Erben und vererben

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Erben und vererben

Anna war erst 52, aber die schwere Krankheit ließ ihr nicht mehr viel Zeit. Vielleicht ein halbes Jahr oder ein Jahr, wenn sie Glück hatte. Ihre Eltern waren schon lange tot. Nun würde Anna ihnen bald folgen. Wer würde um sie trauern? Sie war als Single durchs Leben gegangen, hatte nur für ihren Beruf gelebt. Den Beruf mußte sie vor einem Jahr wegen ihrer Erkrankung aufgeben. Sie war davon ausgegangen, daß ihre Kolleginnen sie nicht völlig vergessen würden. Aber niemand besuchte sie im Krankenhaus, niemand rief sie an und erkundigte sich nach ihrem Befinden. Verwandte hatte sie – Cousins und Cousinen. Aber die kümmerten sich schon seit vielen Jahren nur noch um sich selbst und antworteten auf ihre Weihnachts- und Geburtstagsgrüße nicht. Bis sie schließlich das Karten schreiben einstellte. Wozu ihnen hinterherlaufen, wo sie doch ganz offensichtlich keinen Kontakt zu ihrer Cousine in Hamburg pflegen wollten.

Sollte sie ein Testament verfassen? Sie hatte einiges zu vererben. Von ihren Eltern (ihr Vater war Architekt gewesen) hatte sie einige Immobilien geerbt. Mindestens 2 Millionen Euro würde der Verkauf ergeben. Das war keine Kleinigkeit. Wenn sie kein Testament aufsetzte, würde die Erbschaft an ihre Cousins und Cousinen fallen – an die, die offenbar keinen Kontakt mit ihr haben wollten.

Anne blätterte in einer Broschüre der Verbraucherzentrale: "Erben und Vererben". Ihre Cousins und Cousinen hatten keinen Pflichtteilsanspruch. Anne konnte über ihr Vermögen frei entscheiden. Sie konnte es dem Tierschutzverein, Greenpeace oder einer Stiftung zur Förderung des Norddeutschen Brauchtums vermachen. Es war alles besser, als daß Verwandte das Geld bekamen, die nichts von der lebenden Anne wissen wollten.

Wer hatte wirklich etwas von ihr wissen wollen? Sie war bis zu ihrer Krankheit eine schöne Frau gewesen, hatte ein symmetrisches feingeschnittenes Gesicht, eine gut proportionierte Figur. Im Laufe der Jahre gab es hin und wieder Männer in ihrem Leben, mit einigen schlief sie, mit einigen verband sie nur ein unverbindlicher Flirt. Aber – ihr Herz, ihr Herz hatte nur Nico gehört..

Es war eine sentimental-schöne Liebesgeschichte gewesen. Nico sah sehr gut aus, groß, schlank, er trainierte seinen Körper im Fitneßstudio und bräunte ihn auf der Sonnenbank. Daß er zehn Jahre jünger als sie war, machte beiden nichts aus. Nico hatte sich während eines Kongresses in sie verknallt, sie schliefen schon nach 3 Stunden Bekanntschaft miteinander. Er fand in ihr die erfahrene Frau, der er sich ganz hingeben und überlassen konnte, die Frau, die er immer gesucht hatte. Sie fand in ihm einen zärtlichen, stürmischen und erfinderischen Liebhaber, mit dem sie sich auch nach dem Liebesakt noch hervorragend über alle nur denkbaren Dinge unterhalten konnte.

Nach vier Jahren war Nico dann der Karriere wegen in die Hauptstadt umgezogen und Anne blieb in Hamburg allein zurück. Die ersten Monate hatte Nico sie noch über das Wochenende besucht. Dann waren seine Besuche seltener geworden, auch seine Anrufe wurden seltener, schließlich blieben sie ganz aus. Anne litt sehr darunter. Sollte sie auch nach Berlin ziehen? Aber sie wollte sich nicht an ihn klammern, dazu war sie zu stolz. Sie war auch zu stolz, um ihm Briefe und Mails zu schicken. Aber er blieb in ihrem Herzen. Die Liebe zu Nico konnte sie nie vergessen. Er wußte gar nicht, daß sie so krank war, sie redete sich ein, er hätte sie sonst mit Sicherheit im Krankenhaus besucht, wäre vielleicht wieder zurück nach Hamburg gezogen, um sie während ihrer letzten Lebensmonate zu umsorgen.

Am nächsten Tag fuhr Anne zum Notar Enno Petersen, einem Schulfreund von Nico, und ließ von ihm ihr Testament aufsetzen. Als Alleinerben ihres gesamten Vermögens setzte sie Nico ein.

Drei Wochen später flog Anne nach Berlin. Vom Flughafen Tempelhof nahm sie ein Taxi nach Charlottenburg, wo Nico wohnte. Sie wollte ihn noch einmal sehen – Nico, die einzige wirkliche Liebe ihres Lebens. Er wohnte in einem gepflegten Mietshaus mit Jugendstilornamenten an der Fassade. Anne strich liebevoll mit der Hand über Nicos Namensschild an der Haustür. Aber sie traute sich nicht, auf die Klingel zu drücken. Was sollte sie sagen, wie ihr plötzliches Erscheinen begründen? Anne beschloß, erst einmal in einem gegenüberliegenden Café einen Cappucino zu trinken. Dort setzte sie sich in die Nähe des Fensters und starrte zu dem gegenüberliegenden Haus hinüber. Ein, zwei Stunden vergingen. Anne fühlte sich müde und erschöpft. Sollte sie wirklich drüben klingeln – und was sollte sie sagen, wenn Nico zu Hause war und die Tür öffnete? Anne fühlte, daß es ein Fehler war nach Berlin zu fahren. Sie wollte schon zahlen und sich ein Taxi zurück zum Flughafen rufen lassen, als sie plötzlich Nico aus einem Auto steigen und auf das Café zukommen sah. Er war nicht allein. Neben ihm ging eine hübsche junge Frau im Designerkleid. Die beiden betraten das Café und setzten sich nicht weit entfernt von Anne an einen Tisch. Anne wurde rot und blaß, ihr Herz klopfte bis zum Hals. Nico – ihr geliebter Nico ganz in ihrer Nähe – und doch konnte sie nicht aufstehen und ihn einfach in die Arme nehmen, er war ja nicht allein. Wer mochte die junge Frau an seiner Seite sein? Seine Freundin, seine Lebensgefährtin?

Nico und die junge Frau plauderten angeregt miteinander. Anne konnte einzelne Gesprächsfetzen vernehmen. Anne drehte sich halb zu dem Pärchen herum und schaute Nico an. In dem Augenblick sah er auch zu Anne hinüber – Anne wandte sich schnell ab. "Was ist denn", fragte die junge Frau,"kennst du die Alte da drüben?" "Nein", hörte Anne Nicos Stimme, "im ersten Moment dachte ich, das ist eine, die ich aus Hamburg kenne, aber was sollte die hier machen." "Aus Hamburg?" fragte Nicos Begleiterin. "Ja, ich war da mal mit einer befreundet", entgegnete Nico, "es war von meiner Seite her aber nur wegen dem Job, du verstehst schon. Liebe war es nie!" Anne fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Liebe war es nie. Wie betäubt legte sie einen Geldschein auf den Tisch und flüchtete aus dem Café.

Drei Wochen später rief der Notar Enno Petersen seinen Freund Nico in Berlin an. "Weißt du schon, daß Anne ganz plötzlich gestorben ist? Aber sie soll sowieso unheilbar krank gewesen sein.. Hast du sie noch mal gesehen, seit du nach Berlin gezogen bist? Nein? Ja das ist ganz seltsam. Sie hatte nämlich ursprünglich ein Testament zu deinen Gunsten gemacht, wo sie dich als Alleinerben eingesetzt hat. Und dann kam sie plötzlich zu mir, weinte und ich mußte für sie ein völlig neues Testament aufsetzen. Nun erben alles ihre Cousins und Cousinen, die sich zu Lebzeiten nie um sie gekümmert haben.. Kannst du mir erklären, wieso Anne das gemacht hat?" Es war lange still in der Leitung. Dann sagte Nico leise: "Von ihrer Seite war es Liebe."
 



 
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