Erwachsen werden

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Neubeginn

Eisige Luft zwickt in die Nase, der Wind bläst dünn, aber stetig und zieht unangenehm durch alle Ritzen der dicken Winterjacke und findet seinen Weg in die Hosenbeine hinein, so dass es eine Gänsehaut an den Beinen gibt.

Der Tag wirkt weiß, was sich seltsam anhört. Aber an diesem Sonntagmorgen Ende November wirkt alles hell und trist und farblos, weiß eben. Es ist ganz still, kein Mensch unterwegs, nur vereinzelt fährt ein Auto an der Bushaltestelle vorbei, an der ich auf den Bus warte.

Jetzt biegt er um die Ecke, fast lautlos, anscheinend leitet die kalte Luft die Geräusche nicht gut. Ich steige in den Bus, bin der einzige Fahrgast. Zwei, drei, vier Stationen, dann steige ich aus.

Mein Weg führt mich weiter durch die menschenleere Einkaufsstraße, vorbei an geschlossenen Läden und schließlich durch eine Fußgängerunterführung unter den S-Bahn Gleisen hindurch. Auch hier ist kein Mensch zu sehen. Die Unterführung ist dunkel, ein dunkler, zugiger Tunnel. Es gibt hier einen Kiosk, der Tag und Nacht geöffnet ist, aber es ist noch kein Kunde da.

Gleich daneben ist noch ein Blumenladen, der erst später am Vormittag öffnet. Alles wirkt trostlos, öde und erzeugt ein Gefühl großer Einsamkeit. Meine Schritte hallen laut in dem Tunnel, ich gehe schnell hindurch, an den beiden verwaisten Geschäften vorbei, denn ich bin in Eile.

Als Konfirmandin im zweiten Jahr gehe ich zusätzlich zum wöchentlichen Konfirmationsunterricht jeden Sonntag zum Gottesdienst. Ich gehe immer allein in die Kirche, meine Familie hat keine Zeit und Freunde habe ich nicht, die mich begleiten würden. In der Kirche setzte ich mich dann auch ganz nach hinten, in die letzte Bank, so dass mich noch gerade die Frau Pastorin sehen kann.

Mit den Mitkonfirmanden habe ich keinen Kontakt, sie sitzen vorne in der Kirche und albern herum. Aber ich gehöre nicht dazu, ich gehöre niemals dazu, in der Schule nicht und auch hier nicht. Die Orgel dröhnt über meinem Kopf und die Besucher des Gottesdienstes stimmen mit ihrem Gesang ein. Ich halte das Liederbuch in der Hand, aber ich brauche es nicht aufzuschlagen. Ich kenne alle Lieder, die regelmäßig im Gottesdienst gesungen werden, auswendig. Ich singe die Liedertexte leise mit. Die Frau Pastorin redet, aber ich höre kaum hin. Dann ist der Gottesdienst vorbei, die Frau Pastorin geht durch das Kirchenschiff zum Ausgang, um die Besucher des Gottesdienstes zu verabschieden. Ich warte, bis alle an mir vorbeigezogen sind und trotte dann der Scharr der Kirchgänger langsam hinterher. Am Ausgang gebe ich der Frau Pastorin die Hand und schlüpfe schnell aus dem Gotteshaus, um mich auf den Heimweg zu machen.

Die Luft ist immer noch kalt und schneidend. Der Himmel zeigt ein milchiges, helles blau und die Sonne steht als kalte weiße Scheibe über dem Horizont.

Ich betrete die Tunnelunterführung und ziehe die Kapuze meiner Jacke enger, weil die Zugluft mir eisig entgegenschlägt. Aber der Tunnel ist nicht mehr menschenleer, im Kiosk haben sich die Stammkunden eingefunden und lachen und erzählen sich laut. Im Blumenladen herrscht richtig Betrieb, bestimmt sechs oder sieben Kunden warten auf Bedienung.
Die Ladeninhaberin ist schon älter, mit Ihrem fröhlichen Lachen, einem netten Wort für Jedermann passt sie eigentlich gar nicht in so einen dunklen Tunnel. Sie trägt einen dicken Rollkragenpullover und eine grüne Gärtnerschürze und packt geschäftig die gewünschten Blumen in Seidenpapier ein. Dabei schwatzt sie ununterbrochen. Ihre freundliche Stimme hallt durch den Tunnel und ich muss einfach stehen bleiben, um mir die Auslagen vor dem Geschäft anzuschauen. Da erscheint es mir, als wäre ich gerade erst erwacht.
Hier liegen auf ausgelegten Kartons und aufgestellten Holzkisten Adventskränze. Mit vollem Schmuck, wundervolle Tanne in saftigem Grün mit weißen oder roten Kerzen. Geschmückt mit liebevoll gebundenen Schleifen, mit kleinen Fliegenpilzen und goldenen Sternchen verziert. Sie erscheinen mir wunderschön. Da kamen mir die Predigtworte ins Gedächtnis, heute ist der erste Advent.

Es hämmert in meinem Kopf, der erste Advent, der erste Advent. Zuhause war in diesem Jahr noch nichts vorbereitet, kein Adventskranz, keine Kerzen, gar nichts. Meine Mutter ist wohl nicht dazu gekommen. Ich überlege, krame dann in meinen Taschen. Ja, ich habe genug Geld dabei. Ich werde aufgeregt, ich werde einen Adventskranz kaufen, werde heute Nachmittag die erste Kerze anzünden, wir werden alle am Kaffeetisch sitzen und zusammen Kuchen essen.

Mein Gefühl der Einsamkeit ist wie weggeblasen. Die Frau aus dem Laden kommt heraus, lacht mich freundlich an und fragt nach meinen Wünschen. Ich suche einen Adventskranz aus, mit dicken roten Kerzen und goldenen Schleifen, bezahle und trage den Adventskranz wie einen wertvollen Schatz vorsichtig zur Bushaltestelle. Mein Herz klopft wie wild, ich denke an die zurückliegenden Monate seit dem letzten Weihnachtsfest. Die Eltern hatten seit Monaten keine Zeit mehr für mich gehabt, meine ältere Schwester war ausgezogen, wohl zu einem unpassenden Partner, es hatte viel Streit und Tränen gegeben. Viele Gespräche zwischen meiner Mutter und meiner Schwester, von denen ich nichts wissen sollte, viele Geheimnisse, die ich nicht verstand. Unserer älterer Bruder war weit weg gezogen, auch dies hatte meinen Eltern wohl viel Kummer bereitet, was ich nicht verstehen konnte, da die Geschwister doch schon lange erwachsen waren. Meine Gedanken drehen sich um die häuslichen Probleme, während meine Hände das Päckchen mit dem Adventskranz umklammern. Da endlich kommt der Bus, ich steige ein und male mir aus, wie sich meine Mutter freuen wird.
Sie würde den Adventskranz bewundern und ihn dann an seinen Platz stellen. Es würde wie jedes Jahr werden zur Adventszeit, mit warmem Kerzenschein und lustigen Kaffeerunden. Dann ist meine Haltestelle da, ich hüpfe aus dem Bus und laufe nach Haus. Den eisigen Wind spüre ich nicht mehr. Ich klopfe an die Haustür, eine Klingel haben wir nicht und ich besitze noch keinen Hausschlüssel. Meine Mutter öffnet die Tür, ihr Haar ist wirr, wie an jedem Sonntag, wenn sie kocht. Sie schaut erstaunt auf das in Seidenpapier gepackte Mitbringsel. Ich trete ein, lege das Päckchen auf den Tisch und löse stolz die Verpackung.
Die roten Kerzen kommen zum Vorschein, die grüne leuchtende Tanne, die goldenen Schleifen.

Ich drehe mich zu meiner Mutter um, aber die erwartete Freude zeigt sie nicht. Sie wirkt eher ärgerlich, warum weiß ich nicht. Ich bin verwirrt und versuche zu erklären, dass wir doch noch keinen Adventskranz haben, obwohl heute der erste Advent sei. Aber sie meint nur, dass sie schon noch für einen Adventskranz gesorgt hätte, so wie jedes Jahr. Aber ich weiß, dass das nicht wahr ist, denn es sind keine Kerzen im Haus, die Tanne ist nicht geschnitten und Schmuck für den Adventskranz ist auch nicht vorhanden.

Ich stehe da und weiß nicht, was ich sagen soll. Schließlich stellt meine Mutter den Adventskranz ohne weiteres Wort an seinen Platz auf dem kleinen Tischchen, um dann in der Küche das Essen vorzubereiten. Ich gehe in mein Zimmer, fassungslos und enttäuscht. Draußen scheint die blasse Wintersonne, draußen ist das weiße, kalte Licht. Dünne Schleierwolken ziehen über den Himmel, noch immer ist kaum ein Auto, kein Mensch ist auf der Straße zu sehen. Ich spüre, wie die Kinderzeit verrinnt, wie ich erwachsen werde. Jede Minute scheine ich zu wachsen, werde ich ernsthafter und ruhiger. Ich wehre mich gegen das Gefühl der Enttäuschung und besiege das Gefühl der kindlichen Freude.

Meine Mutter ruft zum Essen, der Tisch ist sonntäglich gedeckt, es gibt Braten und Soße mit Kartoffelklößen und Gemüse. Meine Eltern und ich essen schweigend. Die Geschwister fehlen, es ist nichts mehr wie vorher. Es ist still im Zimmer, nur das Klappern des Bestecks auf den Tellern ist zu hören. Der Raum erscheint mir plötzlich fremd, alles wirkt neu und unbekannt. Ich bin eine Fremde. Die Eltern gehören zusammen, ich gehöre nicht mehr dazu. Ich bin eine Fremde, eine erwachsene Person in einer Familie, zu der ich nicht mehr gehöre, die es so nicht mehr gibt. Mein erwachsenes Ich wird unaufhörlich stärker. Die Entfremdung von den Eltern wird immer mächtiger. Das Essen ist vorbei, ich helfe den Tisch abräumen und gehe in mein Zimmer. Ich schaue wieder aus dem Fenster, die Wolken haben sich verdichtet, der Himmel ist jetzt stahlgrau, die Sonne ist nur noch als matte Scheibe hinter den Wolken zu erahnen. Die Farbe gefällt mir, mein Herz fühlt sich wie Stahl an, ich habe keine Tränen, keine Trauer.

Alles scheint um mich herum zu zerbrechen, scheint zu zerfallen, eine neue Welt entsteht, eine Welt der Stärke, eine Welt der Erwachsenen, eine Welt eigener Entscheidungen, eigener Verantwortung. Spontan verlasse ich mein Zimmer, ziehe die warme Winterjacke an und verlasse das Haus. Ich gehe durch die Straßen, gehe an den Orten der Kindheit vorbei, die plötzlich kleiner, immer kleiner werden. Es dunkelt, in den Gärten funkeln die Lichterketten. In den Fenstern leuchtet Weihnachtsbeleuchtung, Kerzenschimmer ist überall zu sehen. Ich werde immer älter, die Kindheit ist vorbei. Es ist dunkel geworden, ich gehe nach Hause, klopfe energisch an die Tür. Meine Mutter öffnet die Tür, ich trete ein, mein Schritt ist fest und fordernd. Ohne Worte trete ich in das Wohnzimmer, nehme mir die Streichhölzer und entzünde die erste Adventskerze. Die Flamme brennt ruhig und gleichmäßig, die Eltern sitzen schweigend im Wohnzimmer beim Adventskranz, bei meinem Adventskranz. Es duftet intensiv nach Tanne, nach Kerze, nach Weihnachten, nach Vorfreude. Ich setze mich dazu, wir sitzen still beisammen, aber es gibt keine Gemeinsamkeit mehr.

Wir sitzen schweigend und die Zeit vergeht. Unsere Wohnzimmeruhr tickt, die Kerze brennt, ich gehe in die Küche und hole Kaffee für meine Eltern und Kakao für mich. Der Nachmittag vergeht, wir löschen die Kerze. Nichts ist mehr wie zuvor.
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Inselmädchen, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

ThomasStefan

Mitglied
Hallo Inselmädchen
Ja, manchmal sind sind es wenige Tage, oder auch nur Momente, an denen sich alles verändert. Man weiß nicht, was es ist, nur, das es passiert. Das hast du schön eingefangen, wunderbar geschrieben.
In den letzten beiden Absätzen betontst und benenntst du leider immer wieder das Ende der Kinderzeit und den Beginn des Erwachsenwerdens, das solltest du ändern. Dass die Kinderzeit "verrinnt", ist wirklich schön gesagt, das reicht. Danach schilderst du ja die Veränderungen, es liegt auf der Hand, was passiert. Vertraue einfach dem Leser, dass er erkennt: Sie wird erwachsen.
Glückwunsch für deinen schönen Text.
Thomas
 

Tschik

Mitglied
sehr gelungen !
Anfangs störte mich, dass die Farbe weiß mit trist und farblos assoziert wurde.
(Der Tag wirkt weiß, was sich seltsam anhört. Aber an diesem Sonntagmorgen Ende November wirkt alles hell und trist und farblos, weiß eben.)
Am Schluss der Geschichte wird genau diese Beschreibung plausibel.
 



 
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