Erdbeerzeit

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Frieda

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Erdbeerzeit

Erdbeerzeit, jedes Jahr warte ich ungeduldig auf die ersten selbstgepflückten Erdbeeren. Aber jedes Jahr beschleicht mich auch dieses unangenehme, dunkle Gefühl. Ich spüre noch heute die Angst, die Reue und die brennende Scham von damals. Dann denke ich an das Jahr zurück, in dem meine Lieblingstante Sarah heiratete. Es war im Sommer, zur Erdbeerzeit, ich war gerade acht Jahre alt. Mit meiner um ein Jahr jüngeren Schwester Gina verstand ich mich schon immer besonders gut. Sie war genau so unternehmungslustig wie ich, was haben wir nicht alles für Streiche ausgeheckt zusammen! Meine andere Schwester Helga war damals sechs. Aber mit der war noch nie etwas anzufangen. Wenn Gina und ich etwas vorhatten, mußten wir immer aufpassen, daß Helga nichts merkte, sonst verpetzte sie es sofort den Eltern. Außerdem heulte sie dauernd. Man durfte sie nicht anrühren, ja nicht einmal schief ansehen durfte man sie. Dann fing sie sofort an zu schreien, und ich konnte mich auf eine Standpauke von meiner Mutter gefaßt machen. Zum Schluß war da noch unser Nesthäkchen, mein Bruder Wölfi. Er war erst fünf, noch ein richtiges Baby. Gina und ich waren bei uns "die Großen" und Helga und Wölfi "die Kleinen". Ja, die Kleinen, wir fühlten uns ihnen mächtig überlegen, waren wir ihnen doch um so vieles voraus. Natürlich kriegten immer die Großen die Schuld, wenn irgendetwas nicht stimmte. Das wiederum fand ich ungerecht, denn manchmal waren wir es wirklich nicht gewesen.

Die Sache allerdings, von der ich jetzt berichten will, hatten wir "Großen" verbrochen und niemand anders. Gina und ich hatten gedacht, es sei alles ganz harmlos. Daß es so schlimm werden würde, wäre uns nicht im Traum eingefallen. Tante Sarah und Onkel Robert wollten endlich heiraten. Sie waren seit Jahren verlobt, und jeder im Dorf zerriß sich schon das Maul, was bei ihnen nicht stimmen würde, sie hätten ja längst verheiratet sein müssen. Schließlich hatten sie sich doch entschlossen und ein großes Hochzeitsfest geplant mit vielen, vielen Gästen. Ein riesiger Saal war angemietet worden, meine Mutter und die anderen Frauen aus der Nachbarschaft waren tagelang mit Backen, Kochen und Schmücken beschäftigt. Das war auch für uns eine aufregende Zeit, wir durften überall mithelfen, aber besonders freuten wir uns natürlich auf die Hochzeit selbst. Als schließlich die ersten auswärtigen Gäste anreisten und sich im Gasthof oder bei Verwandten einquartierten, wußten wir, daß das große Ereignis unmittelbar bevorstand. Die Frauen hatten Unmengen von Kuchen gebacken, unter anderem auch 100 Erdbeertörtchen, denn es war - wie gesagt - gerade Erdbeerzeit. Das ganze Zeug mußte natürlich auch irgendwo untergebracht werden, da reichte eine einzige Speisekammer nicht aus. Unsere war auch schon voll, nur im Keller war noch genug Platz. Einige von den Sahnetorten und die besagten100 Erdbeertörtchen wanderten also zu uns in den Keller, wo es außerdem auch im Sommer schön kühl war.

Am Tag vor der Hochzeit waren alle damit beschäftigt, letzte Vorbereitungen zu treffen. Mutti war schon früh zu Tante Sarah gefahren um ihr zu helfen. Vati hatte für das Brautpaar eine Kutsche besorgt und war mit Opa dabei, sie auf Vordermann zu bringen. Für uns Kinder war das ein schlimmer Tag. Wir hatten nichts zu tun außer zu warten, keiner hatte Zeit, sich um uns zu kümmern. Quälend langsam schleppte sich die Zeit dahin, der Tag wollte und wollte nicht zu Ende gehen. Ach wenn es doch erst morgen wäre! Am schlimmsten war es, daß ich dauernd an die Erdbeertörtchen denken mußte. Ich liebte Erdbeeren über alles, das ist übrigens noch heute so. Mit Gina beratschlagte ich, ob wir es wagen könnten, jeder ein Törtchen zu nehmen. "Nein, lieber nicht, was ist, wenn sie die gezählt haben", gab Gina zu bedenken. Wir vergewisserten uns, daß Vati und Opa draußen waren, die Kleinen spielten in der Küche. So konnten wir uns ungesehen in den Keller schleichen, um uns die Törtchen wenigstens anzusehen. Schon beim Öffnen der Tür empfing uns dieser köstliche Erdbeerduft. Hmmm, mir lief das Wasser im Munde zusammen. 100 Törtchen sind ziemlich viel, dachte ich. Wenn zwei fehlen merkt es doch keiner. Aber Gina hatte Bedenken, sie wollte nicht mitmachen, obwohl auch sie sich kaum noch beherrschen konnte. Da hatte ich einen genialen Einfall: "Wir nehmen einfach von jedem Törtchen eine kleine Erdbeere, irgendwo vom Rand, damit es nicht auffällt." Dabei hatte ich das erste Törtchen schon in der Hand. Tatsächlich, man sah es kaum, die Erdbeere konnte auch zufällig runtergefallen sein. "Guuuut, oh Gina, probier auch mal", schon hatte ich das nächste am Wickel. Jetzt ließ sich Gina auch nicht mehr lange bitten. Wir waren wirklich vorsichtig und nahmen nur kleine Erdbeeren und nur von Stellen, wo wir meinten, daß es nicht auffiele.

Das war ein Schmaus, ich war sehr stolz auf meine gute Idee. Bald hatten wir alle Törtchen durch. Dabei hatten wir es äußerst geschickt angefangen. Jemand, der es nicht wußte, hätte bestimmt nichts gemerkt. Aber wir waren immer noch nicht satt. Im Gegenteil, wir hatten erst recht Appetit bekommen. "Sollen wir vielleicht noch eine ... , ach ja, wenn eine nicht auffällt, dann wird die nächste auch nicht so schlimm sein. Außerdem machen sie sowieso Sahne drauf", beruhigten wir unser schlechtes Gewissen. Wieder wählten wir sehr sorgfältig die Stellen aus, wo wir ohne Gefahr ein Erdbeerchen wegnehmen konnten. Auch nach dem zweiten Durchgang sahen die Törtchen noch sehr appetitlich aus, da konnte sich keiner beschweren. Beim dritten Mal konnten wir nicht mehr von allen Törtchen eine runternehmen. Ein wenig Bedenken kamen mir schon, aber ich schob sie beiseite. Wir legten einfach die Törtchen, die noch am besten aussahen, nach vorne. "Jetzt ist es langsam genug", meinte Gina. "Mehr dürfen wir nicht, sonst ist es zu auffällig. Außerdem bin ich sooo satt, mir ist schon ganz schlecht." Ich war einverstanden, denn auch ich war inzwischen bis zum Platzen voll. Vorsichtig, damit uns keiner sah, verließen wir den Ort unserer Missetat.

Als wir später zum Abendbrot gerufen wurden, hatten wir gar keinen Hunger mehr. Schon der Gedanke an's Essen ließ bei mir Übelkeit aufkommen. Trotzdem durfte keiner merken, daß wir den Bauch voller Erdbeeren hatten. Gina und ich waren allerdings ziemlich geübt im Flunkern, wir hatten schließlich schon mehr als einen Streich erfolgreich vor den Erwachsenen vertuscht. Von der Seite war also nichts zu befürchten. Zunächst schien auch alles wie gewohnt zu sein. Die Kleinen plapperten aufgeregt von der bevorstehenden Hochzeit, aber meine Mutter war merkwürdig still, oder täuschte ich mich? Hoffentlich werde ich nicht rot wenn sie mich ansieht, dachte ich. Mutti hatte, wie alle Mütter, irgendeinen sechsten Sinn, sie merkte einfach, wenn jemand etwas angestellt hatte, und es gelang uns nicht immer, sie hinter's Licht zu führen. Ach, Unsinn, schalt ich mich dann wieder in Gedanken. Woher soll sie es denn wissen, wir sagen einfach gar nichts und damit basta. Als Vati in die Stube kam, war mir sofort klar, daß etwas im Busche war. Er war so rot im Gesicht, daß ich befürchtete, er würde jeden Moment platzen. Wenn er so aussah, dann brach mit Sicherheit im nächsten Moment ein heftiges Donnerwetter über einen von uns herein. Vati konnte furchtbar wütend werden. "Reg dich nicht so auf, Junge", sagte mein Opa, so wie er immer zu sagen pflegte. "Eines Tages trifft dich der Schlag." Wenn ich daran dachte, wurde mir schlecht vor Angst. Nicht auszudenken, wenn ich mit meinen Streichen Schuld am Tode meines Vaters wäre! Die Reue kam allerdings, wie jedes Mal, erst hinterher. "Bitte, lieber Gott, mach daß es dieses eine Mal noch gutgeht." Wie oft hatte ich dieses Stoßgebet schon zum Himmel gesandt, und jedesmal war ich mehr oder weniger unbeschadet davongekommen. Also, warum nicht auch jetzt?

"Wer von euch hat die Erdbeertörtchen derart zugerichtet?" Ganz ruhig hatte Vati das gefragt, obwohl man merkte, wie es in ihm kochte. Die Kleinen machten große Augen: "Ich nicht", riefen beide wie aus einem Mund. Ich tauschte einen raschen Blick mit Gina. "Wir auch nicht", sagten wir mit fester Stimme. Was hieß hier überhaupt zugerichtet? Wir hatten uns so bemüht, daß keiner etwas merken sollte. Sie sahen doch noch ganz gut aus, das durfte ich natürlich nicht laut sagen. Vati sah uns der Reihe nach an. "Lina, warst du das? Sei ehrlich. Gina, was ist mit dir? Helga? Wölfi? Ich will jetzt wissen, wer sich an den Törtchen zu schaffen gemacht hat!" Ich fühlte mich nicht besonders wohl in meiner Haut. Gina schubste mich unter dem Tisch mit dem Fuß an. Keine Sorge, ich verrate nichts, sollte das heißen. Da wurde ich auch wieder zuversichtlicher. Wenn wir beide nichts sagten, wie sollten sie es jemals herausfinden? Vatis Stimme war noch immer ruhig, bedrohlich ruhig. "Lina, sieh mich an! Wer war das?" Hätten wir bloß die Finger von den Erdbeertörtchen gelassen, jetzt hatten wir den Salat. "Ich nicht, Vati, bestimmt nicht." Dabei versuchte ich, so gut es ging, seinem Blick standzuhalten. Der Reihe nach fragte er die Geschwister, doch niemand bekannte sich schuldig.

"Jetzt reicht es mir aber, zum Donnerwetter nochmal!" Vati sprang auf und schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, daß die Tassen umkippten und der Tee auf's Tischtuch schwappte, wo er sich in braunen Rinnsalen immer weiter Richtung Tischkante bewegte. Unter anderen Umständen hätte ich das lustig gefunden, aber in dem Moment war mir gar nicht zum Lachen. Die Kleinen fingen sofort an laut zu weinen. Mutti war ganz blaß geworden. Sie machte keine Anstalten, die umgekippten Tassen aufzurichten und das befleckte Tischtuch zu retten, ein schlechtes Zeichen. "Manfred, bitte", sagte sie leise. Täuschte ich mich oder glitzerten wirklich Tränen in ihren Augen? Schnell nahm sie die Kleinen und ging mit ihnen hinaus. Auch Gina und ich waren aufgesprungen, wir klammerten uns eng aneinander, als könnten wir uns gegenseitig schützen. Dabei hatten wir alle beide eine Heidenangst. "Ihr wart es wieder, dachte ich es mir doch." Vati kam auf uns zu, und unsere Angst wurde größer und größer. So wütend hatten wir ihn noch nie erlebt, und wir hatten weiß Gott schon genug angestellt. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, warum er wegen der paar Erdbeertörtchen so furchtbar wütend war. Aber jetzt hieß es erst einmal, mit heiler Haut davonzukommen. "Wir wollen es bestimmt nicht wieder tun!", weinten wir voller Reue. "Und dann auch noch so frech lügen, was habt ihr euch dabei gedacht?" Vatis Wut kannte keine Grenzen. Zwei mächtige Zornesadern schwollen an seinen Schläfen, ich sah alles wie in Zeitlupe vor mir. Bestimmt würde er uns schlagen, zum ersten Mal in unserem Leben. Wir konnten nicht einmal weglaufen, wir waren wie gelähmt, starrten ihn nur an und stammelten immer wieder: "Nicht wieder tun, nicht wieder tun".

"Manfred, komm doch bitte mal einen Augenblick mit hinaus." Unsere Mutter war unbemerkt wieder ins Zimmer getreten und berührte Vati sanft an der Schulter. Ich war überzeugt, daß er sie im nächsten Moment wild von sich schleudern würde in seiner Wut. Aber nein, er schien auf einmal in sich zusammenzusacken. Ohne uns noch eines Blickes zu würdigen folgte er Mutti nach draußen. Ich kann es kaum beschreiben, wie elend wir uns fühlten. "Die Hochzeit können wir vergessen", heulte Gina. "Das gibt mindestens vier Wochen Hausarrest." Ach, die Hochzeit, wie sehr hatten wir uns darauf gefreut. Die Wartezeit, bis sie uns hinausriefen schien endlos lang. Vati saß am Küchentisch, und Mutti stand hinter ihm, die Hände auf seine Schultern gelegt. "So, ihr beiden, was machen wir jetzt mit euch?" Vati sah immer noch wütend aber gleichzeitig auch erschöpft aus. "Auf keinen Fall können wir Tante Sarah die Hochzeit verderben. Ihr werdet also mitgehen und euch anständig betragen, daß bloß niemand etwas merkt. Eure Strafe bekommt ihr, wenn die Hochzeit vorbei ist." Etwas schlimmeres hätte er uns wirklich nicht sagen können. Wir hatten uns schon fast damit abgefunden, nicht an der Hochzeit teilnehmen zu können. Das hätte uns hart getroffen, aber irgendwie hätten wir es verstanden. Die Strafe, die uns jetzt drohte, mußte wohl noch viel schlimmer sein, sonst würde er nicht bis nach der Hochzeit damit warten, so meinten wir. Klar, daß wir an nichts anderes mehr denken konnten. Klar, daß wir am Hochzeitstag nicht allzu viel Spaß hatten. Was mochte das für eine fürchterliche Strafe sein, die nach den Feierlichkeiten über uns hereinbrechen sollte?

In der Nacht nach der Hochzeit schliefen wir beide schlecht. Als es Zeit zum Aufstehen war, kam niemand, um uns zu wecken. Auch zum Frühstück wurden wir nicht gerufen. So blieben wir ängstlich in unseren Betten und lauschten den vertrauten Tagesgeräuschen, die uns jetzt sehr fremd vorkamen, weil wir nicht an ihnen teilhaben durften. "Sie werden uns hier oben einfach vergessen", sagte ich düster. "Das dürfen sie nicht, das können sie nicht tun", jammerte Gina. "Doch, du wirst sehen, sie lassen uns elendig verhungern." Ich wußte selber nicht, warum ich so schwarz sah. Unsere Eltern waren herzensgute Menschen und ließen uns trotz unserer vielen Streiche nie an ihrer Liebe zweifeln. Aber die unbändige, für mich unerklärliche Wut unseres Vaters hatte mich total erschüttert. Gina war sonst eigentlich keine Heulsuse, jetzt aber fing sie an zu weinen. "Mutti", schluchzte sie leise. "Das hilft uns jetzt auch nicht weiter", meinte ich, dabei war ich längst nicht so selbstsicher wie ich vorgab. "Wir warten erstmal ab, notfalls können wir immer noch abhauen." Uns war äußerst unbehaglich zumute, wir trauten uns nicht einmal, die Nase hinauszustecken. Nur kein Aufsehen erregen, vielleicht wurde doch noch alles gut. Erst gegen Mittag kam Vati nach oben. Jetzt wurde es ernst. Ich hatte keine Ahnung, was uns erwartete, und mein Herz begann heftig zu schlagen. Vati blieb an der Tür stehen während er uns die Strafe verkündete: "Die Törtchen kann man jetzt keinem mehr anbieten. Zum Wegwerfen sind sie aber auch zu schade, also werdet ihr sie essen. Ihr werdet zu allen Mahlzeiten Erdbeertörtchen bekommen, so lange bis keines mehr da ist. Und jetzt zieht euch an und kommt runter." Was? Kein Hausarrest? Kein Badeverbot? Kein Taschengeldentzug? Ich traute meinen Ohren nicht. Das war doch keine Strafe! Wir durften wirklich alle Erdbeertörtchen essen? So viel wir wollten? Ich tauschte einen verwunderten Blick mit meiner Schwester. Ginas Augen waren noch tränenverschleiert, dennoch glaubte ich, schon wieder eine Spur von Mutwillen in ihnen zu erkennen. Kaum war Vati aus dem Zimmer, da brachen wir erst in ersticktes Kichern, dann aber in erleichtertes Gelächter aus. Und dennoch, so richtig wollte mir die Last nicht von der Seele fallen. Angesichts dieser Strafe, die keine war, spürte ich Reue und Scham. "Wir müssen die Eltern um Verzeihung bitten", meinte Gina als könne sie meine Gedanken lesen. "Ach was", da war schon wieder der alte Übermut. "Sie haben uns längst verziehen, sonst hätten sie uns anständig bestraft."

Zum Mittagessen gab es Reis mit Backpflaumen, eines meiner Lieblingsgerichte. Aber ich war nicht traurig darum, Gina und ich hatten einen großen Teller Erdbeertörtchen vor uns stehen. Ich mußte zugeben, im Keller hatten sie besser ausgesehen. Hier im hellen Tageslicht fiel es doch auf, daß jedes ein bißchen angeknabbert war. Das konnte uns natürlich nicht den Appetit verderben. Oh, das erste schmeckte köstlich, schnell folgten ein zweites und ein drittes. Das vierte paßte eigentlich schon gar nicht mehr hinein, aber ich wollte es richtig ausnutzen, solange der Segen anhielt, und bevor Vati es sich anders überlegte. Die Kleinen waren die ganze Zeit am Jammern, sie wollten auch Erdbeertörtchen. Zugegeben, ich fand es auch ungerecht, daß wir für unsere Missetat auch noch belohnt wurden. Mutti brauchte einige Überredungskunst, um Helga und Wölfi zum Essen zu bewegen. Das gleiche Spiel beim Abendessen: Diesmal schaffte jede von uns nur zwei Törtchen, aber der Rest wurde ja für uns aufgehoben bis morgen. Es war kaum zu glauben, wir fühlten uns wie im Schlaraffenland, während die Kleinen mißmutig an ihren Leberwurstbroten kauten. Gar zu gern hätte ich sie ein bißchen damit geärgert, daß wir Törtchen essen durften und sie nicht, ließ es dann aber doch lieber sein. Abends im Bett tuschelten und lachten Gina und ich noch lange miteinander. Was war bloß in die Eltern gefahren? Schließlich beruhigten wir uns. Immerhin hatten wir vorher eine Menge Angst ausgestanden, es sah so aus, als hätten wir uns damit sozusagen ein Anrecht auf die Törtchen erworben. Wir beschlossen, uns unseren Triumph nicht anmerken zu lassen, und vor allen Dingen vorerst nichts mehr anzustellen, jedenfalls solange, bis Gras über die Sache gewachsen war.

Der nächste Tag begann für uns wieder mit wunderbaren Erdbeertörtchen. Sie waren allerdings inzwischen reichlich ramponiert, und darum weit weniger verlockend als am Vortag. Trotzdem ließen wir es uns schmecken. Mutti hatte für jeden ein Ei gekocht, außer für uns natürlich. Ein schönes weichgekochtes Ei hätte ich auch liebend gern gehabt. Ein Blick zu Mutti hinüber genügte, um mir klarzumachen, daß es sinnlos war, danach zu fragen. Zum ersten Mal beschlichen mich Zweifel, ob der Aufenthalt im Schlaraffenland auf die Dauer so angenehm sein würde. Aber es war Sommer, es war warm und wir hatten Ferien. Den ganzen Vormittag tobten und plantschten wir draußen im Garten und vergaßen darüber alle Sorgen. Als wir müde und hungrig zum Mittagessen hineingingen, hörte ich Wölfi fragen: "Mutti, was gibt es denn heute?" "Gulasch mit Pilzen" war die Antwort. Was für ein Glück, ich hatte einen Bärenhunger, und nun gab es auch noch mein absolutes Leibgericht. Hmmm, wie gut das schon roch! Ich freute mich riesig auf's Essen, an die Törtchen dachte ich gar nicht mehr. Alle versammelten sich um den Tisch, und Mutti gab jedem eine große Portion Gulasch auf den Teller. Nur Gina und ich machten lange Gesichter, wir bekamen wieder unsere Erdbeertörtchen. "Och, und die haben wieder Törtchen", maulte Helga, und dabei hatte sie dieses köstliche Gulasch vor sich stehen. Ja, jetzt begann die Strafe erst richtig. Jetzt erkannte ich, was unsere Eltern erreichen wollten. Was hätte ich in dem Moment für einen Teller Gulasch mit Pilzen gegeben! Statt dessen kaute ich lustlos an einem eingetrockneten Erdbeertörtchen, um das mich meine kleinen Geschwister so glühend beneideten. Ach, ihr Kleinen, bis vor kurzem war ich noch genau so ahnungslos wie ihr. "Langt nur tüchtig zu", meinte Vati. "Je weniger ihr eßt, desto länger werden die Törtchen reichen." Auch am Abend und am folgenden Morgen gab es noch Törtchen. Den Rest mußten sie dann doch wegwerfen, denn die Erdbeeren waren inzwischen verdorben. Aber wir hatten unsere Lektion gründlich gelernt.
 
P

Parsifal

Gast
Hallo Frieda,

endlich mal wieder eine Geschichte, die ich bis zu Ende gelesen habe, warmherzig und lebendig erzählt. - Nur im 2. Absatz würde ich "angemietet" durch "gemietet" ersetzen; angemietet klingt so nach Behörde.

Herzlichst
Parsifal
 

Frieda

Mitglied
Hallo Parsifal,

danke für Deine Rückmeldung. Du hast recht, so ganz glücklich bin ich mit dem Wort "angemietet" auch nicht. Aber "gemietet" klingt so nach längerer Mietdauer, nicht nur für einen Tag. Na, vielleicht fällt mir noch etwas besseres ein.

Liebe Grüße
von Frieda
 



 
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