Erinnerungen

Shinji-chan

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„Oh!“
Dr. Zurbas hielt inne und ließ den Teller, den er gerade in die Hand hielt, ins Waschbecken fallen. Nachdem er einen Moment in die Leere gestarrt hatte, drehte er sich herum und eilte mit einer Geschwindigkeit, die wohl niemand einem Mann seines Alters zugetraut hätte, ins benachbarte Arbeitszimmer.
Auf dem Schreibtisch lag noch die Arbeit eines seiner Studenten, die er vor der Mittagspause bearbeitet hatte. Das erste, was an der aufgeschlagenen Seite ins Auge fiel, war die Formel am unteren Ende, die vom Professor mit einer dicken Bleistiftlinie umrandet worden war. Er hatte die Seite und insbesondere den Absatz, der diese Gleichung erklären sollte, mehrere Male aufmerksam gelesen, doch es wollte ihm einfach nicht klar werden, wie der junge Mann, der immer durch seine brillanten, wenn auch etwas chaotischen Ideen aus der Menge hervorstach, sich diese hergeleitet hatte.
„Ein Stift... wo hab ich den denn nun schon wieder liegen lassen?“, murmelte er vor sich hin und wühlte in dem Haufen an Akten, Büchern und losen Zetteln, der sich auf seinem Schreibtisch angesammelt hatte. Beim Abwaschen war ihm plötzlich ein Gedanken gekommen, der nicht nur erklärte, wie sein Schützling auf die neue Formel gekommen war, sondern auch offen legte, wie weitgreifend diese Entdeckung war – aber er merkte schon, wie der Gedanke drohte, ihm wieder zu entwischen, wenn er ihn nicht sofort in seinen eigenen Worten niederschrieb.
Der Professor zog eine der vielen Schubladen auf und entdeckte darin, im hintersten Winkel, endlich einen kleinen Bleistiftstummel. Gerade wollte er ihn herausnehmen, um seinem von den Bemühungen, bloß nichts zu vergessen, strapazierten Gehirn Erleichterung zu verschaffen, als der Blick durch seine golden umrandete Brille auf etwas anderes fiel...
Schlaff ließ er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, der unter seinem Gewicht leise ächzte. Zurbas nahm das Foto in die Hand und pustete vorsichtig darüber, um es von der Staubschicht zu befreien, die sich darauf angesammelt hatte. Er hatte gar nicht gewusst, dass es noch hier war. Kein Wunder – ein besonders ordentlicher Mensch war er nie gewesen.
Dieses Bild weckte alte Erinnerungen – Erinnerungen an eine Zeit, die er fast vergessen hatte.
Es zeigte ihn in einem schwarzen Anzug, der an seinem spindeldürren Körper mehr als seltsam aussah. Seine damals noch blonden Haare, die für gewöhnlich in alle Himmelsrichtungen abstanden, waren mit viel Mühe geordnet worden und dort, wo inzwischen ein dichter, grauer Bart wuchs, glänzte das frisch rasierte Kinn eines 17-jährigen Jungen.
Dr. Zurbas erinnerte sich genau an diesen Tag.

Er war auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch in der Druckerei eines entfernten Verwandten, bei dem sein Vater ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte. Wenn er die Schule abgeschlossen hatte – was etwa in einem halben Jahr der Fall war – sollte er dort eine Lehre anfangen. Er selbst war sich nicht so ganz sicher, ob es das richtige für ihn war, aber da er in Bücher vernarrt war, hatten seine Eltern ihn davon überzeugt, es dort zu versuchen.
Natürlich war er viel zu früh dran; als er das Druckereigebäude erreichte, blieb ihm noch fast eine Stunde bis zum Beginn des Gesprächs. Also beschloss er, sich noch für eine Weile auf einer Bank am Rande des nahe gelegenen Marktplatzes niederzulassen. Da kein Markttag war, war dort nicht besonders viel los und der Junge hatte freie Sicht auf den Springbrunnen in der Mitte des Platzes, der fröhlich vor sich hinplätscherte.
Es war faszinierend, in was für symmetrischen Bahnen die Wasserfontänen aus der niedrigen Säule in der Mitte heraussprangen und wie gleichmäßig die kleinen Wellen, die sie hervorriefen, in alle Richtungen auseinanderliefen.Eine Taube flog darüber hinweg, drehte einen weiten Bogen und kehrte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Sie sah so dick aus, so schwerfällig und trotzdem konnte sie sich mit ein paar gezielten Schlägen ihrer dünnen Flügel in der Luft halten.
Dass es zu regnen begonnen hatte, bemerkte der junge Zurbas erst, als seine Kleidung fast zur Gänze durchnässt war. Er sah auf und bemerkte einen Regenbogen am Himmel über der Stadt, perfekt geformt und so deutlich, dass man jede einzelne der sechs Farben ausmachen konnte. Da leuchtete er, als wäre überhaupt nichts Wundersames daran, dass sich am blauen Himmel ein bunter, perfekt symmetrischer Bogen bildete.
Lachend stand Zurbas auf, drehte sich im Kreis herum und streckte dabei die Arme aus, so als wolle er all die kleinen Tropfen, die vom Himmel fielen, damit auffangen. Sie fielen herab, bildeten Pfützen und bei Sonnenschein würden sie wieder verdunsten, zu neuen Wolken werden und irgendwann, irgendwo, wieder auf die Erde zurückfallen, in einem ewigen Kreis, auf einer nicht enden wollenden Reise um die ganze Welt.
Als der Schüler bemerkte, wie eine vorbeigehende Frau ihn missbilligend ansah, besann er sich und blieb stehen, mit der Hand durch sein klitschnasses Haar fahrend. So konnte er unmöglich beim Vorstellungsgespräch auftauchen. Aber wenn er recht darüber nachdachte, wollte er auch gar nicht mehr dorthin. Sein ganzes Leben in einer Druckerei verbringen, während es dort draußen die Geheimnisse einer solch fantastischen Welt zu entdecken gab?! Da konnte er sich eindeutig Besseres vorstellen.

Der alte Zurbas lachte leise. Er erinnerte sich noch genau an das Gesicht seiner Mutter, als er – von oben bis unten durchnässt – nach Hause gekommen war und verkündet hatte, dass er Physik studieren wollte.
Schmunzelnd blickte er auf das Schwarz-Weiß-Foto, das er noch immer in der Hand hielt. Dieser junge Mann dort war kurz nach Aufnahme des Bildes gestorben – und als anderer Mensch zu neuem Leben erwacht.
Als der Professor aufsah, fiel sein Blick auf die aufgeschlagene Studentenarbeit und die von ihm eingekreiste Formel. Er wurde ein wenig bleich im Gesicht. Ihm war doch etwas dazu eingefallen! Aber was war es nur gewesen...?
Mit einem tiefen Seufzer legte er das Foto zurück in die Schublade und schloss sie wieder. Aber es war nur das Bild, dass er aus seinem Blickfeld entfernte; die Erinnerung würde verbleiben.
 



 
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