Erstes Märchen: Von dem kleinen Jungen und seinem Großvater

VikSo

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Erstes Märchen: Von dem kleinen Jungen und seinem Großvater

Es war einmal...
Kennen Sie Märchen? Aschenputtel? Froschkönig? Gut. Dann werden Sie verstehen, was ich Ihnen zu erzählen gedenke.
Was braucht ein Märchen? Nun, zuerst einmal einen Helden oder eine Heldin. Sodann einen Bösewicht. Ein Abenteuer. Und natürlich etwas Magie. Aber da ist noch eine Sache, auf die kein Märchen verzichten kann, die es existentiell nötig hat; nämlich einen, der es erzählt. Und da komme ich ins Spiel. Das ist meine Funktion in dieser Geschichte. Ich kenne seine Figuren in- und auswendig. Sie sind meine besten Freunde. Und ich allein kenne das Märchen vom Anfang bis zum Ende. In sorgsamer Arbeit habe ich es mir immer wieder erzählen lassen von allen, die daran beteiligt waren. Jede dieser Berichte war ein wenig anders, denn jede Figur kennt natürlich nur ihren Teil des Märchens. Ich bin die Person, bei der alle Fäden zusammen laufen. Ich bin der Erzähler und verantwortlich für diese Geschichte. Denn ich hüte sie und gebe sie weiter an alle, die sie hören wollen. So wie jetzt an Sie, meine geschätzten Zuhörer.
Und nun, lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Wie beginnt es doch gleich? Richtig: Es war einmal...
Es war einmal ein kleiner Junge, der liebte seinen Großvater abgöttisch und der Großvater ihn. Der Knabe hörte auf den Namen Kai. Die Eltern hatten ihm diesen Namen nach des Vaters Vater gegeben und der – so behauptete er jedenfalls – führte seinen Namen auf den Kai zurück, der einst von der Schneekönigin entführt und von dem Mädchen Gerda befreit worden war. Die Eltern lächelten freilich über diesen Scherz. Der kleine Kai aber glaubte seinem Großvater jedes Wort.
Jeden Sonntag, wenn die Eltern in der Kirche waren, brachten sie Kai zu seinem Großvater. Das war für den Kleinen das wichtigste Ereignis der ganzen Woche. Dann setzte der Großvater einen heißen Kakao auf oder brachte, je nach Jahreszeit, eine kühle Limonade. Er ließ sich in seinem hohen Lehnsessel nieder, während der Junge zu seinen Füßen Platz nahm. Und plötzlich war da in seinen Händen das große Märchenbuch. Es hatte schon dem Großvater vom Großvater des Großvaters gehört. Der Einband war aus Schweinsleder und das Papier so brüchig, dass man die Seiten ganz langsam und sehr sanft umblättern musste. Strich man darüber, so war es, als streichele man die alte, faltige Wange des Großvaters und es stieg einem ein Geruch in die Nase von Winterabenden in einer warmen Stube, von geheimen Geschichten und von kindlicher Phantasie. Dieses Buch legte sich der Großvater stets auf den Schoß, sodass der Junge von unten nicht hinein sehen konnte. Trotzdem gelang es Kai, hin und wieder einen Blick auf eine Seite zu erhaschen. Doch was er sah, verstand er nicht. Die Blätter waren leer, eines wie das andere. Wie groß war sein Erstaunen dann, wenn aus des Großvaters Mund, sobald er einen bestimmten Teil aufgeschlagen, unleugbar dieselben Worte kamen, die der kleine Kai schon so oft gehört. Der Kleine erkannte jede Silbe wieder – Sie waren seine Begleiter von Geburt an. Es war, als schaue der Großvater nicht auf das Buch, sondern in die Seiten hinein, um zu sehen, was anderen verborgen blieb.
Doch Kai hatte nie viel Zeit über dieses Rätsel nachzudenken, denn schon woben die Sätze ein unsichtbares Netz um ihn und drangen in seinen Geist, um ihn die Welten erkennen zu lassen, von denen sie gekommen und über die sie berichteten. Ich höre diese Worte, als säße der Großvater neben mir und immer war dies Kais liebste Geschichte:

Es war einmal, vorzeiten, als die Erde nur wenige hundert Jahre alt war – versteh, mein Kleiner, das war die Kindheit der Welt – da bemerkten einige Geschöpfe der Erde, dass sie zwar weder Pflanze noch Tier, aber auch keine Menschen waren. Da gab es die einen, die verstanden es mehr als jeder andere, auf der Erde und in die Erde zu bauen. Ihre Tunnel gruben sie tiefer, als irgendein Mensch sich vorwagte und wenn sie einige hundert Meter tief unter Tage waren, fühlten sie sich erst richtig wohl. Sie förderten alles, was sie dort fanden, Kohle und Öl genauso wie Diamanten und Edelsteine. So tief gruben sie sich in den Boden, bis sie auf die innerirdischen Höhlen stießen, die sich dort befinden. Dort gibt es glasklare Seen und Quellen. Die Bäume wachsen aus der Decke; das sind die Zwillinge der Bäume auf der Oberfläche. Sie teilen sie die gleichen Wurzeln. Nur wachsen die einen nach oben zur Sonne hin, die anderen nach unten zum Erdkern. In diesen Höhlen leben auch tausend verschiedene Arten von Käfern, Würmern, Schlangen und Maulwürfen. Das ist das Vieh der Untererde und die Zwerge – so nannten sich die Geschöpfe, die sich bis hierher gegraben hatten – erlernten ihre Sprache, sodass sie ihnen befehlen konnten wie einem gehorsamen Hund.
Es gab aber auch andere Wesen, die zog es in die luftigen Höhen der Berge. Ihre Haut schien unempfindlich gegen Regen, Schnee und Kälte. Im Gegenteil: Erst wenn die Winde am stärksten wehten, wenn sie Blätter und Zweige zum Rauschen und die Schneeflocken zum Tanzen brachten, dann lebten diese Wesen erst so recht auf. Dann verließen sie ihr Tagwerk, um dem Gesang des Sturmes zu lauschen und nach ihm zu tanzen. Manch einer berichtet – ob es wahr ist, kann ich dir nicht sagen – dass der Wind sie empor hob und sie auf seinem kalten Atem dahin flogen, bis sie des Tanzens müde waren und dem Sturm Einhalt geboten. Die Menschen gaben ihnen darum zuerst den Namen Windtänzer. Sie selbst aber nannten sich, nach einer heute längst vergessenen Sprache, „Feen“.
Noch zwei weitere Völker gab es. Die führten sich auf ein Paar Zwillinge zurück, deren Namen heute niemand mehr kennt. Die Geschwister, heißt es, hätten einst den Wald gegen die rodenden und brandschatzenden Menschen verteidigt. Dafür bot der Wald ihnen und ihren Nachkommen Schutz und gehorchte ihnen wie der treueste Diener. Das eine Geschlecht, das auf den Bruder zurück ging, waren die Kobolde. Sie verstanden sich auf die Sprache der Tiere und lebten in Dachsbauten und Bärenhöhlen. Sie sammelten auch Münzen und allerlei Schmuck und Geld, das Menschen auf Wanderungen und auf der Jagd verloren. Das legten sie in tönerne Töpfe und versteckten sie unter der Wache ihrer tierischen Freunde. Wenn nun ein Armer besonders elend dran war, dann konnte es geschehen, wenn er ein gutes Herz hatte, dass er auf einmal ein paar Münzen unter der Fußmatte oder in einem Topf auf dem Herd fand. Sie waren aber auch zu Scherzen aufgelegt, diese Kobolde. Sahen sie einen Jäger im Wald, der es auf ihre Schützlinge angelegt hatte, dann murmelten sie ein Sprüchlein und plötzlich begann die Kugel anstatt auf ihr Ziel zu, in Kreisen durch die Luft zu fliegen und kroch schließlich zurück in den Lauf oder schoss gar, wenn es sich um einen allzu unangenehmen Zeitgenossen handelte, in die Pobacken des Jägers.
Die Nachkommen der Schwester und so die Cousins und Cousinen der Kobolde, nannten sich „Elfen“. Sie waren die Hüter der Bäume und anderen Pflanzen. Auch aufs Weben und Nähen verstanden sie sich sehr kunstfertig. Andere waren bewandert in der Heilkunst und wirkten als Hebammen für Zwerge, Feen, Kobolde, Tiere und Menschen. Der Wald war ihr Garten, den sie pflanzten und pflegten und den sie vor bösen Angriffen schützten. Ihre Behausung fanden sie in den hohen Baumwipfeln oder unter dichten Büschen, die sie mit ihrem dichten Blattwerk vor den Unbilden des Wetters bewahrten.
Diese vier Völker hätten friedlich miteinander gelebt, hätte es nicht das fünfte, das der Menschen gegeben. Diese nutzten die Fähigkeiten der anderen Völker. Sie erhielten Edelsteine von den Zwergen, ließen sich von den Feen vor Wind und Frost bewahren, profitierten von den Kenntnissen der Kobolde und Elfen. Mit der Zeit verbreiteten sich Gerüchte unter von Menschen über ihre gütigen Helfer. Manche sprachen von überirdischen Mächten, die denen zu Diensten waren. Andere glaubten, die Zwerge und Elfen, Kobolde und Feen selbst seien magische Wesen und nannten sie darum die „magischen Völker“. Böse, neidische Zungen behaupteten sogar, sie seien einen Bund mit teuflischen Mächten eingegangen. Doch gleich, welcher Meinung sie anhingen – je mehr die Menschen von der außergewöhnlichen Macht ihrer Helfer überzeugt waren, desto stärker trachteten sie danach, diese Macht in ihre Hände zu bringen. Plötzlich verschwanden Elfen bei ihren Besuchen bei den Kranken. Kobolde kehrten verwirrt und von Pfeilen und Kugeln verletzt zu ihren Familien zurück. Ganze Scharen von Zwergenkindern verschwanden von den Eingängen zu den unterirdischen Tunneln und es ging das Gerücht, man hätte sie später in menschlichen Häusern als Diener wieder gesehen, wo sie Edelsteine bearbeiteten und schlimmer gehalten wurden als der niedrigste Sklave. So ging es, bis jeder Mensch ein wenig Magie unter seine Kontrolle gebracht hatte. Doch auch dass reichte manchen noch nicht. Bald wollte Klaus mehr Macht besitzen als Jakob und dieser wieder doppelt so viel wie Hans oder Franz. Was nicht durch List zu haben war, wurde durch Gewalt errungen. So entstanden die ersten Kriege. Die Menschen hätten sich auf diese Weise schnell gegenseitig von dieser Welt ausgerottet. Da griffen auch die magischen Völker zu den Waffen, um die Menschen vor sich selbst zu retten. Gemeinsam zogen sie gegen die Städte und Dörfer der Menschen und befreiten dort ihre entführten Verwandten. Ob sich die Menschen nicht wehrten? Natürlich taten sie es. Doch die Kriegsmacht der Magischen, einmal entfesselt, war schrecklicher als jede menschliche Waffe sein konnte, denn ihnen standen Tiere und Pflanzen, die Winde, ja die Erde selbst bei. Tausende Tote bedeckten den Boden, die Gräber waren auf Jahre gesättigt mit dem Blut gefallener Soldaten, Frauen, Kinder und Greise.
Die Magie aber schien danach von der Erde verschwunden zu sein. Manche erzählen, die vier Völker hätten sich von dieser Welt zurück gezogen und wären in eine andere gezogen auf der Suche nach Frieden und Freiheit. Andere berichten, sie lebten immer noch auf der Welt, verborgen in der tiefsten Erde, auf den höchsten Bergen und in den unzugänglichsten Wäldern. Nur ganz wenige sind es – und ihre Worte werden kaum geglaubt – die behaupten, die Magischen wohnten immer noch unter uns. Verkleidet als Menschen leben sie wie Menschen und verbergen ihre Fähigkeiten. Nur hin und wieder, wenn einer besonders aufmerksam hinschaut, kann er einen von ihnen vielleicht mit einem Hund sprechen sehen, im Takt des Windes tanzen oder den Würmern im Boden gebieten.

Der Großvater sprach es nie aus, doch wusste Kai immer, dass es die letzte Geschichte war, der er glaubte. Lange Jahre hing auch der Junge selbst dieser an. Doch irgendwann erkranken alle Kinder an der gleichen Krankheit. Sie schadet ihnen nicht äußerlich, deswegen bleibt sie für eine Zeit unbemerkt. Was sie ihnen raubt, ist ihr kindlicher Glauben, das Vertrauen auf das Unsichtbare. Zurück bleibt nur die kalte, trockene Wirklichkeit. Diese Krankheit heißt „Erwachsenwerden“.
Auch Kai erwischte sie einmal. Und so besuchte er den Großvater immer seltener. Der Platz zu Großvaters Füßen blieb leer. Das Märchenbuch musste auf andere Zuhörer harren. Und wenn sie nicht gestorben sind... Aber Menschen sterben. Auch der Großvater starb. Und damit endet ein Märchen. Ein neues beginnt...
 

flammarion

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Hallo VikSo, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


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