Erinnerungen

sylvanamaria

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Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Es war nun geschehen. Ob die Entscheidung richtig gewesen ist, würden die kommenden Tage, Wochen und Monate zeigen. Dem einsamen Mann war allerdings auch bewusst, dass ohne weiterreichende Konsequenzen keine andere Möglichkeit bestanden hatte. Morgen um 9.00 Uhr wird sein Sohn Martin den Dienst bei den Streitkräften der Nationalen Volksarmee der DDR antreten – enthusiastisch und stolz wie sein Großvater, aktiver Offizier im Dienst der NVA. Bis zu seinem Tod im vorangegangenen Jahr hatte er seinem Sohn Wolfgang immer gezeigt, welche Meinung er zu Zivilisten hatte und dass er die Entscheidung seines Sohnes immer noch missbilligte. Nur aus diesem Grund konnte ein so inniges Band zwischen Großvater und Enkel entstehen: Martin lauschte schon als kleiner Junge fasziniert den Erzählungen von Johannes über Ehre, Ruhm, Vaterlandsverteidigung - Schlagworte, über dessen wahren Werte sich Wolfgang längst keine Illusionen mehr machte.
Seine Gedanken wanderten 23 Jahre zurück, an einen regnerischen und stürmischen Oktobertag anno 1960. Wolfgangs Inneres raste und toste wie das Wetter vor der Tür. Er war so alt wie Martin jetzt, knapp 18, und doch war die Ausgangssituation anders. Er erinnerte sich, wie stolz Johannes gewesen war, als der Einberufungsbefehl kam und dass er von Familientradition, Ehre usw. sprach. Wolfgang hörte kaum zu. Seit langem hatte er gewusst, dass dieser Tag kommen würde: Es beruhigte ihn nicht, sondern machte ihn nur traurig und wütend zugleich. Er wusste, dass es keine Möglichkeit gab für das Jetzt, wohl aber für das Später. In der ersten Woche beging ein Rekrut Selbstmord – die Kommandantur nannte es Unfalltod beim Manöver. Wolfgang wusste es besser. Jan war ein sensibler junger Mann aus einer Künstlerfamilie gewesen, der nach dem Grundwehrdienst Musik studieren wollte. Ein Grund, ihm besonderen Drill angedeihen zu lassen. Wolfgang wusste, er war stark genug an Körper und Geist, um dies durchzustehen. Dies wiederum reizte die Ausbilder, auch ihm besonderen Drill angedeihen zu lassen. Sie wollten ihn klein kriegen, winseln sehen. Diesen Gefallen tat er ihnen nie. Er stand die Prüfungen durch. Gleichzeitig reifte in ihm der Entschluss, nach den drei Jahren Jura zu studieren, um die Schwachen gegen die Starken zu verteidigen und Menschen in Not zu helfen. Drei Jahre musste er dienen, um zum Studium zugelassen zu werden. Er biss die Zähne zusammen und vertraute sich keinem an, denn Spitzel lauerten überall. Nebenher besorgte er sich Bücher, las und schrieb viel. Er sichtete in Frage kommende Universitäten, die zum einen weit entfernt vom Machtbereich seines Vater liegen mussten, und um zum anderen nah genug, um bei Sylvia zu sein. Oh ja, Sylvia seine damalige hübsche Freundin. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nicht ahnen, dass er nur aufgrund seines Status als Offiziersanwärter repräsentabel war. Aber auch diese Lektion sollte er bald lernen. Außerdem musste der Studienort über Möglichkeiten zu Gelegenheitsjobs verfügen, denn er war sich darüber im klaren, dass sein Vater keine müde Mark Unterhalt zahlen würde. Es kam jedoch so, wie es kommen musste. Geheimnisse gibt es in einer Mannschaftsbaracke nicht und eines Tages wurde er in die Wachstube zitiert. Als erstes sah er seinen Vater, voll von kaltem Zorn, in seiner Uniform mit allen Orden, als zweites die Kommandopapiere nach Berlin. Wie sein Vater erklärte zu einer Dienststelle mit ordentlichem aktiven Dienst, wo Wolfgang keine Zeit für solche Flausen haben würde. Man schrieb den 13.07.1961. Diese Entscheidung sollte Johannes sein Leben lang bereuen, denn die einen Monat später Berlin auf den Kopf stellenden Ereignisse prägten Wolfgang für sein ganzes Leben lang. Am 12.08. mussten damals alle in der Kaserne befindlichen Soldaten und Rekruten ausrücken. Niemand wusste etwas, aber Bedrohliches lag in der Luft. Abends bezog Wolfgangs Kompanie Stellung vor dem Brandenburger Tor und am 13.08.1961 wurde die Grenze zwischen dem Ostsektor und den Westsektoren abgeriegelt. Diese Ereignisse hat er nie vergessen. Die Teilung der Stadt teilte Menschenschicksale: Familien wurden getrennt, Tausende verloren ihre Arbeit, zwischenmenschliche Ost –West –Beziehungen gekappt. Kinder wuchsen teilweise nur mit einem Elternteil auf, da der andere im falschen Sektor wohnte. Familienzusammenführungen waren nicht immer erfolgreich. In den Tagen darauf wurde Schießbefehl ausgegeben. Jedem war der Inhalt und die Auswirkungen des Befehls bewusst. Wer noch zweifelte, dem wurden Parolen eingeimpft: jeder, der von Ost nach West flüchtete, war ein Republikflüchtling, ein Klassenfeind, ein Vaterlands- und Hochverräter, der eliminiert werden musste. Das betraf nicht nur Männer, sondern auch Frauen, Kinder und Alte. Und es wurde geschossen. Die Blitze aus den Gewehrmündungen brannten die Bilder unauslöschlich in sein Gedächtnis ein. Noch heute hat er Alpträume. Er sah Kinder, deren Väter oder Mütter einfach umfielen und die dies nicht verstehen konnten. Er sah Mütter, die sich über ihre von Kugeln getroffenen Kinder warfen und abgeführt wurden. Er sah, dass Menschen wie Hasen gejagt wurden. Aber er schwieg und führte seine Befehle aus, da er genauso viel Angst hatte wie die Menschen vor ihm: Angst vor dem berüchtigten Arrest oder Schlimmeren.
Wolfgang hat nie darüber gesprochen.
Nach drei Jahren – 1963 – quittierte er den Dienst. Sein Vater tobte, aber durch das Erbe mütterlicherseits war Wolfgang einigermaßen finanziell unabhängig um seine Ideen zu verwirklichen. Auch die Wahrheit über Sylvia kannte er, aber zu diesem Zeitpunkt hatte er schon seine liebreizende Henriette kennen gelernt, die es wie durch ein Wunder auch schaffte, Vater und Sohn einigermaßen zu versöhnen.
Wolfgang fluchte leise vor sich hin. Die Zigarette hatte seine Fingerkuppen verbrannt. Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er konnte nur hoffen, dass seinem Sohn solche Erfahrungen erspart blieben und dass er erkennen würde, worin wirkliche Ehre und Heldenmut besteht: im Dienst an den Menschen selbst. Es gibt immer jemanden, der schwächer ist und die Hilfe anderer benötigt.
 



 
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