Erinnerungen an Jenny

4,70 Stern(e) 6 Bewertungen

Kelly

Mitglied
„Sieben Monate noch, vielleicht auch zehn – höchstens zwölf.“

Diese Worten waren es, die bedeutungslos werden ließen, was kurz zuvor noch wichtig gewesen war und mich mit einem Schlag hatten lernen lassen, was ich eigentlich zu kennen glaubte: Wie es ist, einen anderen Menschen wirklich zu lieben.

Jenny war eine der Frauen, die so gut wie nie zum Arzt gehen.
„Das ist von allein gekommen und genauso wird es auch wieder verschwinden“, hatte sie immer gesagt und manchmal mache ich mir Vorwürfe, dass ich nicht einfach auf einen Arztbesuch bestanden hatte. Denn es ging nicht einfach wieder vorbei.

Anfangs war Jenny eine unglaublich lebenslustige und aktive Person, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen und vor Mitternacht nicht müde zu kriegen. Sie liebte die Natur und es dauerte nicht lange, bis wir Bella, eine aufgeweckte Golden Retriever Hündin, bei uns aufnahmen. Wir fühlten uns, als wären wir tatsächlich Eltern eines Babys geworden und unsere Beziehung bekam eine völlig neue Tiefe.
Nach ein paar Monaten kam es immer öfter vor, dass Jenny mich bat, alleine mit Bella rauszugehen, sie sei völlig erschlagen, das ständige lange Aufbleiben fordere scheinbar seinen Tribut, hatte sie erklärt. Dass es sich nur um eine geringe Anzahlung eines viel größeren Preises handeln sollte, darauf wäre ich im Traum nicht gekommen.

Dann kam das Fieber.
„Bestimmt nur eine Frühjahrsgrippe“, bekam ich zu hören, als ich sie bat, zum Arzt zu gehen und auch die neun Kilo, die sie in recht kurzer Zeit abgenommen hatte, beunruhigten sie nicht, im Gegenteil.
„Das ist gar nicht schlecht, so kurz vor dem Sommer!“, war alles, was sie dazu gesagt hatte. Inzwischen war ungefähr ein Jahr vergangen, seit ich bemerkt hatte, dass irgendetwas sich zu verändern begann, als der Tag kam, an dem Jenny plötzlich umkippte. Einfach so, beim Kartoffelschälen. Etliche Untersuchungen später wussten wir den Grund für die ständige Müdigkeit, das Fieber und den Gewichtsverlust: Leukämie, Blutkrebs in fortgeschrittenem Stadium.

Die folgenden Monate lebte ich kaum ein eigenes Leben. Alles was ich tat, dachte oder sagte hatte mit Jenny zu tun, ihrer Krankheit und meiner Liebe zu ihr. Natürlich hatte ich sie auch vorher schon geliebt, doch als ich die Tatsache erkannte, sie eventuell hergeben zu müssen, wurde mir schmerzhaft bewusst, was sie eigentlich für mich bedeutete. Es schien mir ausgeschlossen, auch nur einen einzigen Tag ohne sie sein zu können, alles, was in meinem Leben von Bedeutung war, war untrennbar mit ihr verknüpft und würde sie sterben, wäre auch mein Leben zu Ende. Dessen war ich sicher.

Bella bekam in dieser Zeit nicht halb so viel Aufmerksamkeit, wie sie verdient hätte. An manchen Tagen öffnete ich nur die Balkontür und ließ sie in den Garten. Lange Spaziergänge waren einfach nicht drin, wenn sie mich vielleicht auch abgelenkt hätten.
Ich hatte ein Ziel: Jenny musste gerettet werden, koste es was es wolle. Auf die Schulmedizin alleine wollte ich mich nicht verlassen, also schleppte ich Jenny von Wunderheiler zu Wunderheiler, selbst nach Lourdes fuhr ich mit ihr und versuchte in jeder Sekunde ihr das Leben so lebenswert wie möglich zu machen. Ich war überzeugt, wenn sie nur fest genug daran glauben würde, könnte sie ihre Krankheit besiegen und unser beider Leben hätte eine Zukunft.
Heute frage ich mich, ob ich es ihr dadurch nicht unnötig schwer gemacht habe. Ruhe hatte sie eigentlich kaum noch, irgendjemand wollte immer etwas von ihr. Die Ärzte, die Schwestern oder eben ich.

Doch Jenny beschwerte sich nie. Was auch immer man von ihr verlangte, sie ließ es klaglos über sich ergehen. Unglaublich stark war sie und oftmals schämte ich mich meiner Tränen, war es doch nicht ich, der all dieses Leid zu ertragen hatte. Es klingt verrückt, doch sie konnte mit dieser Situation bedeutend besser umgehen als ich. Sie war es, die mir Trost gespendet, mich in den Armen gewiegt und mir Mut zugesprochen hatte – ich dagegen konnte nichts tun, als ihr den ein oder anderen Wunsch erfüllen. Den Traumurlaub auf den Seychellen oder den Teich hinter dem Haus zum Beispiel.
„Mit einer kleinen Bank, von der man die Füße ins Wasser tauchen kann.“
Davon hatte sie immer geträumt und ich hätte mich ohrfeigen können, ihren Wunsch nicht schon früher erfüllt zu haben.
„Du weißt doch, ich hasse alles, was mit Grünzeug zu tun hat“, hatte ich meine Faulheit immer begründet und Jennys sehnliche Blicke in den Garten ignoriert.

Doch jetzt gab es für mich kein Halten mehr und nach einer gewissen Zeit kam jeder einzelne Euro den ich brauchte von der Bank. Aber egal, Jenny lebte – und zwar jetzt! Was hätte ich Besseres tun können, als ihr die Dinge zu ermöglichen, nach denen sie sich schon so lange gesehnt hatte?
Während unserer Seychellen-Reise zog Bella vorübergehend zu meinen Eltern. Jenny wollte sie mitnehmen, ich aber bestand auf entspannende Ferien – ohne Hund. Ich dachte, es mache zu viele Umstände, ein Hund im Flieger, dann noch ein fremdes Land ... Ich hatte Angst, am Ende wäre es Bella, die im Urlaub krank würde und schließlich wollte ich mich so gut ich konnte um Jenny kümmern.
Kurz zuvor hatte sie ihre zweite Chemo hinter sich gebracht und trug eine blonde Langhaarperücke um ihren kahlen Kopf zu bedecken.
„Heiße ich vielleicht Telly Savallas?“, hatte sie gescherzt, „Und außerdem sehen Sommersprossen auf dem Kopf bestimmt blöd aus, ich bin ja kein Dalmatiner!“
Manchmal fiel es mir extrem schwer, ihr Verhalten nachzuvollziehen. Immer wieder stellte ich mir die Frage, wie ich wohl reagieren würde, wenn ich eine tödliche Krankheit in mir trüge, und meistens kam ich zu dem Entschluss, dass ich am Boden zerstört auf mein Ende warten würde. Ich empfand echte Hochachtung für Jenny, wenn es auch eher Mut der Verzweiflung war, der sie so handeln ließ.

Wenige Tage vor unserer geplanten Heimreise bat sie mich, ihr eine Flasche Cola aus dem Supermarkt zu holen. Nach der halben Strecke bemerkte ich jedoch, dass ich meinen Geldbeutel auf unserem Zimmer vergessen hatte und kehrte um.
Ich wollte gerade „Hallo, da bin ich noch mal!“ ins Zimmer rufen, als lautes Schluchzen und verzweifeltes Wimmern mir die Worte im Hals stecken bleiben ließen. Augenblicklich bekam ich Gänsehaut am ganzen Körper und konnte meinen Pulsschlag in den Ohren spüren. Ich war schockiert, spürte aber instinktiv, dass es besser war, mich still zu verhalten.
Die Geräusche kamen aus dem Schlafzimmer und langsam ging ich auf die nur angelehnte Tür zu. Ich weiß nicht, was ich zu sehen erwartete, doch als ich durch den Spalt schaute, hatte ich das Gefühl, eine Sense würde mir das Herz in tausend Stücke zerteilen.

Da saß sie.
Ihre Perücke in der Hand starrte sie in den Kosmetikspiegel und fuhr sich mit der freien Hand immer wieder über ihren nackten Schädel. Ihre Schultern bebten und obwohl ich sicher bin, dass sie es gerne unterdrückt hätte, konnte sie einfach nicht aufhören zu weinen. Außer „Warum ich?“, verstand ich nicht viel von dem, was sie von sich gab. Ihre Worte versanken immer wieder in den Fluten ihrer Tränen. So hatte ich sie noch nie gesehen. Plötzlich warf sie ihre Perücke gegen den Spiegel, fing hysterisch an zu schreien und auf einmal sah ich Blut ihren Hinterkopf hinablaufen. Wie von Sinnen zerkratzte sie ihre Kopfhaut! Das war der Moment, in dem ich ins Zimmer stürmte, sie vom Spiegel wegriss und so fest ich konnte an mich presste. Beide heulten wir, als gäbe es kein Morgen mehr und in gewissem Sinne war es auch so.

„Danny, ich kann nicht mehr“, sagte sie später zu mir.
“Alles was ich noch möchte, ist heim fliegen. Ich gehöre nicht hierher. Lass mich zuhause sterben, nicht in der Klinik und nicht im Ausland. Bitte ...“
Ich musste schlucken und sie küsste meine Tränen weg.
Zwar verstand ich ihre Worte, nicht aber deren Bedeutung.
„Okay, wir fliegen heim und dann wird alles gut.“, sagte ich aufgeregt und begann direkt ihre Sachen in den Koffer zu packen.
„Nein, nicht so wie du meinst. Es wird alles gut, ja – aber erst, wenn ich endlich Ruhe gefunden habe. Ich mag keine Schmerzen mehr haben, keine Angst und vor allem mag ich mich nicht mehr verstecken“, sagte sie, mit einem schmerzerfüllten Blick auf ihre Perücke.
„Ich will am Teich sitzen, den du gemacht hast und noch mal mit Bella durch den Wald laufen. Die Dinge tun, die mir auch sonst wichtig waren. Bitte versuch doch, mich zu verstehen.“

Ich schaute ihr in die Augen und zum ersten Mal konnte ich darin erkennen, was ich all die Zeit scheinbar übersehen hatte. Den Schmerz von dem sie gesprochen und die Endgütigkeit, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Ich musste blind gewesen sein.
Zwar hatte ich gewusst, dass Jenny eventuell sterben könnte, in diesem Moment aber wurde mir klar, dass es auch tatsächlich passieren würde - es war nur eine Frage der Zeit. Düstere Schatten legten sich über mein Inneres.

Am nächsten Tag sind wir Nachhause geflogen und haben Bella wieder zu uns geholt. Die Ärzte deckten Jenny mit Medikamenten ein und meinten, ihre Einstellung sei ein Zeichen dafür, dass es tatsächlich zu Ende ginge. Es gäbe bestimmte Sterbephasen, die ein todkranker Mensch durchlaufen würde und die Akzeptanz der eigenen Situation stünde ziemlich am Ende.
Zu Anfang wollten die meisten Kranken noch weitere Meinungen einholen, alternative Heilmethoden ausprobieren und verleugneten einfach die Realität. Diese Phase habe Jenny hinter sich gelassen.
Ich solle ihr auch weiterhin die Tage so schön wie möglich machen, müsse aber akzeptieren, dass sie sich nun zu lösen beginne und den Prozess ihres Abschieds als eben solchen hinnehmen. Keine Aufgabe der Welt schien mir schwerer, als diese.

Wenige Tage vor ihrem Tod nahm sie mir das Versprechen ab, mich nicht hängen zu lassen. Jede gemeinsame Sekunde sei ein großes Geschenk gewesen und glücklicher als mit mir hätte sie niemals sein können. Daran solle ich mich immer erinnern. Unsere Liebe dürfe nicht unter einem Trauerflor begraben werden und außerdem ginge es ihr dann endlich wieder besser. So lange Bella am Leben sei, solle mich gut um unser Baby kümmern und dann, eines Tages, wären wir sowieso wieder alle vereint.
Es ist hart, aber ich versuche jeden Tag, ihr diesen letzten Wunsch zu erfüllen.

Manchmal, wenn ich auf der Bank am Teich sitze und Bella sich an meine Beine schmiegt, stelle ich mir vor, wie Jenny bäuchlings auf einer Wolke liegt, sich die langen Haare aus dem Gesicht streicht und zärtlich zu uns herunterlächelt.

Dann lächle auch ich, flüstere ein leises „Ich liebe dich“ und Bellas flauschiges Fell legt sich schützend um meine frierende Seele.
 

Josef Knecht

Mitglied
Hallo Kelly,
eine ganz ausgezeichnete Erzählung die mich gepackt hat. Wenn es, wie Sol Stein schreibt, die Aufgabe von Literatur ist im Leser Gefühle zu erzeugen, dann hast du deine Aufgabe ganz hervorragend gelöst.
Es beginnt mit dem Titel und setzt sich mit der Überschrift "sieben Monate noch - vielleicht auch 10 - höchstens 12" in der das Ende der Geschichte angedeutet wird, das Jenny sterben wird. Dann die verzweifelten Bemühungen des Freundes Jenny zu retten, das nicht wahrhaben wollen dass Jenny sterben könnte.
Ich habe den Text eben noch einmal überflogen und mich gefragt, ob es irgendetwas gibt, was ich an dem Text noch verbessern könnte. Ich muss sagen, nein, da gibt es nichts.
Liebe Grüße
Josef
P.S. Ich habe eben in deinem Profil nachgesehen und leider nichts gefunden. Es wäre nett, wenn du etwas mehr mitteilen würdest (natürlich nur wenn du es möchtest)
 

Gorgonski

Mitglied
Eine emotional anrührende Geschichte an der es nichts zu verbessern gibt.

Lediglich ein kleiner Flüchtigkeitsfehler ist mir aufgefallen.:
Jenny war eine[strike]r[/strike] der Frauen...


MfG; Rocco
 

Kelly

Mitglied
Hallo Josef,
hallo Rocco!

Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt, meine Geschichte zu lesen und zu kommentieren (und für den Hinweis wegen des Flüchtigkeitsfehlers ...)

Es freut mich SEHR, wenn es mir gelungen ist, Emotionen im Leser wachzurufen, bliebe nur noch zu wünschen, dass so etwas "in Serie" klappt und nicht bei dieser einen Ausnahme bleibt. ;o)
Verbessern kann man vermutlich an jeder Geschichte etwas, aber der Leser hat das letzte Wort und von daher glaub ich euch einfach mal, dass ich diese Story hier als "fertig" betrachten kann! :)

Nochmals DANKE und viele Grüße!
Kelly
 

Fugalee Page

Mitglied
Hallo Kelly,

kann mich den Vorrednern nur anschließen. Eine Geschichte, die einen wirklich tief berührt. Hoffe, dass alles nur deiner Phantasie entsprungen ist, und du mit dieser Story kein reales Erlebnis verarbeiten musstest.

Gruß von F. P.
 

Kelly

Mitglied
Hallo F.P.!

Vielen lieben Dank für deinen Kommentar!
Ich gehöre ja zu den "Schubladenschreibern", was dummerweise bedeutet, dass ich eher selten erfahre, wie meine Texte auf andere Menschen wirken.

Dass ich gerade diesen Text hier (der mir ziemlich am Herzen liegt - aber NEIN, er ist nicht autobiographisch, nicht so ganz zumindest ...) von der Festplatte in die große, weite Welt geschickt und auch direkt so positive Feedbacks bekommen habe, das ist wirklich ganz was Tolles!

Danke für die Zeit, die du Jenny geschenkt hast ...

Kelly
 
B

Burana

Gast
Hallo Kelly!
Ich bin heute nochmal auf Deine Geschichte gestoßen, die ich kurz nach dem Einstellen schon gelesen hatte. Sie gefällt mir nach wie vor sehr gut. Glückwunsch!
Liebe Grüße, Burana
 



 
Oben Unten