Erinnerung an Gestern

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Elfi

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Erinnerung an Gestern

Prasselnd strömt das Duschwasser aus der Handbrause und trifft mit seinem Massage-Strahl meine Schädeldecke; eine angenehme Wohltat bei handwarmen Wasser an diesem lauen Sommerabend im Juli. Ich schließe meine Augen, während das Wasser an meinem Körper herunter rinnt. Wohltuende Ruhe und Entspannung in der ein mal einen Meter großen Duschtasse mit großen, weißen Kacheln und der Glastür, während der Duft des Duschgels meine Nase umweht.
Tannenduft. Tannenduft im Morgentau. Waldduft und Erinnerung an andere Düfte: Blüten, Gräser und Wildkräuter...
Ich sehe mich mit dem Wagen rechter Hand unter schattigen Bäumen einparken. Ich steige aus. Meine schwarzen Schuhe mit dem durchbrochenem Lochmuster auf der Schuhkappe stehen auf staubigem Asphalt, während ich den Knopf der Funkfernbedienung für die Zentralverriegelung am Autoschlüssel drücke. Es klackt laut und der Wagen ist verriegelt. Unbarmherzig spüre ich die heißen Sonnenstrahlen an meinen freien Schultern.
In nördlicher Richtung schreite ich über den breiten Asphaltplatz. Männerstimmen tönen aus dem an linker Hand gelegenem braunen Gebäude durch die geöffnete Tür, die sich in einer Nische befindet und nur über fünf Stufen erreichbar ist. An der Außenmauer prangt das jetzt unbeleuchtete Reklameschild der Gaststube.
Knirschen unter meinen Sohlen. Rollsplitt liegt auf dem Asphalt und ich passiere ein grünes Silo, das auf vier mächtigen Stelzen steht. Eine rechteckige, mit Metall umrandete Bodenplatte befindet sich direkt darunter; die LKW- Waage.
Das Knirschen unter meinen Sohlen wird lauter und als ich zu meinen Füßen hinab sehe, erkenne ich, dass unter ihnen kein Asphalt, sondern staubiger Splitt liegt, der mit jedem Schritt aufwirbelt und sich als feine, graue Staubschicht auf meinen Schuhen nieder lässt.
An der linken Seite ist nun ein Lagerschuppen zu sehen und der Platz läuft wie bei einem Wendehammer aus. Eine leichte Anhöhe erklimmend verlasse ich den Platz und folge einem vielleicht dreißig Zentimeter breiten Trampelpfad, an dessen Rändern Gräser und Wildkräuter stehen, die meine schwarze Hose streifen. Angenehm schattig wird es, als ich unter den ersten Bäumen in den Wald eintauche und ich fühle eine Art nervöses Flattern in mir. Liegt es daran, dass es jener Wald ist?
Brauner, staubtrockener Waldboden wirbelt bei jedem Tritt auf und die Bernnesseln kommen meinen unbedeckten Armen bedrohlich nahe. Dir haben sie sicher nichts ausgemacht, vor knapp drei Jahren!
Zehn Minuten sind es bis zu jener Stelle; bei meinem letzten Besuch vor etwa einem halben Jahr hatte ich die Zeit gestoppt.
Der Weg führt hinunter und Vogelstimmen übertönen die letzten Geräusche der nahe gelegenen Straße, über der ich gekommen war und von der ich mich immer weiter entferne.
Es geht steil hinunter und unten in der Senke liegt das Bachbett, über dem ein ein Meter breiter Steg führt. Vor einem Jahr waren an der gleichen Stelle nur zwei morsche Bretter, die sich bei jedem Schritt bedenklich nach unten bogen. Hinter dem Bachbett, in dem heute nur ein schmaler Rinnsal zu sehen ist, teilt sich der Weg. Rechter Hand verläuft der Weg parallel zum Bachbett, während der weiter in nördlicher Richtung führende Weg fast parallel zur Bahnlinie läuft, die man zwischen den ehrwürdigen Baumstämmen in etwa fünf Metern Entfernung an der linken Seite liegen sieht.
Noch immer ist das nervöse Flattern in mir. Nein, du brauchst keine Angst haben; ich denke nicht daran! Mir geht es gut und ich bin gut drauf, obwohl in gut einer Woche der Jahrestag ist!
Kaum ein Geräusch ist zu hören; vereinzelnd tönen Vogelstimmen aus den Baumwipfeln und hin und wieder knackt es im Unterholz. Ein Surren ertönt und ich blicke zu meiner Uhr am Handgelenk. Fünf Minuten der Wegstrecke habe ich schon zurückgelegt; das Surren schwillt an und mischt sich mit einem regelmäßig ertönendem Rattern. Es ist das Obligatorische Surren und Rattern einer Bahn, die sich von hinten nähert. Ich sehe zum Gleisbett herüber, als von hinten eine Lok an mir vorbei rauscht. Zwischen all den Bäumen und dem wuchernden Gestrüpp in Bodennähe verliere ich sie schnell aus den Augen und ich fühle, wie das nervöse Flattern schlagartig verfliegt.
Sag mal, hast du etwa befürchtet, ich hätte das in Erwägung gezogen?
Aus dem Geäst des gerade passierten Baumes zirpt ein Vogel seinen Laut zu mir herunter, das in meinen Ohren wie ein zerknirschtes Ja klingt.
Ich atme den Duft des Waldes tief ein und schüttle meinen Kopf. Ich glaube, du liebst mich noch immer, wenn du dich noch immer um mich sorgst ...
Erneut ertönt das Zirpen des Vogels und ich folge dem Weg, der an dieser Stelle morastig und zerfurcht vor mir liegt, weshalb ich am Außenrand des Weges gehe.
Ein grauer Kilometerstein ist am Gleisbett zu erkennen. Irgend etwas mit Einundfünfzig. Dann ist zwischen dem Weg und dem Gleis die tiefe Senke zu sehen und der Weg selbst führt leicht hinauf. Es kann nicht mehr so weit sein! Dort liegt schon der Baumstamm neben dem Weg. Oder muss ich noch einen weitere Anhöhe herauf? Kann ja nicht schaden, noch weiter zu gehen! Dem Weg weiter folgend betrachte ich die Bäume am Wegesrand. Muss ich wirklich noch an ihnen vorbei? Sahen sie nicht irgendwie unbekannt aus? Ich hebe meine Hand, um auf die Uhr zu sehen. Zehn Minuten waren schon verstrichen, seit ich den Wald betreten hatte! Das hieße ja, ich wäre an der Stelle vorbeigelaufen! Schon sehe ich das Ende des Weges vor mir liegen. So weit war ich bisher nie gegangen! Ich sehe schon den geteerten Weg, der am Waldrand liegt. Bist du damals über den gegangen? Ich kehre um, laufe den Weg zurück und aus dem Baum neben mir fällt ein Zapfen krachend auf den Waldboden nieder. Meine Augen stur nach rechts zum Gleisbett gerichtet sehe ich erneut den Baumstamm neben dem Weg liegen und im gleichen Augenblick erkenne ich deutlich die mit einem schlichten Kreuz versehene Stelle. Ich verlasse den staubigen Weg und setze meine Füße auf Grün. Moos liegt auf dem Boden und Farn säumt den Gang, der nur von wenigen gegangen wird, während ich dem schlichten Kreuz mit der Namensplatte immer näher komme.
Ja, die Stelle hat sich seit meinem letzten Besuch geändert: Die Erikapflanze ragt traurig und trocken ihre Zweige in die Luft, doch das kleine, weiße Herz aus Ton liegt noch an der gleichen Stelle. Das größere weiße Herz mit dem Relief eines üppigen Rosenbuketts und dem aufgeklebten Glimmerpulver, welches ich bei meinem vorletzten Besuch rechts neben dem Kreuz in frisch umgepflanztem Moos gelegt hatte, lag nicht mehr an seiner Stelle. Jemand hatte es vor dem Kreuz in den Waldboden umgesetzt und das Glimmerpulver reflektierte die Sonnenstrahlen. Die in Halbkreisform ums Kreuz gesetzten
( oder gefallenen?) Tannenzapfen waren angewachsen und trugen grüne Blattspitzen. Aber die Karte mit dem Text ist nicht mehr da.
Kannst du mich noch hören? Siehst du mich, wenn ich weine? Du warst immer ein guter Freund und ich wünsche mir, dass ich dich einmal wiedersehen werde.
Vielleicht war es zu heftig oder hat der Wind es fortgetragen? Vielleicht hat auch jemand die Karte an sich genommen? Vielleicht dein Freund, der dir das Kreuz errichtet hat? Ich wollte niemanden damit erschrecken! Nein, ich war nicht dabei, als es geschah, ich meine, nicht wirklich.
Die Sentimentalität treibt mir die Tränen in die Augen. Ich werde dich nie vergessen, mein Freund!
Ich wende meinen Blick ab und betrachte die gegenüberliegende Stelle des Waldes, die ich vor gut einem Jahr per Digicam auf einer Speicherkarte gebannt hatte: Von den fünf kleinen Laubbäumen waren vier entweder entwurzelt oder abgeknickt, denn sie lagen braun und vertrocknet auf dem Waldboden und der mächtigste unter ihnen, der mittlere, war in nördlicher Richtung gebogen, doch sein Blattwerk war noch grün.
Meine Blicke streifen die gegenüberliegende Seite: kein weiterer Baum lag am Boden. Hatte ein Sturm die Bäume geknickt?
Ich sehe zu meiner Armbanduhr. Zeit ist um. Ich hatte mir für die Stelle nur zehn Minuten Zeit gegeben, da ich anderweitig erwartet wurde. Tschüß, sage ich in Gedanken und verlasse die besagte Stelle. Nein, ich bin nicht direkt traurig; du warst es auch nicht, als du vor fast drei Jahren dort auf den Zug gewartet hast, der dich körperlos ins Irgendwo bringen sollte. Habe ich Recht?
Sonnenstrahlen treffen auf mein Gesicht und ich erreiche den Steg, gehe den Trampelpfad bis zum Waldrand und laufe über den Platz zum Wagen. Klackend öffnet sich der Wagen, nachdem ich den Knopf der Zentralverriegelung betätigt habe und begebe mich zur Beifahrerseite. Aus der angrenzenden Gaststube dringen noch immer die Männerstimmen, während ich die Autotür öffne und einen Schluck Wasser aus der großen Plastikflasche trinke. Dann angle ich mir aus dem Fußraum den Putzlappen, befeuchte ihn leicht mit etwas Mineralwasser aus der Flasche und wische damit den braunen und grauen Staub von den Schuhen. Eigentlich wollte ich ein Zitronenbonbon an der Stelle vergraben, und erst wenn aus diesem Bonbon ein Zitronenbaum würde, könnte ich vergessen, dass ich ihn kannte, meinen Freund.
Neben dem Wagen sehe ich eine Taubenfeder im Gras liegen und im gleichen Moment schießt mir der gedanke durch den Kopf: erst wenn aus dieser Taubenfeder eine Schwalbe wird, werde ich ihn vergessen.
Ich setze mich in den aufgeheizten Wagen; eine kühle Dusche wäre jetzt genau das Richtige!
Das Wasser läuft noch immer an meinem Körper herunter und es tut gut, nicht mehr in dem warmen Wagen zu sitzen..
 



 
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