Erst sitze ich am See, dann gehe ich woanders hin.

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nachtsicht

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Der schwarze See zittert im Dunkeln. Ich schließe meine Augen um mich zu konzentrieren, es gelingt mir trotzdem nicht, etwas zu empfinden. Nur die Kälte. Auf dem Steg, nachts, allein, an einem Freitag. Man könnte weggehen, in die Stadt. Feiern, nur weiß ich nicht was. Es ist im Grunde gar nicht so verkehrt, niemanden mehr zu kennen. Diesen Gedanken jedoch kenne ich schon länger, vielleicht hat er mich gerettet, vielleicht auch dazu beigetragen, dass ich kein Bedürfnis nach Nähe in mir finde. Man kann einfach abwarten, den Rest erledigt die Vergänglichkeit. Essen und trinken, scheißen und pissen, schlafen und wachsein ewig im Wechsel. Die Frage nach dem Warum ist zu naiv.

Seit ein paar Tagen kein Orgasmus, meine Fantasie ist tot, ich habe alles durch. Hinter dem Horizont ist die Sonne vergraben und nach wenigen Zügen wird mich die letzte Zigarette verlassen, es ist gewiss auch ohne auszuhalten. Schweigen. In solchen Momenten gibt es keine Angst, alles ist in seiner Ordnung. Ganz nah vor mir treibt ein Fisch auf dem Wasser, wahrscheinlich wurde er von einem größeren angegriffen, seine hintere Hälfte ist zerfleischt, eher zerfischt, einige Organe sind erkennbar, aber nicht mehr benennbar. Ein Artgenosse schwimmt aufgeregt um ihn herum, möglich, dass es ein guter Bekannter war. Ich werfe den Zigarettenstummel ins Wasser und bilde mir ein kurzes Zischen ein, das tote Tier habe ich verfehlt.

Auf dem Weg zurück ins Haus zertrete ich ein paar Blumen, nichts passiert. Nichts passiert, denke ich noch mal, weil mir nichts anderes einfällt. Ohne Zuschauer konnte ich nie einen Grund dafür finden, beim Laufen meine Arme selbst zu bewegen, wozu soll das gut sein. Sie hängen genauso traurig und nutzlos herunter wie mein Schwanz. Mittlerweile ein Reservist der Sperma-Armee, er könnte genauso gut an einem Baum kleben oder an Rainer Calmund, nur müsste ich mich dann eben hinsetzen beim Pissen.

Den größten Teil meines Lebens verbrachte ich auf der Jagd nach den modischsten Trends und der trendigsten Mode. Mein Feldstecher die Zeitschriften, mein Gewehr das Geld. Was ich davon habe? Beachtlich viele CDs zum Beispiel, ohne mich erinnern zu können, welche von denen man gut finden soll, ich selbst mag Musik nicht besonders. Das war im Grunde auch nie ein Problem, der Tausch (das Zurückstellen) eigener, sowieso ständig fluktuierender Meinungen gegen gesellschaftliche Beförderung ist kein schlechter. Das ist ja der Sinn von Meinungen: da sie sowieso keinen Anspruch auf Wahrheit haben, sondern einzig die Komplexität erträglich machen sollen durch oft idiotische Verallgemeinerungen und Verzerrungen, muss das einzige Kriterium für die Auswahl eigener Ansichten der Nutzen für das eigene Leben sein. In dem Fall, dass etwas mit Ernsthaftigkeit behauptet wird, macht man sich so lange über einen Ausspruch lustig, bis er derartig verclownt jeden Restwert verliert.

Auf diese Weise fiel es mir nicht schwer, breite Stimmungsschwankungen mit der Walze der Belanglosigkeitszerredung zusammenzupressen zu einem neutralen, sorglosen Grundgefühl. Große Begeisterungen, große Qualen und großer Einsatz für irgend etwas wurden als Peinlichkeiten verworfen, Emotion und Standpunkt bietet Angriffsfläche, ich wollte unanfechtbar sein, über den Dingen stehen. Heute stehe ich neben Dingen, neben mir, denn die Walze kam nie zum stehen. Angetrieben von der Angst, ausgelacht werden zu können hat sie alles zerstört und eine Öde hinterlassen, im Inneren und um mich herum ist es sehr still geworden.

Schlüssel rein, Schlüssel drehen, Tür auf, Haus betreten. Erschöpft läuft mein Körper auf die Couch zu und setzt sich vor den Fernseher, ich habe nichts dagegen. Erst nach über einer Stunde bemerke ich, dass er nicht angeschalten ist, daran hat meine Gewohnheit dieses Mal nicht gedacht. Auf dem Tisch liegen alte, bröselige Kekse, aber die kann man ja immer essen. Zwei davon in den Mund, sie schmecken kaum, wahrscheinlich haben sie das auch nie, na ja es sind bloß Kekse, da ist es egal. Blick nach rechts, Blick nach links, nichts bietet sich an, was die Stunden bis zum Einschlafen überbrücken könnte. Doch noch in die Stadt? Ja. Auch wenn keine Entscheidung wirklich von Bedeutung ist, so muss man manchmal “so tun als ob“ und Strukturen schaffen, denn Chaos wühlt auf und das ist bekanntlich für gar nichts gut.

Also wieder heraustreten, Tür zu, Schlüssel rein, Schlüssel drehen. Der Taxifahrer grüßt murmelnd und lässt erahnen wie viele Fahrten er diese Nacht hinter sich gebracht hat, zu viele jedenfalls, um Ruhe bewahren zu können. Wo ich hin will möchte er wissen und ich auch. Da ihm die Antwort “in die Stadt” zu unkonkret ist, stellt er die gleiche Frage einfach noch mal, allerdings wesentlich erboster. Sein Gesicht verzieht sich so stark, dass die Brille fast herunter fällt. “Weberplatz” sage ich, er nickt, setzt den Zähler an und wir fahren los. “Wir”, fällt mir dabei auf, habe ich seit Monaten nicht mehr benutzt, schade dass es jetzt gedanklich mit einem unangenehmen Taxifahrer entjungfert wurde. Meine Augen richten sich auf ein schwarzes Gemisch hinter dem Beifahrerfenster.
1. WIR gibt es nicht, denn unsere Körper sind getrennt, vorrübergehende neuronale Assoziationen zwischen ICH und einem anderen Menschen existieren nur im Kopf, sie sind nicht zwischen UNS messbar sondern bloßer Ausdruck des Bedürfnisses eines Einzelnen mit seinen nach und nach verkümmernden Organen nicht allein auskommen zu müssen
2. WIR gibt es, denn nach dem Sterben zerfallen unsere Körper und vermischen sich ununterscheidbar (entweder direkt im Massengrab, oder indirekt ... die Kreisläufe der Natur)
3. Aus 1 und 2 folgt: WIR leben und sterben allein und sind zusammen tot.
“Was reden Sie denn für Mist?” höre ich meinen Chauffeur raunzen, wenn man oft mit sich selbst spricht kann sowas vorkommen. Er stellt das Radio lauter, ich das Nachdenken ein. 30 Minuten später ist es kurz nach 2.00 Uhr, ich werde ihn sicher nie wieder sehen, sage aber trotzdem etwas ähnlich klingendes.

Weberplatz. Vereinzelte Menschengruppen laufen zäh aus verschiedenen Bars, meine Entscheidung fällt auf das “Hotel Seeblick” (es gibt überhaupt kein Gewässer in der Nähe) mit der Sicherheit, auf nichts blicken zu können, höchstens zu tief in etwas, und zwar in ein Glas. Die Zeit bis zur Bestellung vertreiben mir zwei Männer am Nebentisch in bunten Hemden, Gesprächsthema: ein Bekannter “sitze” weil er sein Mindestalter für die Geschlechtspartnerwahl zu weit herunter geschraubt hätte, noch dazu sei es die Tochter einer Nachbarin gewesen, vielleicht auch der Sohn, die beiden Weintrinker reden stets von einem “Kind”. Ein Kellner kommt, ich bin bedient. Schluck. Schluck. Stopp. Obwohl sich “Hotel Seeblick” weder als gewöhnungsbedürftig, noch gewöhnlich oder bedürftig herausstellt, ist es mir ebenso fremd wie die Kleidungsart meiner Tischnachbarn, im übrigen sprechen diese nach wie vor von dem “widerlichen Vorfall”. Dabei schmücken sie ihn bildlich bis ins Detail aus, ich vermute harte Schwänze unter ihrer Tischdecke, trotz lockerer Urlaubsoptik traut sich keiner verdeckt Hand anzulegen, und um nicht in Versuchung zu geraten, klammern sich alle zwanzig Finger an zwei halbleeren Gläsern fest. “Ja dann hat er sie gelockt mit ...” Bitte nicht mit Süßigkeiten, dass wäre zu klischiert und ruft das gleiche “Oh nein wie bescheuert” Gefühl herbei wie die verlässlich stürzenden, vom Mörder verfolgten Frauen in Horrorfilmen. Durchatmen, es waren keine Süßigkeiten, sondern die Überredungskünste eines “Hilfebenötigenden“. Keller, Schlag, Knebel. Schnitt.

Vor mir liegt die Getränkekarte geöffnet, meine Wahl: Sex on the beach, bitte. Wo schon Seeblick versprochen wird, sollte das ja wohl möglich sein, anstelle dessen gibt es einen gleichnamigen Cocktail. Prost. “Zwei Männer, die gern dabei gewesen wären” denke ich, ihre Augen leuchten hinter der Maske der Anklage. Womöglich kommt ihr irgendwann zu eurer Chance, glücklich, Freunde, wird euch das auch nicht machen. Sex on the beach with a child.

Ich werfe mein Glas um und gehe hinaus, ich bin nun sehr müde. “Die Welt dreht sich zu schnell, so dass ihr schlecht wird“, kommt es mir hoch, “vielleicht kotzt sie deswegen Menschen aus wie diese Männer und mich“.
 

Lemma

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Hallo nachtsicht.

Ich habe jetzt zwei deiner Texte gelesen. Du schreibst gut, ehrlich und radikal. Dass es erschreckt und mich als Leser auch gleich irgendwie kalt werden lässt, gefällt mir; erinnert mich ein bißchen an Bret Easton Ellis. Man fühlt sich sozusagen selber "auf den Schwanz getreten", weil man es kennt, auch wenn man es sich nicht eingestehen will.

Herzliche Grüße,

Lemma.
 

nachtsicht

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Danke. Ich frage mich, ob der letzte Teil des Textes, der Abschnitt in der Bar, noch zu moralisierend ist, wenn es so wäre, würde ich den erhobenen Zeigefinger gern absägen.

Was sagt ihr dazu?
 

Lemma

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Zeigefinger absägen

Ich habe jetzt eine Weile über deine Frage nachgedacht.
Eigentlich empfinde ich den Schluss nicht als übermäßig moralisierend. Der Text klagt zwar an, ist aber keine Moralpredigt, die dem Leser die ach so schlechte Welt vor Augen halten will. Du beschreibst ja nur, die Übelkeit kommt mir da von ganz allein.

Das einzige, was mich am Schluss ein bißchen stört, ist das "Ich werfe mein Glas um". Es ist mir ein wenig zu pathetisch. Aber das ist Ansichtssache.

Die besten Grüße.

Lemma
 



 
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