Erschüttert

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Erschüttert

Jonathan sah sich in dem großen Raum um. Auf der anderen Seite standen einige Tische. Die dahinter sitzenden Damen und Herren hatten Listen vor sich liegen und verteilten Stimmzettel. Links standen drei Wahlkabinen.Rechts stand eine Wahlurne. Man schrieb das Jahr 1972. Es war Bundestagswahl. Jonathan war als Wahlhelfer eingeteilt.

Einige Wahlhelferinnen machten sich über gewisse Damen lustig, die ganz in der Nähe ihren Wohnsitz und Arbeitsplatz hatten. Auch jene Damen würden heute wählen. Jonathan kam sehr bald dahinter, dass jene Damen gemeint waren, die in den Häusern "Hinter dem Bahndamm" wohnten.

Vor einigen Monaten hatte Jonathan seinen Urlaub in den Vogesen verbracht. Dort hatte er sich hin und wieder eine französich-deutsche Zeitung gekauft. Jene Zeitung war zum Teil in französisch und zum Teil in deutsch abgefasst. Ein Buch wurde empfohlen. "Die Geschichte der Michele". Als er wieder in Düsseldorf war, kaufte er sich das Buch.

Jene Michele stammte aus sehr zerrütteten Familiemverhältnissen. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg geriet sie in die Prostitution. Acht Jahre war sie in jenem Milieu tätig, das sie von vorne bis hinten anwiderte. Durch einige glückliche Zufälle lernte sie Menschen kennen, die sich ohne Hintergedanken um sie kümmerten. Jene Menschen halfen ihr, trotz aller Rückschläge, den Weg zu einem normalen bürgerlichen Leben zu finden. Später wurde Michele Sozialarbeiterin und beriet jene Frauen, die aus dem Teufelskreis der Prostitution ausbrechen wollten.

Die Bundestagswahl war in vollem Gange. Wahlbenachrichtungen und Personalpapiere wurden mit den Angaben in den Listen verglichen. Wenn dann ein Name abgehakt war, wurden die Stimmzettel ausgegeben. Es gab keine besonderen Vorkommnisse. Auch die Prostituierten wählten. Zwischendurch wurden immer wieder Damen und Herren beurlaubt, damit sie sich von der Wahl erholen konnten. Jonathan gehörte auch dazu. Niemand kann sich ohne Erschöpfung zehn Stunden lang in einem Wahllokal aufhalten.

Eine Stunde vor Toresschluß erschienen zwei Damen. Auch sie wohnten in den Häusern "Hinter dem Bahndamm".Beide waren ungefähr achtundzwanzig Jahre alt. Der Wahlleiter trat auf Jonathan zu. Im abfälligen Ton sprach er zu Jonathan: "Geben sie das den Damen. Ich muß mal raus." Offenbar musste er zur Toilette. Er gab ihm die Stimmzettel für die beiden Wahlberechtigten.

Die Prostituierten hatten sich in der Mitte des Raumes aufgestellt. "Damen" hatte der Wahlleiter abfällig gesagt. Wie Jonathan das wurmte. Mit einer herzlichen Stimme, die er überhaupt nicht für möglich gehalten hatte, sagte er: ""Bitteschön, die Damen! Etwas für sie und für sie". Kurze Zeit später bemerkte er, dass von den drei Wahlkabinen zwei frei wurden. Noch immer wurmte es ihn, dass der Wahlleiter abfällig "Damen gesagt hatte. Mit einer herzenswarmen Stimme, die er überhaupt nicht für möglich gehalten hatte, teilte er mit: "Es sind gerade zwei Kabinen frei. Die Damen können dann gleich wählen". Gehorsam setzten sich die Damen in Bewegung. Sie verschwanden hinter den Wahlkabinen. Die Schwarzhaarigw war etwas früher fertig als ihre blonde Kollegien. Sie blickte über den Rand der Wahlkabine Jonathan unverwandt an. In ihrem Gesicht machten sich für einige Sekunden heftige Zuckungen bemerkbar. Sie, die Prostituierte, die doch daran gewöhnt war, von aller Welt als Miststück behandelt zu werden, war erschüttert, weil sie ausnahmsweise einmal anständig behandelt worden war. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, doch wenigstens einmal auf einen mitfühlenden Mann zu stoßen.

Murr
 

Mumpf Lunse

Mitglied
Hallo Dichter Johannes,
"Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt, doch wenigstens einmal auf einen mitfühlenden Mann zu stoßen."
- so endet deine Geschichte.

Auch unser Herr Jesus hat die Huren gut behandelt. Der wahlhelfende Protagonist in deiner Geschichte war ein wahrer Christ, ein guter und gerechter Mann. Amen.
Das erinnert mich an die vielen Aufkleber die man so sieht.
"Ich bremse auch für Kinder", las ich neulich auf einem Auto.
Hätte es die 1972 schon gegeben hätte dein Prot. sicher einen verwendet auf dem gestanden hätte: "Ich bin nett zu Huren".

Womit mir allerdings noch nicht klar ist worum es eigentlich geht in der Geschichte. Was mir auch nicht klar ist: Woher weiß der Erzähler was die Frau Prostituierte empfindet? - jezt mal kurz oben lesen - "Wie sehr hatte sie ...usw."

Vielleicht hatte sie ja einen netten Zuhälter der die Kinder versorgte während sie arbeitete? Jonathans Quellen bleiben im dunkeln.

Viele Fragen.

Was ich allerdings nicht so richtig versteh: "Sie blickte über den Rand der Wahlkabine Jonathan unverwandt an. In ihrem Gesicht machten sich für einige Sekunden heftige Zuckungen bemerkbar." Unverwandte Zuckungen sind schon was eigenartiges.

Was für Zuckungen? Ist es eine schlimme Krankheit? Konnte sie wegen der Zuckungen im Gesicht nicht an der Fleischtheke im Edeka anfangen und wurde deshalb Prostituierte, weil da ja andere Werte zählen?

Oder wollte sie ihm vielleicht ein Zeichen geben? Seine wunderbare Freundlichkeit mit Oralverkehr in der Wahlkabine vergelten? Gratis gar?

Welchen Weg nahm Jonathan nach diesem erschütternden Erlebnis?
(Nett sein meine ich, "Mit einer herzenswarmen Stimme, die er überhaupt nicht für möglich gehalten hatte ...", so viel herzenswärme an sich zu endecken kann einen schon ins trudeln bringen.)

Wurde er Sozialpädagoge oder wohnt er immernoch bei seiner Mutter?
Was sagt uns der Titel der Geschichte? Wer ist erschüttert?
Der Protagonist? Die Prostituierten? Die anderen Wahlhelfer?
Der Leser gar?

Viele Fragen.

Und wieder die Frage aller Fragen: Worum geht es eigentlich?

grübelt
mumpf
 
H

HFleiss

Gast
Also ich versteh die Erzählung so, dass der Ich-Erzähler Jonathan sich selbst adelt, wenn er alle Menschen ohne Ansehen des Geschlechts, des Standes, der Form des Broterwerbs usw. gleich behandelt, das entspricht seiner Vorstellung von Menschenwürde und Gerechtigkeit. Jedenfalls muss ich das als Prämisse annehmen: Freundlichkeit schafft Freudentränen. Die Geschichte ist gut gemeint. Aber dadurch, dass der Leser nicht wenigstens auf eine kleine falsche Fährte gelockt wird (Johnathan könnte z. B. mit sich ringen, um gegen seine Überzeugung trotzdem die Nutten wie andere Leute auch zu behandeln - dann hätte er in der Geschichte eine Entwicklung durchgemacht und du würdest eine wirkliche Geschichte erzählen), kommt mir das Geschichtchen doch ein bisschen zu geradlinig erzählt vor. Naja, und die Pointe ist dann keine, weil man sie ja erwartet. Du scheinst eine unbewusste Vorliebe für das Wörtchen "jene/r/s" zu besitzen? Aber ich finde gute Ansätze des Erzählens in diesem kurzen Text, nur gestalterisch scheint er mir noch ein bisschen unvollkommen. Es ist dummerweise tatsächlich so, dass man auch die besten Ideen gut "verkaufen" können muss, damit sie beim Leser ankommen, und seien sie auch noch so edel. Leser sind eben phlegmatische und niemals zu befriedigende Monster.

Gruß
Hanna
 
M

MichaelKuss

Gast
Schließe mich Hanna an

Ja, ich schließe mich Hanna an. Die Geschichte hat gute Ansätze, aber man könnte mehr aus ihr heraus holen. Auch "Gutmenschen" zweifeln, ringen mit sich, wägen die Meinungen ab, finden erst am Ende eines "Kampfes mit sich selbst" zur Erkenntnis. Trotzdem: Der letzte Satz, der Mumpf so irritiert, hat für mich große Aussagekraft. Ob Huren oder andere Underdogs: sie blicken erstaunt auf, wenn sie wie Menschen behandelt werden. Ich hätte den Schluss und die Überraschung der Hure etwas anders gestaltet, um eine Pointe daraus zu machen: Zum Beispiel hätte die Frau dem Wahlhelfer ein "ungewohnt warmes Lächeln, das sie sonst keinem Freier schenkt, dem Jonathan rüberschicken können, fast wie eine Einladung, ein schüchternes Dankeschön, obwohl Männer sonst nur Arschtritte verdienen. Aber hier, bei dieser Begegnung, bei dieser unbeholfenen und zugleich mutigen Solidarität, legt die Hure ihr kaltes Standardgeschäftslächeln ab und
l ä c h e l t mit den Augen". Na ja, so in dieser Richtung...

meint Michael
 
S

Saurau

Gast
schade, dass unsere kleine farm nicht mehr produziert wird. du könntest dort direkt als drehbuchautor anfangen. allerdings müsstest du eine stimme aus dem off sprechen lassen, damit der zuseher diverse zuckungen nicht etwa falsch deutet. die waltons gibts auch nicht mehr - bleibt nur noch die himmlische familie.

genug des sarkasmus. du hast die geschichte sicher edel gemeint. dieses motiv drängt sich dem leser überdeutlich auf. versuche, stimmung deskriptiv zu erzeugen, indem du den leser sehen lässt, was passiert und er sich sein eigenes urteil bilden kann. und nimm die moralkeule heraus, die kommt einem fallhammer gleich. http://de.wikipedia.org/wiki/Dampfhammer

alles gute,
daniel
 



 
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