xavia
Mitglied
Epilog
Ein strahlend sonniger Herbsttag. Morgens hat es geregnet und der Gehweg ist nun geschmückt mit buntem Laub. Für viele Bewohner der reinlichen Stadt ein Anlass, nachher zum Rechen zu greifen und das Laub zusammenzukehren. Selbst die 6,5 Meter hohe Backsteinmauer, die die Justizvollzugsanstalt Oldenburg umgibt sieht irgendwie freundlich aus. Helga Hesselbring und ihr Kollege Nils Kammann stehen auf der anderen Straßenseite vor dem Supermarkt und beobachten die beiden türkisfarbenen Eingangstüren, durch die man hinter die Mauer gelangen kann, wenn sie einem geöffnet werden. Nichts regt sich. Neben ihnen steht eine mächtige Eiche. Helga legt ihre Arme um den Baum:
[ 5]»Komm, hilf' mir mal, fass meine Hand und mach' es wie ich.«
[ 5]Nils muss grinsen: Seine Chefin steht kurz vor der Pensionierung. Trotzdem benimmt sie sich oft wie ein Teenager und alles kann ihre Neugier wecken. Also ergreift er ihre linke Hand, umarmt den Baum und versucht, auf der anderen Seite ihre rechte zu erreichen. Es fehlen gut 30 Zentimeter. Der Baum ist wirklich riesig. Nils rechnet, er weiß von der Zeichnung ›Der vitruvianische Mensch‹ von Leonardo da Vinci, dass die Spannweite eines idealen Menschen mit seiner Körpergröße übereinstimmt: rund 1,80 m plus 1,70 m plus 30 cm ergibt 3,80 cm Umfang, also einen Durchmesser von 3,80 geteilt durch 3,14, das ist mehr als ein Meter Zwanzig! Sie blicken an dem mächtigen Baum hoch und sehen in etwa 3 Metern Höhe die ersten Äste, die selbst schon wieder wie Bäume aussehen. Dann wenden sie sich wieder dem Eingangsbereich der JVA zu.
[ 5]»Was genau willst du denn hier erfahren?« will Nils wissen. »Wir haben sie vor fünfzehn Jahren hinter Gitter gebracht, wo sie hingehörte, sie hatte gestanden, sie wird heute entlassen, sie wird rauskommen, fünfzehn Jahre älter als damals, und das Weite suchen. Was bringt uns das, hier herumzustehen?«
[ 5]»Ich weiß es doch selbst nicht«, meint Helga nachdenklich. »Dieser Fall ist mir ein Rätsel geblieben: Eine unbescholtene Frau ersticht in rasender Wut den Freund ihrer minderjährigen Tochter, die daraufhin ihre Mutter bei der Polizei anzeigt. Die eigene Mutter in's Gefängnis bringen: Eine Affekthandlung der Tochter? – Aber dann die Feindseligkeit zwischen Mutter und Tochter, die ich im Gerichtssaal beobachten konnte: Die Täterin wurde von ihrer Tochter angesehen, als wäre sie ein Monster.«
[ 5]Nils ergreift Partei für das Opfer: »Ist sie das denn nicht? Rutger Attinson ist ein ehrbarer, wohlsituierter Steuerzahler gewesen, ein erfolgreicher Geschäftsmann und, wie ich finde, ein sympathischer und gutaussehender Mann, selbst in seinem Alter. Er war gesund und fit und lebensfroh, hatte gerade eine niedliche kleine Freundin gefunden und da kommt diese Frau daher und sticht ihn tot. Sowas gehört sich doch einfach nicht!«
[ 5]»Nein, natürlich nicht«, muss Helga zugeben, »aber das ist es ja gerade, was mir nicht in den Kopf will: Warum hat sie das getan und warum schweigt sie sich über ihre Motive aus? Warum hat sie immer wieder bekräftigt, dass es ihr nicht leid tut? Immerhin hat das eine Strafminderung verhindert: Keine Reue, keine vorzeitige Entlassung. Ein Wunder, dass sie keine höhere Strafe bekommen hat. – Was kann das sein, das niemand wissen soll, nicht einmal ihre Tochter?«
[ 5]»Oder weiß die, warum sie es getan hat und sind deswegen sauer?« Nils freut sich, einen weiteren Aspekt eingebracht zu haben: Er hat eine gute Lehrmeisterin gehabt und weiß, dass man sich nicht mit einer Hypothese zufriedengeben darf, sondern alle Möglichkeiten bedenken muss. So manches Rätsel haben sie auf diese Weise gemeinsam gelöst.
[ 5]»Ja, auch möglich. Aber dann hätte die Tochter doch vielleicht versucht, das zu verarbeiten. Sie hat sie nie besucht. Keine von den dreien hat je einen Brief geschrieben. Ich habe mich erkundigt, wollte mich einschalten, falls sie Kontakt aufnehmen, um herauszubekommen, was die Lösung dieses Rätsels ist. Es gab keinen Kontakt. Die Mutter wirkte bei ihren jährlichen Besuchen distanziert.«
[ 5]»Und nun willst du die Lösung aus ihren ersten Schritten in die Freiheit herauslesen? Willst du sie verfolgen?«
[ 5]»Ja, vielleicht. Möglicherweise bekomme ich heute das eine Puzzle-Teil, das alle anderen an ihren Platz fallen lässt.«
[ 5]»Helga, die unbeirrbare Optimistin«, spottet Nils, obwohl er weiß, dass das die richtige Einstellung ist, wenn man Fälle lösen will. Da Helga weiß, dass er das weiß, verzichtet sie auf eine belehrende Erwiderung und er ist dankbar dafür.
[ 5]In dem Moment kommen vier Personen rechts hinter der hohen Hecke hervor, die den Besucherparkplatz vor ihren Augen versteckt: Verwundert erkennen sie die Mutter und die Tochter der Inhaftierten. Ein junger Mann mit einem Kinderwagen ist dabei, vermutlich der Partner der jüngeren Frau. Die ältere Dame – sie muss jetzt wohl Anfang sechzig sein –, hat ihre langen Haare zu seinem Knoten gesteckt und trägt einen eleganten langen lila Mantel, den sie glattstreicht, weil sie wohl gerade aus einem PKW gestiegen ist. Die junge Mutter hat sich nun bei dem Mann eingehakt und ihre langen sibernen Locken flattern im Wind. Der Mann sieht sportlich und selbstbewusst aus, redet zu der jungen Frau.
[ 5]Als sie beim Eingang ankommen, dirigiert die junge Frau ihre Großmutter neben die rechte Tür des Eingangsbereichs und stellt sich selbst mit Mann und Kinderwagen seitlich der linken auf. Nachdem sie mit der Aufstellung offenbar zufrieden ist warten alle und blicken gespannt auf die Tür. Der Mann guckt auf die Uhr, sagt etwas, dann geht wie auf Kommando die rechte Tür auf und Petra Kirchner, die Mörderin, tritt ins Freie. Sofort erblickt sie ihre Mutter, freut sich offensichtlich und umarmt diese, als ihr die offenen Arme dargeboten werden. Lange stehen die beiden so, wiegen sich hin und her.
[ 5] Als sie sich drehen, sieht Petra auf einmal die anderen beiden, die mit dem Kinderwagen seitlich der anderen Tür stehen. Sie ruft etwas aus, scheint völlig überrascht zu sein, macht sich eilig von ihrer Mutter los, zögert aber, auf die junge Frau zuzugehen. Da wirft sich diese ihr in den Arm, wird von ihr herumgewirbelt und die beiden drücken einander, sehen einander an und drücken sich wieder, können gar kein Ende finden. Schließlich geht es offenbar an das Vorstellen noch unbekannter Personen: Der Mann und das Kind werden in Augenschein genommen und nach einer vorsichtigen Umarmung des Mannes gucken alle vier gleichzeitig in den Kinderwagen. Sina hebt das Baby heraus und es wird herumgereicht. Sie reden offensichtlich alle durcheinander. Dann deutet der Mann in Richtung Besucherparkplatz und sie entschwinden, Petra mit dem Baby auf dem Arm, hinter der hohen Hecke den Blicken der beiden Beobachter.
[ 5]»Es bleibt ein Rätsel«, stellt Nils fest.
[ 5]»Es ist noch rätselhafter geworden, leider. Aber«, so versucht Helga, sich zu trösten, »es sieht trotz allem aus nach einem glücklichen
[ 5]Während seine Chefin noch immer nachdenklich den Eingang der JVA betrachtet ist Nils mit seinem Smartphone beschäftigt. Plötzlich bricht es aus ihm hervor: »Das gibt's doch nicht!!! Sie hat sogar unsere Namen verwendet! – Ich habe gerade deinen und meinen Namen in die Suchmaschine eingegeben und eine Kriminalnovelle in der Leselupe gefunden – unsere Mörderin hat im Knast ihre Geschichte aufgeschrieben: Sie nennt sich dort ›Xavia‹. Vielleicht erfahren wir nun doch noch, wie das alles zusammenhängt.«
Ein strahlend sonniger Herbsttag. Morgens hat es geregnet und der Gehweg ist nun geschmückt mit buntem Laub. Für viele Bewohner der reinlichen Stadt ein Anlass, nachher zum Rechen zu greifen und das Laub zusammenzukehren. Selbst die 6,5 Meter hohe Backsteinmauer, die die Justizvollzugsanstalt Oldenburg umgibt sieht irgendwie freundlich aus. Helga Hesselbring und ihr Kollege Nils Kammann stehen auf der anderen Straßenseite vor dem Supermarkt und beobachten die beiden türkisfarbenen Eingangstüren, durch die man hinter die Mauer gelangen kann, wenn sie einem geöffnet werden. Nichts regt sich. Neben ihnen steht eine mächtige Eiche. Helga legt ihre Arme um den Baum:
[ 5]»Komm, hilf' mir mal, fass meine Hand und mach' es wie ich.«
[ 5]Nils muss grinsen: Seine Chefin steht kurz vor der Pensionierung. Trotzdem benimmt sie sich oft wie ein Teenager und alles kann ihre Neugier wecken. Also ergreift er ihre linke Hand, umarmt den Baum und versucht, auf der anderen Seite ihre rechte zu erreichen. Es fehlen gut 30 Zentimeter. Der Baum ist wirklich riesig. Nils rechnet, er weiß von der Zeichnung ›Der vitruvianische Mensch‹ von Leonardo da Vinci, dass die Spannweite eines idealen Menschen mit seiner Körpergröße übereinstimmt: rund 1,80 m plus 1,70 m plus 30 cm ergibt 3,80 cm Umfang, also einen Durchmesser von 3,80 geteilt durch 3,14, das ist mehr als ein Meter Zwanzig! Sie blicken an dem mächtigen Baum hoch und sehen in etwa 3 Metern Höhe die ersten Äste, die selbst schon wieder wie Bäume aussehen. Dann wenden sie sich wieder dem Eingangsbereich der JVA zu.
[ 5]»Was genau willst du denn hier erfahren?« will Nils wissen. »Wir haben sie vor fünfzehn Jahren hinter Gitter gebracht, wo sie hingehörte, sie hatte gestanden, sie wird heute entlassen, sie wird rauskommen, fünfzehn Jahre älter als damals, und das Weite suchen. Was bringt uns das, hier herumzustehen?«
[ 5]»Ich weiß es doch selbst nicht«, meint Helga nachdenklich. »Dieser Fall ist mir ein Rätsel geblieben: Eine unbescholtene Frau ersticht in rasender Wut den Freund ihrer minderjährigen Tochter, die daraufhin ihre Mutter bei der Polizei anzeigt. Die eigene Mutter in's Gefängnis bringen: Eine Affekthandlung der Tochter? – Aber dann die Feindseligkeit zwischen Mutter und Tochter, die ich im Gerichtssaal beobachten konnte: Die Täterin wurde von ihrer Tochter angesehen, als wäre sie ein Monster.«
[ 5]Nils ergreift Partei für das Opfer: »Ist sie das denn nicht? Rutger Attinson ist ein ehrbarer, wohlsituierter Steuerzahler gewesen, ein erfolgreicher Geschäftsmann und, wie ich finde, ein sympathischer und gutaussehender Mann, selbst in seinem Alter. Er war gesund und fit und lebensfroh, hatte gerade eine niedliche kleine Freundin gefunden und da kommt diese Frau daher und sticht ihn tot. Sowas gehört sich doch einfach nicht!«
[ 5]»Nein, natürlich nicht«, muss Helga zugeben, »aber das ist es ja gerade, was mir nicht in den Kopf will: Warum hat sie das getan und warum schweigt sie sich über ihre Motive aus? Warum hat sie immer wieder bekräftigt, dass es ihr nicht leid tut? Immerhin hat das eine Strafminderung verhindert: Keine Reue, keine vorzeitige Entlassung. Ein Wunder, dass sie keine höhere Strafe bekommen hat. – Was kann das sein, das niemand wissen soll, nicht einmal ihre Tochter?«
[ 5]»Oder weiß die, warum sie es getan hat und sind deswegen sauer?« Nils freut sich, einen weiteren Aspekt eingebracht zu haben: Er hat eine gute Lehrmeisterin gehabt und weiß, dass man sich nicht mit einer Hypothese zufriedengeben darf, sondern alle Möglichkeiten bedenken muss. So manches Rätsel haben sie auf diese Weise gemeinsam gelöst.
[ 5]»Ja, auch möglich. Aber dann hätte die Tochter doch vielleicht versucht, das zu verarbeiten. Sie hat sie nie besucht. Keine von den dreien hat je einen Brief geschrieben. Ich habe mich erkundigt, wollte mich einschalten, falls sie Kontakt aufnehmen, um herauszubekommen, was die Lösung dieses Rätsels ist. Es gab keinen Kontakt. Die Mutter wirkte bei ihren jährlichen Besuchen distanziert.«
[ 5]»Und nun willst du die Lösung aus ihren ersten Schritten in die Freiheit herauslesen? Willst du sie verfolgen?«
[ 5]»Ja, vielleicht. Möglicherweise bekomme ich heute das eine Puzzle-Teil, das alle anderen an ihren Platz fallen lässt.«
[ 5]»Helga, die unbeirrbare Optimistin«, spottet Nils, obwohl er weiß, dass das die richtige Einstellung ist, wenn man Fälle lösen will. Da Helga weiß, dass er das weiß, verzichtet sie auf eine belehrende Erwiderung und er ist dankbar dafür.
[ 5]In dem Moment kommen vier Personen rechts hinter der hohen Hecke hervor, die den Besucherparkplatz vor ihren Augen versteckt: Verwundert erkennen sie die Mutter und die Tochter der Inhaftierten. Ein junger Mann mit einem Kinderwagen ist dabei, vermutlich der Partner der jüngeren Frau. Die ältere Dame – sie muss jetzt wohl Anfang sechzig sein –, hat ihre langen Haare zu seinem Knoten gesteckt und trägt einen eleganten langen lila Mantel, den sie glattstreicht, weil sie wohl gerade aus einem PKW gestiegen ist. Die junge Mutter hat sich nun bei dem Mann eingehakt und ihre langen sibernen Locken flattern im Wind. Der Mann sieht sportlich und selbstbewusst aus, redet zu der jungen Frau.
[ 5]Als sie beim Eingang ankommen, dirigiert die junge Frau ihre Großmutter neben die rechte Tür des Eingangsbereichs und stellt sich selbst mit Mann und Kinderwagen seitlich der linken auf. Nachdem sie mit der Aufstellung offenbar zufrieden ist warten alle und blicken gespannt auf die Tür. Der Mann guckt auf die Uhr, sagt etwas, dann geht wie auf Kommando die rechte Tür auf und Petra Kirchner, die Mörderin, tritt ins Freie. Sofort erblickt sie ihre Mutter, freut sich offensichtlich und umarmt diese, als ihr die offenen Arme dargeboten werden. Lange stehen die beiden so, wiegen sich hin und her.
[ 5] Als sie sich drehen, sieht Petra auf einmal die anderen beiden, die mit dem Kinderwagen seitlich der anderen Tür stehen. Sie ruft etwas aus, scheint völlig überrascht zu sein, macht sich eilig von ihrer Mutter los, zögert aber, auf die junge Frau zuzugehen. Da wirft sich diese ihr in den Arm, wird von ihr herumgewirbelt und die beiden drücken einander, sehen einander an und drücken sich wieder, können gar kein Ende finden. Schließlich geht es offenbar an das Vorstellen noch unbekannter Personen: Der Mann und das Kind werden in Augenschein genommen und nach einer vorsichtigen Umarmung des Mannes gucken alle vier gleichzeitig in den Kinderwagen. Sina hebt das Baby heraus und es wird herumgereicht. Sie reden offensichtlich alle durcheinander. Dann deutet der Mann in Richtung Besucherparkplatz und sie entschwinden, Petra mit dem Baby auf dem Arm, hinter der hohen Hecke den Blicken der beiden Beobachter.
[ 5]»Es bleibt ein Rätsel«, stellt Nils fest.
[ 5]»Es ist noch rätselhafter geworden, leider. Aber«, so versucht Helga, sich zu trösten, »es sieht trotz allem aus nach einem glücklichen
ENDE.«
[ 5]Während seine Chefin noch immer nachdenklich den Eingang der JVA betrachtet ist Nils mit seinem Smartphone beschäftigt. Plötzlich bricht es aus ihm hervor: »Das gibt's doch nicht!!! Sie hat sogar unsere Namen verwendet! – Ich habe gerade deinen und meinen Namen in die Suchmaschine eingegeben und eine Kriminalnovelle in der Leselupe gefunden – unsere Mörderin hat im Knast ihre Geschichte aufgeschrieben: Sie nennt sich dort ›Xavia‹. Vielleicht erfahren wir nun doch noch, wie das alles zusammenhängt.«