„Ich weiß es noch nicht; ich rufe dich morgen an, okay?“
„Meinetwegen… Okay, bis dann.“
Eva beendete das Gespräch und Jürgen zog einen Flunsch, weil der erste Teil seines Abends nicht nach Plan verlaufen würde…

„Hallo Schatz!“
Silkes fröhlicher Gesichtsausdruck schwand, als sie Jürgen mit verschränkten Armen am Küchentisch sitzen sah. Die fahle Beleuchtung überm Tisch betonte die Grübelfalten auf seiner Stirn; diese, und die graue Akte auf dem Tisch verhießen nichts Gutes! Silke schluckte und kam langsam näher.
„Deine Kollegen haben was herausgefunden?“
Jürgen starrte Silke ganz ernst an, ehe er betont langsam redete.
„Ja, Sebastian hat viel heraus gefunden…“
Silke setzte sich an den Tisch und sah Jürgen in die Augen. Ein wenig Angst schwang in ihrem Blick, und sie versuchte, die geschlossene Akte auf dem Tisch – so gut es ging – zu ignorieren.
„Der Stein…“ Jürgen zog die Worte - für Silke qualvoll - in die Länge.
„…kann von überall her sein… Die Fingerabdrücke…“
„Sag es schon!“, drängte sie ihn, und setzte sich weiter vor auf die Stuhlkante.
„Die Fingerabdrücke sind polizeilich nicht erfasst.“
„Also ist nichts bewiesen!“ Silke atmete erleichtert auf und lächelte.
„Ich wäre mir an deiner Stelle nicht so sicher!“
Silkes Schultern sackten hinunter, und ihr Lächeln löste sich wie eine Fata Morgana im Nichts auf.
„Sebastian hat herausgefunden, dass die aufgeklebten Buchstabenschnipsel aus der Sindzinger Zeitung stammen …“
Jürgen beobachtete Silkes Gesicht. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an, und ihr Mund stand staunend offen. Doch sie fasste sich wieder.
„Die Zeitung hat eine Auflage von 500.000 Exemplaren!“
„Ja, und einer der Leser ist der, der dich liebt…“
Jürgens Blick war starr auf Silke gerichtet. Sie rang nach Luft und kämpfte mit den aufsteigenden Tränen in ihren Augen.
„Ich weiß nichts davon! Und außer den drei Kollegen kenne ich niemanden aus Sindzingen!“
„Garantiert doch!“
„Nein!“ Silke schrie es fast heraus, und eine erste Träne kroch über ihre Wange.
„Doch! Deine Kolleginnen!“
Silke merkte, wie ihre Kinnlade hinunter fiel, und sie vergaß beinahe das Atmen.
„Die Botschaft wurde von einer Frau verfasst; die DNA- Spuren können nicht lügen! Wer ist es? Frau Meierbernd?“
„Du… du denkst, ich bin…“
„Beweise…“, begann Jürgen, doch Silke unterbrach seinen Satz, indem sie ruckartig ihren Stuhl nach hinten schob.
„Du spinnst!“, entgegnete sie scharf. Sie flüchtete vom Tisch, und Jürgen zog es vor, den Rest seines unvollendeten Satzes `Beweise mir das Gegenteil´ für sich zu behalten, als die Küchentür mit lautem Knallen ins Schloss fiel.
Der zweite Teil des Abends war für Jürgen ebenfalls nicht nach Plan verlaufen.
Er saß stumm am Tisch, sah zum grauen Aktendeckel, unter dem das unzufrieden stellende Ergebnis der kriminaltechnischen Untersuchung lag; die Schreiberin: eine Frau…
Aber ich kenne dich… Du mich auch?
Jürgen grübelte, ob er Frau Meierbernd schon mal begegnet war. Kannte er überhaupt eine von Silkes Arbeitskolleginnen?

Jürgen saß zur Mittagszeit ganz allein in der Kantine der Dienststelle an einem der Tische. Vor ihm stand der Teller mit Bratwurst und Kartoffelsalat, doch er hatte Appetit auf etwas anderes. Leider war der gesamte Vormittag verstrichen, ohne dass sein Handy vibriert hatte…
Er legte das Essbesteck neben dem Teller, griff zu seinem Handy und wählte.
„Ja“
„Hallo Eva…“
„Hallo Jürgen…“, säuselte sie ihm durch die Ohrmuschel zu.
„Treffen wir uns heute?“
„Du kannst es wohl nicht abwarten, wie?“
Jürgen schluckte. Manche Bemerkungen von Eva trafen auf Anhieb ins Schwarze.
„Nein, kann ich nicht…Und unser letztes Treffen liegt über zwei Wochen zurück! Also: was ist? Ich kann auch zu dir nach Sindzingen fahren, wenn…“
Jürgen stockte für einen Moment. Sindzingen… Die Zeitung… Absurder Gedanke!
„…wenn du möchtest.“
„Du meinst wohl: weil du möchtest! Läuft nichts mehr mit deiner Frau?“
„Nein. Seitdem ich sie gefragt hatte, wer sie lieben würde, ist es ganz vorbei…“
„Du Ärmster…“, beteuerte Eva, und Jürgen war sich sicher, von ihrem Mitgefühl gestreichelt zu werden.
„Mir war klar, dass du sie fragen würdest, statt über den Sinn der Botschaft zu grübeln…“
„Die Botschaft hat keinen Sinn! Ich kenne keine von Silkes Kolleginnen!“
Er merkte, dass er seine Stimme senken sollte. „Darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Sag mir lieber, wann wir uns treffen!“, drängte er.
„Gar nicht mehr.“
Mit dem Entgleiten seiner Gesichtszüge wäre beinahe auch das Handy aus seiner Hand gerutscht.
„Wie? Was? Gar nicht mehr? Warum das denn?“ Er starrte fassungslos zum Teller und wartete auf Evas Antwort.
„Warum? Das kann ich dir sagen: nachdem wir uns vor knapp drei Wochen getroffen hatten, hattest du dich entschieden, Silke treu zu bleiben, aber keine zwei Tage später…“
„Mein Gott, es ist eben passiert!“, konterte er nach der kleinen Pause.
„Ja, und es würde immer wieder passieren, weil du dich nur selbst liebst!“
Jürgen schnappte nach Luft, ehe Evas Stimme erneut an sein Ohr drang:
„Jedes weitere Treffen von dir und mir wäre ein Faustschlag gegen Silke. Ich habe mich entschieden, Silke nicht mehr zu schlagen. Und wenn du sie lieben würdest, würdest du genauso denken. Aber ich kenne dich… Du mich auch?“
 

Elfi

Mitglied
Hallo Haremsdame,
vielen, vielen Dank für deine konstruktive Kritik! Ich habe die Passagen schon abgeändert.
MfG Elfi
 



 
Oben Unten