Erzähle mir von Attila

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Wipfel

Mitglied
Sie stieg durch die lärmende Stadt, rastlos und steif. Ihre Haare waren lang und dünn, einzelne Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Ich sah eine vergessene Alte. Es schien, als wollte das Leben sie nicht ausspucken, als ob sie durch die Mauerschluchten immer wieder eine Ehrenrunde zog. Ich zahlte meinen Kaffee, verließ meinen Posten und lief ihr nach, unauffällig, etwa so, wie ich es in Spionagefilmen gesehen hatte. Sie zog durch die Straßen, durch den Park hinab zum Fluss. Ab und zu blieb sie stehen, hielt ihre Hand über die Augen und schaute gegen das Licht. Irgendwann kam eine Brücke, leicht gekrümmt und alt. Auf der Brücke lehnte sich die Frau an einen Laternenpfahl. Und wieder hielt sie Ausschau, diesmal den Fluss hinab.

Ich ging zu ihr. Erst bemerkte sie mich nicht, ignorierte spielend meine Aufmerksamkeit. Sie wird sich verirrt haben, dachte ich, wird nicht wissen wohin sie gehört. So standen wir eine Weile nebeneinander. Ich, der fieberhaft überlegte, was zu tun sei – und sie. Eine stolze Alte, mit unzähligen Falten im Gesicht und einer schrundigen Haut, die mich an zerfallene Häuser erinnerte, an herabbröckelnden Putz. Irgendwann nahm ich ihre Hand und fragte:

„Wer sind Sie?“

Es musste eine reichlich blöde Frage sein, denn sie tötete mich aus den Augenwinkeln, sagte jedoch kein Wort. Ich versuchte es noch einmal:

“Wie ist Ihr Name? Ich meine, wie heißen Sie? Haben Sie einen Ausweis dabei?“

„Ildikó“, tönte sie leise, „das Hildchen aus Burgund.“

„Ildikó? Hildchen aus Burgund? Ja, was denn nun?“

„Es ist so lange her, wie soll ich das noch wissen? Später haben sie mich Kriemhild genannt, aber so hieß ich in Wirklichkeit nie.“

„Hildchen Ildikó also. Und wo wohnen Sie, Frau Ildikó?“

„Wo ich wohne?“

Sie sah mich lange an, so, als müsste sie überlegen, ob ich würdig sei ihr Geheimnis zu erfahren.

„Wo ich wohne? Was ist das für eine Frage! Auf der Burg natürlich, wo denn sonst?“

„Auf der Burg? Na klar, wo sonst. Nur…“

Ich zögerte einen Augenblick. Konnte ich sie mit der Wahrheit konfrontieren? Ich musste:

„…hier gibt es keine Burg.“

„Was du nicht sagst, Kleiner. Keine Burg? Das ich nicht lache! Sag bloß, du kennst sie nicht, die Etzelsburg. Und gestern erst war unsere Hochzeit!“

Etzelsburg? Hatte ich irgendwann schon Mal gehört. Ach Gott, das war doch die Geschichte mit Attila, dem Hunnenfürst.

Plötzlich begann sie zu zittern, aus tiefen Höhlen quoll ihre Angst.

"Ich fürchte mich, fürchte mich vor jeder Nacht.“

„Warum?“, wollte ich jetzt wissen.

„Ich bin Ildiko, Attilas Braut.“

„Moment“, stoppte ich sie, „Sie denken nur, dass sie Ildiko sind. Ihr Name ist wahrscheinlich Erna Schulze oder so ähnlich. Sieht mir ganz nach einer fortgeschrittenen Klaustrophobie aus, das ist alles.“

„Jede Nacht erlebe ich es wieder - unsere Hochzeitsnacht. Und dabei war zunächst alles, wie es sein sollte“, erzählte sie weiter, ohne sich auch nur einen Deut um meine gelungene Anamnese zu kümmern. „Du weißt schon was ich meine. Attila vibrierte in mir herum, so, wie es sich für einen König wohl gehört. Dass ich nicht seine Erste war, merkte ich gleich. Ich dagegen war noch Jungfrau. Plötzlich schrie er auf! Einen Moment schien es mir, auch das gehört dazu, zu solch einer Nacht. Doch dann sah ich Rot, nur noch Rot: Blut spritzte aus ihm: aus seinen Ohren, seiner Nase, seinem Mund. Floss wie ein Bach, erst über mich, dann übers Bett und weiter auf den Boden. Wie ein schwerer Sack blieb er auf mir liegen und ist jämmerlich krepiert.“

Die Alte machte eine lange Pause.

„Aus der Burg haben sie mich geworfen, dachten, ich hätte ihn zur Strecke gebracht. Was für ein Schwachsinn. Als ob ich jemanden töten könnte! Seither irre ich durch die Zeit und suche nach ihm. Mein geliebter Attila", begann sie zu schluchzen, "mein Geliebter ist nicht tot. Nur fort gegangen ist er, tot jedenfalls ist er nicht. Ich bin es ja auch nicht, lebe noch…"

Einen Ausweis fand ich nicht bei ihr. Ich telefonierte mit den Altersheimen unserer Stadt, dann mit den Krankenhäusern. Zum Schluss sogar mit der Polizei. Niemandem gehörte sie, nirgends wurde sie gesucht. Was also sollte ich mit ihr machen? Ich nahm Ildikó zu mir. Seither bin ich zu etwas nütze. Ob sie noch auf ihn wartet? Ich weiß es nicht. Sie lebt in der Erinnerung, vielleicht findet sie ihn dort. Und manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann oder mir langweilig ist, sage ich zu ihr:

„Komm, mein Hildchen aus Burgund, erzähle mir die alten Sachen. Erzähle mir von Attila.“




Anmerkung:
Ildikó (deutsch: Hildchen, später wurde sie auch Kriemhild genannt) war die Tochter eines burgundischen Fürsten. Sie wurde im Jahre 453 mit Attila, dem König der Hunnen, verheiratet, der noch in der Hochzeitsnacht an einem Blutsturz verstarb. Über Ildikos Verbleib nach diesem Ereignis war bis heute nichts bekannt.
 

Retep

Mitglied
Morgen Wipfel,

in deinem Text sucht eine verwirrte alte Frau nach ihrem Geliebten, Attila, der in der Hochzeitsnacht verstarb.Wo sie herkommt bleibt rätselhaft.

Ein Dialog zeigt die Gedankengänge der Alten, bildhaft beschreibst du die Situation.

Zum Text:

Sie stieg durch die lärmende Stadt
?

verließ meinen Posten
?

wird nicht wissen [blue],[/blue] wohin sie gehört
Eine stolze Alte, mit unzähligen Falten im Gesicht und einer schrundigen Haut, die mich an zerfallene Häuser erinnerte, an herabbröckelnden Putz.
- sehr schön ausgedrückt

„Ildikó“, tönte sie leise
?

„Du weißt schon [blue],[/blue] was ich meine.
Und gestern erst war unsere Hochzeit!“
Seither irre ich durch die Zeit
- ich finde, das widerspricht sich ein wenig

Niemandem gehörte sie
?

Ich nahm Ildikó zu mir. Seither bin ich zu etwas nütze. Ob sie noch auf ihn wartet? Ich weiß es nicht. Sie lebt in der Erinnerung, vielleicht findet sie ihn dort. Und manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann oder mir langweilig ist, sage ich zu ihr:
- "langweilig" streichen ?

„Komm, mein Hildchen aus Burgund, erzähle mir die alten Sachen. Erzähle mir von Attila.“
-ein schöner Schluss

Habe deine Geschichte gerne gelesen, konnte mich einfühlen.

Gruß

Retep
 

Wipfel

Mitglied
Ich sah sie durch die lärmende Stadt steigen, rastlos und steif. Ihre Haare waren lang und dünn, einzelne Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Ich sah eine vergessene Alte. Es schien, als wollte das Leben sie nicht ausspucken, als ob sie durch die Mauerschluchten noch einmal und noch einmal eine Ehrenrunde zog. Ich verließ meinen Posten, lief ihr nach, unauffällig und etwa so, wie ich es in Spionagefilmen gesehen hatte.

Sie zog durch die Straßen, durch den Park hinab zum Fluss. Ab und zu blieb sie stehen, hielt ihre Hand über die Augen und schaute gegen das Licht. Irgendwann kam eine Brücke, leicht gekrümmt und alt. Auf der Brücke lehnte sich die Frau an einen Laternenpfahl. Und wieder hielt sie Ausschau, diesmal den Fluss hinab. Ich ging zu ihr. Erst bemerkte sie mich nicht, ignorierte spielend meine Aufmerksamkeit. Sie wird sich verirrt haben, dachte ich, wird nicht wissen wohin sie gehört.

So standen wir eine Weile nebeneinander, ich, der überlegte was zu tun sei – und sie. Eine stolze Alte, mit unzähligen Falten im Gesicht und einer schrundigen Haut, die mich an zerfallene Häuser erinnerte, an herabbröckelnden Putz. Irgendwann nahm ich ihre Hand und fragte:

„Wer sind sie?“

Es musste eine reichlich blöde Frage sein, denn sie sah mich nur aus den Augenwinkeln an, sagte jedoch kein Wort. Ich versuchte es noch einmal:

“Wie ist Ihr Name? Ich meine, wie heißen Sie? Haben Sie einen Ausweis dabei?“

„Ildikó“, tönte sie leise, „das Hildchen aus Burgund.“

„Ildikó? Hildchen aus Burgund? Ja, was denn nun?“

„Es ist so lange her, wie soll ich das noch wissen? Später haben sie mich Kriemhild genannt, aber so hieß ich in Wirklichkeit nie.“

„Hildchen Ildikó also. Und wo wohnen Sie, Frau Ildikó?“
„Wo ich wohne?“

Sie sah mich lange an, so, als müsste sie überlegen, ob ich würdig sei ihr Geheimnis zu erfahren.

„Wo ich wohne? Was ist das für eine Frage! Auf der Burg natürlich, wo denn sonst?“

„Auf der Burg? Na klar, wo sonst. Nur…“ Ich zögerte einen Augenblick. Konnte ich sie mit der Wahrheit konfrontieren? Ich musste: „…hier gibt es keine Burg.“

„Was du nicht sagst, Kleiner. Keine Burg? Das ich nicht lache! Sag bloß, du kennst sie nicht, die Etzelsburg. Und gestern erst war unsere Hochzeit!“

Etzelsburg? Hatte ich irgendwann schon Mal gehört. Ach Gott, das war doch die Geschichte mit Attila, dem Hunnenfürst.
Plötzlich begann sie zu zittern, aus tiefen Höhlen quoll ihre Angst.

"Ich fürchte mich vor jeder Nacht.“

„Warum?“, wollte ich wissen.

„Ich bin Ildiko, Attilas Braut.“

„Moment“, stoppte ich sie, „Sie denken nur, dass Sie es sind. Sieht mir ganz nach einer fortgeschrittenen Demenz aus“ analysierte ich. „Oder wenigstens eine Megalomanie, das ist alles.“

„In der Hochzeitsnacht“, erzählte sie weiter ohne sich auch nur einen Deut um meine Anamnese zu kümmern, „war alles, wie es sein sollte. Du weißt schon was ich meine. Er stieß in mich, so, wie es sich für einen König wohl gehört. Dass ich nicht seine Erste war, merkte ich gleich. Ich dagegen war noch Jungfrau. Auf einmal schrie er auf und mir schien, auch das gehört dazu. Doch dann sah ich Rot, nur noch Rot: Blut spritzte aus ihm: aus seinen Ohren, seiner Nase, seinem Mund. Floss wie ein Bach, erst über mich, dann übers Bett und weiter auf den Boden. Wie ein schwerer Sack blieb er auf mir liegen und hat sich nicht mehr gerührt.“

Die Alte machte eine lange Pause.

„Mein Geliebter", begann sie zu schluchzen, "mein Geliebter ist nicht tot. Er ist nur fort gegangen, tot ist
er nicht."

Einen Ausweis fand ich bei ihr nicht. Ich telefonierte mit den Altersheimen unserer Stadt, dann mit den Krankenhäusern. Zum Schluss sogar mit der Polizei. Niemandem gehörte sie, nirgends wurde sie gesucht. Was sollte ich mit ihr machen? Ich nahm Ildikó zu mir. Seither bin ich zu etwas nütze. Ob sie noch auf ihn wartet? Ich weiß es nicht. Sie lebt in der Erinnerung, vielleicht findet sie ihn dort. Und manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, sage ich zu ihr: „Komm, mein Hildchen aus Burgund, erzähle mir die alten Sachen. Erzähle mir von Attila.“





Anmerkung:
Ildikó (deutsch: Hildchen, später wurde sie auch Kriemhild genannt) war die Tochter eines burgundischen Fürsten. Sie wurde im Jahre 453 mit Attila, dem König der Hunnen, verheiratet, der noch in der Hochzeitsnacht an einem Blutsturz verstarb. Über Ildikos Verbleib nach diesem Ereignis war bis heute nichts bekannt.
 

Wipfel

Mitglied
Ich sah sie durch die lärmende Stadt steigen, rastlos und steif. Ihre Haare waren lang und dünn, einzelne Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Ich sah eine vergessene Alte. Es schien, als wollte das Leben sie nicht ausspucken, als ob sie durch die Mauerschluchten noch einmal und noch einmal eine Ehrenrunde zog. Ich verließ meinen Posten, lief ihr nach, unauffällig und etwa so, wie ich es in Spionagefilmen gesehen hatte.

Sie zog durch die Straßen, durch den Park hinab zum Fluss. Ab und zu blieb sie stehen, hielt ihre Hand über die Augen und schaute gegen das Licht. Irgendwann kam eine Brücke, leicht gekrümmt und alt. Auf der Brücke lehnte sich die Frau an einen Laternenpfahl. Und wieder hielt sie Ausschau, diesmal den Fluss hinab. Ich ging zu ihr. Erst bemerkte sie mich nicht, ignorierte spielend meine Aufmerksamkeit. Sie wird sich verirrt haben, dachte ich, wird nicht wissen wohin sie gehört.

So standen wir eine Weile nebeneinander, ich, der überlegte was zu tun sei – und sie. Eine stolze Alte, mit unzähligen Falten im Gesicht und einer schrundigen Haut, die mich an zerfallene Häuser erinnerte, an herabbröckelnden Putz. Irgendwann nahm ich ihre Hand und fragte:

„Wer sind sie?“

Es musste eine reichlich blöde Frage sein, denn sie sah mich nur aus den Augenwinkeln an, sagte jedoch kein Wort. Ich versuchte es noch einmal:

“Wie ist Ihr Name? Ich meine, wie heißen Sie? Haben Sie einen Ausweis dabei?“

„Ildikó“, tönte sie leise, „das Hildchen aus Burgund.“

„Ildikó? Hildchen aus Burgund? Ja, was denn nun?“

„Es ist so lange her, wie soll ich das noch wissen? Später haben sie mich Kriemhild genannt, aber so hieß ich in Wirklichkeit nie.“

„Hildchen Ildikó also. Und wo wohnen Sie, Frau Ildikó?“
„Wo ich wohne?“

Sie sah mich lange an, so, als müsste sie überlegen, ob ich würdig sei ihr Geheimnis zu erfahren.

„Wo ich wohne? Was ist das für eine Frage! Auf der Burg natürlich, wo denn sonst?“

„Auf der Burg? Na klar, wo sonst. Nur…“ Ich zögerte einen Augenblick. Konnte ich sie mit der Wahrheit konfrontieren? Ich musste: „…hier gibt es keine Burg.“

„Was du nicht sagst, Kleiner. Keine Burg? Das ich nicht lache! Sag bloß, du kennst sie nicht, die Etzelsburg. Und gestern erst war unsere Hochzeit!“

Etzelsburg? Hatte ich irgendwann schon Mal gehört. Ach Gott, das war doch die Geschichte mit Attila, dem Hunnenfürst.
Plötzlich begann sie zu zittern, aus tiefen Höhlen quoll ihre Angst.

"Ich fürchte mich vor jeder Nacht.“

„Warum?“, wollte ich wissen.

„Ich bin Ildiko, Attilas Braut.“

„Moment“, stoppte ich sie, „Sie denken nur, dass Sie es sind. Sieht mir ganz nach einer fortgeschrittenen Demenz aus“ analysierte ich. „Oder wenigstens eine Megalomanie, das ist alles.“

„In der Hochzeitsnacht“, erzählte sie weiter ohne sich auch nur einen Deut um meine Anamnese zu kümmern, „war alles, wie es sein sollte. Du weißt schon was ich meine. Er stieß in mich, so, wie es sich für einen König wohl gehört. Dass ich nicht seine Erste war, merkte ich gleich. Ich dagegen war noch Jungfrau. Auf einmal schrie er auf und mir schien, auch das gehört dazu. Doch dann sah ich Rot, nur noch Rot: Blut spritzte aus ihm: aus seinen Ohren, seiner Nase, seinem Mund. Floss wie ein Bach, erst über mich, dann übers Bett und weiter auf den Boden. Wie ein schwerer Sack blieb er auf mir liegen und hat sich nicht mehr gerührt.“

Die Alte machte eine lange Pause.

„Aus der Burg haben sie mich geworfen, dachten, ich hätte ihn zur Strecke gebracht. Was für ein Schwachsinn. Als ob ich jemanden töten könnte! Seither irre ich durch die Zeit und suche nach ihm. Mein geliebter Attila", begann sie zu schluchzen, "mein Geliebter ist nicht tot. Nur fort gegangen ist er, tot jedenfalls ist er nicht. Ich bin es ja auch nicht, lebe noch…"

Einen Ausweis fand ich bei ihr nicht. Ich telefonierte mit den Altersheimen unserer Stadt, dann mit den Krankenhäusern. Zum Schluss sogar mit der Polizei. Niemandem gehörte sie, nirgends wurde sie gesucht. Was sollte ich mit ihr machen? Ich nahm Ildikó zu mir. Seither bin ich zu etwas nütze. Ob sie noch auf ihn wartet? Ich weiß es nicht. Sie lebt in der Erinnerung, vielleicht findet sie ihn dort. Und manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, sage ich zu ihr: „Komm, mein Hildchen aus Burgund, erzähle mir die alten Sachen. Erzähle mir von Attila.“





Anmerkung:
Ildikó (deutsch: Hildchen, später wurde sie auch Kriemhild genannt) war die Tochter eines burgundischen Fürsten. Sie wurde im Jahre 453 mit Attila, dem König der Hunnen, verheiratet, der noch in der Hochzeitsnacht an einem Blutsturz verstarb. Über Ildikos Verbleib nach diesem Ereignis war bis heute nichts bekannt.
 

Lio

Mitglied
gern gelesen und dabei sogar noch etwas über unsere Geschichte gelernt:)

Einige Dinge sind mir aufgefallen:

- er verlässt seinen Posten. Welchen?

- beide Figuren drücken sich gleich aus

- du charakterisierst die Alte zwei Mal (Absatz 1 und 3)

Viele Grüße!

Lio
 

Wipfel

Mitglied
Ich sah sie durch die lärmende Stadt steigen, rastlos und steif. Ihre Haare waren lang und dünn, einzelne Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Ich sah eine vergessene Alte. Es schien, als wollte das Leben sie nicht ausspucken, als ob sie durch die Mauerschluchten noch einmal und noch einmal eine Ehrenrunde zog. Ich zahlte meinen Kaffee, verließ meinen Posten und lief ihr nach, unauffällig, etwa so, wie ich es in Spionagefilmen gesehen hatte.

Sie zog durch die Straßen, durch den Park hinab zum Fluss. Ab und zu blieb sie stehen, hielt ihre Hand über die Augen und schaute gegen das Licht. Irgendwann kam eine Brücke, leicht gekrümmt und alt. Auf der Brücke lehnte sich die Frau an einen Laternenpfahl. Und wieder hielt sie Ausschau, diesmal den Fluss hinab. Ich ging zu ihr. Erst bemerkte sie mich nicht, ignorierte spielend meine Aufmerksamkeit. Sie wird sich verirrt haben, dachte ich, wird nicht wissen wohin sie gehört.

So standen wir eine Weile nebeneinander, ich, der überlegte was zu tun sei – und sie. Eine aufrechte Alte, mit unzähligen Falten im Gesicht und einer schrundigen Haut, die mich an zerfallene Häuser erinnerte, an herabbröckelnden Putz. Irgendwann nahm ich ihre Hand und fragte:

„Kann ich Ihnen helfen?“

Es musste eine reichlich blöde Frage sein, denn sie sah mich nur aus den Augenwinkeln an, sagte jedoch kein Wort. Ich versuchte es noch einmal:

“Wie ist Ihr Name? Ich meine, wie heißen Sie? Haben Sie einen Ausweis dabei?“

„Ildikó“, antwortete sie, „das Hildchen aus Burgund.“ Ihre Stimme klang brüchig und doch zugleich fest.

„Ildikó? Hildchen aus Burgund? Ja, was denn nun?“

„Es ist so lange her, wie soll ich das noch wissen? Später haben sie mich Kriemhild genannt, aber so hieß ich in Wirklichkeit nie.“

„Hildchen Ildikó also. Und wo wohnen Sie, Frau Ildikó?“
„Wo ich wohne?“

Sie sah mich lange an, so, als müsste sie überlegen, ob ich würdig sei ihr Geheimnis zu erfahren.

„Wo ich wohne? Was ist das für eine Frage! Auf der Burg natürlich, wo denn sonst?“

„Auf der Burg? Na klar, wo sonst. Nur…“ Ich zögerte einen Augenblick. Konnte ich sie mit der Wahrheit konfrontieren? Ich musste: „…hier gibt es keine Burg.“

„Was du nicht sagst, Kleiner. Keine Burg? Das ich nicht lache! Sag bloß, du kennst sie nicht, die Etzelsburg. Und gestern erst war meine Hochzeit!“

Etzelsburg? Hatte ich irgendwann schon Mal gehört. Ach Gott, das war doch die Geschichte mit Attila, dem Hunnenfürst.
Plötzlich begann sie zu zittern, aus tiefen Höhlen quoll ihre Angst.

"Ich fürchte mich vor jeder Nacht.“

„Warum?“, wollte ich wissen.

„Ich bin Ildiko, Attilas Braut.“

„Moment“, stoppte ich sie, „Sie denken nur, dass Sie es sind." Sieht mir ganz nach einer fortgeschrittenen Demenz aus analysierte ich schweigend. Oder wenigstens eine Megalomanie, das ist alles.

„In der Hochzeitsnacht“, erzählte sie weiter ohne sich auch nur einen Deut um meine Bemerkung zu kümmern, „war zunächst alles, wie es sein sollte. Du weißt schon was ich meine. Er stieß in mich, so, wie es sich für einen König wohl gehört. Dass ich nicht seine Erste war, merkte ich gleich. Ich dagegen war noch Jungfrau. Auf einmal schrie er auf und mir schien, auch das gehört dazu. Doch dann sah ich Rot, nur noch Rot: Blut spritzte aus ihm: aus seinen Ohren, seiner Nase, seinem Mund. Floss wie ein Bach, erst über mich, dann übers Bett und weiter auf den Boden. Wie ein schwerer Sack blieb er auf mir liegen und hat sich nicht mehr gerührt.“

Die Alte machte eine lange Pause.

„Aus der Burg haben sie mich geworfen, dachten, ich hätte ihn zur Strecke gebracht. Was für ein Schwachsinn. Als ob ich jemanden töten könnte! Seither irre ich durch die Zeit und suche nach ihm. Mein geliebter Attila", begann sie zu schluchzen, "mein Geliebter ist nicht tot. Nur fort gegangen ist er, tot jedenfalls ist er nicht. Ich bin es ja auch nicht, lebe noch…"

Einen Ausweis fand ich bei ihr nicht. Ich telefonierte mit den Altersheimen unserer Stadt, dann mit den Krankenhäusern. Zum Schluss sogar mit der Polizei. Niemandem gehörte sie, nirgends wurde sie gesucht. Was sollte ich mit ihr machen? Ich nahm Ildikó zu mir. Seither bin ich zu etwas nütze. Ob sie noch auf ihn wartet? Ich weiß es nicht. Sie lebt in der Erinnerung, vielleicht findet sie ihn dort. Und manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, sage ich zu ihr: „Komm, mein Hildchen aus Burgund, erzähle mir die alten Sachen. Erzähle mir von Attila.“





Anmerkung:
Ildikó (deutsch: Hildchen, später wurde sie auch Kriemhild genannt) war die Tochter eines burgundischen Fürsten. Sie wurde im Jahre 453 mit Attila, dem König der Hunnen, verheiratet, der noch in der Hochzeitsnacht an einem Blutsturz verstarb. Über Ildikos Verbleib nach diesem Ereignis war bis heute nichts bekannt.
 

Wipfel

Mitglied
Servus Retep und Lio,

herzlichen Dank für Eure Anmerkungen, einige Tage sind vergangen - für einen Text ist das immer gut so, da springen einem die "Fehler" nur so ins Auge... Viele Eurer Hinweise waren nützlich und ich konnte sie gut verwenden. Hier also die Überarbeitung

@Lio: Findest Du wirklich, dass die zwei eine Sprache sprechen? Ich wollte die Alte in ihrer "würdigen" und etwas förmlich Art auftreten lassen. Der/die junge Protagonistin sollte eher locker und besorgt wirken. Sie duzt ihn7sie, er7sie siezt die Alte - aus Respekt. Nur der Schlusssatz gibt zu erkennen, dass sich in der Beziehung der Beiden etwas wandelt...

Grüße von wipfel
 

Lio

Mitglied
Hey Wipfel, sorry wegen der späten Antwort, ich habe deine Frage erst gerade gesehen.

Ehrlich gesagt, finde ich, dass es nicht so einen großen Unterschied macht, ob sich die beiden duzen oder sietzen. Das ändert nur wenig. Wenn sie aus der Vergangenheit kommt oder denkt, dass sie aus der Vergangenheit kommt, könnte sie z.B. altertümlich sprechen:

Vielleicht anstatt:

„Es ist so lange her, wie soll ich das noch wissen? Später haben sie mich Kriemhild genannt, aber so hieß ich in Wirklichkeit nie.“

die Zeit vergeht,
wie kann ich es wissen.
auch Kriemhild rief man mich,
doch, nein, so hieß ich nie.

Nur ein bescheidener Versuch von Lio:)

Grüße
 

EviEngel

Mitglied
Lieber Wipfel,

ich werde es morgen lesen und kommentieren, versprochen

Ich sah sie durch die lärmende Stadt steigen, rastlos und steif. Ihre Haare waren lang und dünn, einzelne Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Ich sah eine vergessene Alte. Es schien, als wollte das Leben sie nicht ausspucken, als ob sie durch die Mauerschluchten noch einmal und noch einmal eine Ehrenrunde zog. Ich zahlte meinen Kaffee, verließ meinen Posten und lief ihr nach, unauffällig, etwa so, wie ich es in Spionagefilmen gesehen hatte.

Sie zog durch die Straßen, durch den Park hinab zum Fluss. Ab und zu blieb sie stehen, hielt ihre Hand über die Augen und schaute gegen das Licht. Irgendwann kam eine Brücke, leicht gekrümmt und alt. Auf der Brücke lehnte sich die Frau an einen Laternenpfahl. Und wieder hielt sie Ausschau, diesmal den Fluss hinab. Ich ging zu ihr. Erst bemerkte sie mich nicht, ignorierte spielend meine Aufmerksamkeit. Sie wird sich verirrt haben, dachte ich, wird nicht wissen wohin sie gehört.

So standen wir eine Weile nebeneinander, ich, der überlegte was zu tun sei – und sie. Eine aufrechte Alte, mit unzähligen Falten im Gesicht und einer schrundigen Haut, die mich an zerfallene Häuser erinnerte, an herabbröckelnden Putz. Irgendwann nahm ich ihre Hand und fragte:

„Kann ich Ihnen helfen?“

Es musste eine reichlich blöde Frage sein, denn sie sah mich nur aus den Augenwinkeln an, sagte jedoch kein Wort. Ich versuchte es noch einmal:

“Wie ist Ihr Name? Ich meine, wie heißen Sie? Haben Sie einen Ausweis dabei?“

„Ildikó“, antwortete sie, „das Hildchen aus Burgund.“ Ihre Stimme klang brüchig und doch zugleich fest.

„Ildikó? Hildchen aus Burgund? Ja, was denn nun?“

„Es ist so lange her, wie soll ich das noch wissen? Später haben sie mich Kriemhild genannt, aber so hieß ich in Wirklichkeit nie.“

„Hildchen Ildikó also. Und wo wohnen Sie, Frau Ildikó?“
„Wo ich wohne?“

Sie sah mich lange an, so, als müsste sie überlegen, ob ich würdig sei ihr Geheimnis zu erfahren.

„Wo ich wohne? Was ist das für eine Frage! Auf der Burg natürlich, wo denn sonst?“

„Auf der Burg? Na klar, wo sonst. Nur…“ Ich zögerte einen Augenblick. Konnte ich sie mit der Wahrheit konfrontieren? Ich musste: „…hier gibt es keine Burg.“

„Was du nicht sagst, Kleiner. Keine Burg? Das ich nicht lache! Sag bloß, du kennst sie nicht, die Etzelsburg. Und gestern erst war meine Hochzeit!“

Etzelsburg? Hatte ich irgendwann schon Mal gehört. Ach Gott, das war doch die Geschichte mit Attila, dem Hunnenfürst.
Plötzlich begann sie zu zittern, aus tiefen Höhlen quoll ihre Angst.

"Ich fürchte mich vor jeder Nacht.“

„Warum?“, wollte ich wissen.

„Ich bin Ildiko, Attilas Braut.“

„Moment“, stoppte ich sie, „Sie denken nur, dass Sie es sind." Sieht mir ganz nach einer fortgeschrittenen Demenz aus analysierte ich schweigend. Oder wenigstens eine Megalomanie, das ist alles.

„In der Hochzeitsnacht“, erzählte sie weiter ohne sich auch nur einen Deut um meine Bemerkung zu kümmern, „war zunächst alles, wie es sein sollte. Du weißt schon was ich meine. Er stieß in mich, so, wie es sich für einen König wohl gehört. Dass ich nicht seine Erste war, merkte ich gleich. Ich dagegen war noch Jungfrau. Auf einmal schrie er auf und mir schien, auch das gehört dazu. Doch dann sah ich Rot, nur noch Rot: Blut spritzte aus ihm: aus seinen Ohren, seiner Nase, seinem Mund. Floss wie ein Bach, erst über mich, dann übers Bett und weiter auf den Boden. Wie ein schwerer Sack blieb er auf mir liegen und hat sich nicht mehr gerührt.“

Die Alte machte eine lange Pause.

„Aus der Burg haben sie mich geworfen, dachten, ich hätte ihn zur Strecke gebracht. Was für ein Schwachsinn. Als ob ich jemanden töten könnte! Seither irre ich durch die Zeit und suche nach ihm. Mein geliebter Attila", begann sie zu schluchzen, "mein Geliebter ist nicht tot. Nur fort gegangen ist er, tot jedenfalls ist er nicht. Ich bin es ja auch nicht, lebe noch…"

Einen Ausweis fand ich bei ihr nicht. Ich telefonierte mit den Altersheimen unserer Stadt, dann mit den Krankenhäusern. Zum Schluss sogar mit der Polizei. Niemandem gehörte sie, nirgends wurde sie gesucht. Was sollte ich mit ihr machen? Ich nahm Ildikó zu mir. Seither bin ich zu etwas nütze. Ob sie noch auf ihn wartet? Ich weiß es nicht. Sie lebt in der Erinnerung, vielleicht findet sie ihn dort. Und manchmal, wenn ich nicht einschlafen kann, sage ich zu ihr: „Komm, mein Hildchen aus Burgund, erzähle mir die alten Sachen. Erzähle mir von Attila.“





Anmerkung:
Ildikó (deutsch: Hildchen, später wurde sie auch Kriemhild genannt) war die Tochter eines burgundischen Fürsten. Sie wurde im Jahre 453 mit Attila, dem König der Hunnen, verheiratet, der noch in der Hochzeitsnacht an einem Blutsturz verstarb. Über Ildikos Verbleib nach diesem Ereignis war bis heute nichts bekannt.
 



 
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