Erzählung

Legan Refpuk

Mitglied
Harri – Eine Liebesgeschichte (13.06.11)
„Es gibt nur einen Weg zum Glück, aufzuhören mit der Sorge um Dinge, die jenseits unseres Einflußvermögens liegen.“ (Epiktet)

Zum dritten Mal ging sie jetzt zum Bahnsteig.
Wie lautete die SMS?
„Fahre mit IC 8637 am 13.08. durch Barnfelde. Deine Platzkarte gekauft. Tschüs Harri.“
Das Dumme war nur, ein IC 8637 fuhr nicht durch Barnfelde. Alle Varianten war sie durchgegangen. Die Auskunftsperson hatte mit überlegt. Es konnte ein Schreibfehler sein. Sie war zu allen Zügen, die aus Herrnfurth kamen mit immer weniger Hoffnung gegangen. Drei standen noch aus. Auf ihre Anrufe reagierte er nicht. Einige SMS hatte sie abgesetzt und immer wieder auf ihr Handy gestarrt.
Die Erwartung sank. Sie sah nun schon die vierte Stunde das stetige Hasten, das Kommen und Gehen. Im Schaufenster des Zeitungskiosks konnte sie schon mit geschlossenen Augen alle ausgestellten Titel lesen.
So setzte sie sich zum wiederholten Mal auf ihren Rucksack und – sang. Nicht laut sang sie. Eigentlich war als mehr ein Sprechgesang, ein Singsang, mit dem sie sich die Zeit vertrieb. Die Leute glitten an ihr vorüber. Einige beobachteten sie , als wäre etwas nicht in Ordnung. Für Bruchteile von Sekunden nahm sie einzelne Gesichter wahr. Während sie singt, sieht sie Harri, das Lager, den Wald...

Sie rennt. Harri hinter ihr her. Er kann sie nicht einholen, also rennt sie im Zickzack, während er weiter geradeaus läuft. Es geht bergab, vor sich sieht sie das Wasser der Talsperre. Weiter kann sie nicht. Gleich hat er sie eingeholt. Sie dreht sich blitzschnell um und fliegt ihm entgegen. Durch den Zusammenprall purzeln sie auf die Wiese. Nach drei Umdrehungen bleiben sie liegen. Harri liegt über ihr. Die Arme stützt er neben ihrem Kopf auf, ganz dicht, so dass sie seine Gefangene ist.
„Jetzt bist du mein!“
„Und, was nun?“
Diese direkte Frage lässt ihn unsicher werden. Aber nur kurz. Er beugt seinen Kopf, will sie küssen, in dem Moment drückt sie ihn energisch beiseite: „ Nicht so stürmisch mit den jungen Pferden, mein Herr.“
Er weiß nicht, was er davon halten soll. Sie liegt nun neben ihm, und ihre Augen leuchten. Lacht sie ihn aus, fordert sie ihn auf? Ihre Augen ziehen ihn an, magisch sagt man da wohl gewöhnlich. Er ist sich nicht sicher. Also redet er.
Sie beobachtet ihn, amüsiert sich, lässt sich das aber nicht anmerken. Er sitzt vor ihr, nicht zu nahe, seine Hände zupfen Gras und zerreißen es danach. Sie wischen über die Hosenbeine. Er redet, stockend, immer wieder, wartet auf Gegenrede, seine Ohren glühen, der Mund wird trocken. Sie merkt es daran, dass seine Zunge immer öfter über die Lippen wischt. Sie unterbricht ihn:
„Eigentlich könnten wir doch ins Wasser gehen?“
„Wieso? Ach so! Na, los!“
Er ist froh, dass etwas passiert. Hätte sie gesagt, komm wir trinken die Talsperre leer, auch dann wäre er einverstanden gewesen. Das Wasser ist sein Element. Er taucht, prustet, schnellt heraus, schlägt Purzelbäume, dreht sich, umkreist schwimmend das Mädchen.
„Du warst im früheren Leben bestimmt ein Delphin.“
„Was soll das? Wie kommst du auf so was?“
„Ich meine ja nur.“
Sie verlässt das Wasser. Ist sie durch sein Verhalten verletzt worden? Er ist wieder einmal verwundert. Nachdem er einen Riesenbogen geschwommen ist, kommt er zu ihr, kniet vor ihr nieder, macht ein so betretenes Gesicht, dass ihr nichts weiter übrig bleibt, als laut aufzulachen. Er fällt ein. Ihr Gelächter fliegt über die Wiese, über den See, so dass die Zeltler auf der anderen Seite ganz erstaunt von ihrer Beschäftigung aufsehen. Sie bekommen aber nur ein verschlungenes Etwas, das sich nicht wieder lösen will, zu Gesicht. Niemals zuvor fühlten sich die beiden so beschwingt. Ganz egal, was jetzt um sie herum geschieht, sich ihrer neu entdeckten Liebe hinzugeben, ist für sie die selbstverständlichste Sache der Welt.
Harri wird ein ganz anderer Mensch. Nein, ganz anders nicht, aber seine Schüchternheit ist wie weggeblasen...


Ach wie gemütlich war es doch in dem Rundzelt am Abend. Wer hatte nur die Idee, dieses Zelt aufzubauen? Es wirkte so klein, bot aber Platz für alle Helfer, sogar zum Tanz um die Zeltstange reichte er aus. Hier sah sie zum ersten Mal seinen Ehering. Nein, nicht gleich am Abend. Sie hatte nicht darauf geachtet. Warum auch? Obwohl, aufgefallen war Harri ihr gleich. Er war ihr Typ. Irgendwie hatte sie den Eindruck, vom ersten Augenblick an, dass er keine Hektik verbreiten könnte. Man spürt das manchmal sofort. Das sind die Menschen, die geschaffen sind dafür, dass andere ihnen ihr Herz ausschütten, auch ungefragt. Unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen wäre er sicher der ideale Beichtvater geworden. Auch ihr erging es nicht anders. Sie beobachtete ihn am ersten Abend, verguckte sich in ihn und ließ am zweiten Abend durchblicken, dass sie ihn sympathisch fand. An dem Abend wackelte das Zelt. Die Witze flogen hin und her. Plötzlich sprang einer auf und rief: „Abtreten. Wir spielen Abtreten!“
Erklärt ist das schnell. Ein Junge und ein Mädchen treten in die Mitte umfassen die Zeltstange und müssen nun versuchen, den Partner zu jagen und als Zeichen des Sieges auf den Fuß bzw. auf einen am Fuß festgebundenen Luftballon treten. Der Sieger bekommt einen Kuss. Der Spaß ist groß. Zufällig – was es doch für Zufälle gibt – kam sie mit Harri als Paar zusammen. Sie sprangen nach vorn und zurück. Sie wollte es wissen und verstand es immer wieder, im letzten Augenblick noch, ihren Fuß wegzuziehen. Sie kamen ins Schwitzen. Trotz der Anstrengung hatte sie ein verzauberndes Lächeln für ihn, das gleichzeitig ermunternd wirkte. Ein wilder Tanz irrer Verrenkungen der Körper, die Hände waren noch immer am Zeltpfahl festgebunden, ließ sie doch ermatten. Er gewann und wollte ihr einen Kuss auf die Wange geben. Da machte sie aber nicht mit. Sie küsste ihn auf den Munde und er erwiderte diesen Kuss. Da griff ihre freie Hand wie selbstverständlich in seine Haare und legte sich um seinen Nacken.
„Eins, zwei, drei, vier!“ Bis zwölf zählten sie. Einer ulkte: „Nun ist es aber genug! Selbst der Schweinehirt bekam nicht mehr als zehn Küsse.“
„Das ist gar nicht wahr. Hundert waren es zum Schluss.“
„Das ist ja egal, dafür musste er aber viel mehr leisten. Man kann ja neidisch werden.“
Das Herumgealbere ließ die Situation entspannter werden. Vor allem Harri war dankbar. Er wusste nicht, was er machen sollte.Sie gefiel ihm, ohne Zweifel. Nicht, dass sie sein Traumbild wäre. Wer findet das schon? Viele suchen es vergeblich. Was soll das auch sein? Äußerlichkeit!
Aber trotzdem reizte ihn ihr Gesicht. Es war dieses Strahlen der Augen. Immer wieder musste er sie ansehen. Wenn sich ihre Blicke trafen, wenn er sich ertappt fühlte, durchflutete eine ungemein wohlige Wärme seinen ganzen Körper. Er spürte körperlich, wie dieses angenehme Gefühl den Kopf und dann den ganzen Körper nach unten überflutete. Das wiederum war ihm unangenehm, weil er zu wissen glaubte, dass jeder seinen Gefühlszustand miterleben könnte.
Später gesteht er ihr einmal, glatte Gesichter liebe er nicht. Vertiefen, erfühlen, erarbeiten müsse er sich ein Gesicht...


„Ich beobachte Sie schon eine ganze Weile.“
Gestört blickte sie in die Höhe. Vor ihr stand ein Soldat. Unmutsfalten veränderten ihr Gesicht. Schon wieder redete der Soldat: „Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche, aber ich dachte...“ Er hörte auf zu reden, weil sich ihr Gesicht nicht veränderte. Sie drehte sich zur Seite und rollte die Augen. Unsicher wendete er sich ab. Aus dem Lautsprecher ertönte in dem Moment ein Rasseln. Es war nichts zu verstehen. Da er sie weiter beobachtet hatte, war ihm klar, dass sie die Information hören wollte. Bereitwillig kam er erneut auf sie zu: „Barnfelde hat sie gesagt. Leider nicht meine Richtung.“
„Müssen Sie heute schon wieder einrücken? Sagt man so?“.
Er war froh, dass sie ihn doch wahr nahm. Also erzählte er. Er sprach fast ohne Pause. Sie sah geradeaus. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick und schon waren ihre Gedanken wieder weit weg. Das viele Reden wie bei Harri, nur hatte der stockender geredet. Aber gerade daraus erweuchs seine Unerschütterlichkeit, seine Glaubhaftigkeit.
Ihre Frage nach seinem Ehering zum Beispiel, brachte ihn nicht aus der Ruhe. Ganz natürlich überlegend, hin und wieder nach Worten suchend, gab er ihr die Antwort. Ja, er liebe seine Frau und möchte sie auf keinen Fall missen. Kinder habe er noch nicht, aber was nicht ist könne ja noch werden.
Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen, im Augenblick jedenfalls. Welche Antwort hatte sie erwartet oder erhofft? Als sie sah, wie ihre Reaktion befremdend auf Harri wirkte, überspielte sie durch ein Lächeln diese Situation. Gleichzeitig fiel ihr rechtzeitig ein, dass sie den Auftrag hatte ihn daran zu erinnern, dass er zur Lagerleitung kommen sollte.
Trotzdem! Sie liebte ihn. Und er? Sie ist sich sicher, dass er sie auch liebte. Diese Sicherheit hatte ihr die letzte Nacht gegeben. Nein, um ein Abenteuer ging es ihm nicht. Wenn sie es sich richtig überlegte, war er ihr anfangs sogar aus dem Weg gegangen. Zumindest so, wie sie das meinte. Gehört hatte sie einmal, dass Frauen immer der aktivere teil sein sollten. In ihrer Beziehung zu Harri traf das sicher zu. Vielleicht weil er verheiratet war.
Als er wieder kam und ihr sagte, dass er morgen in das Außenlager müsse, um es für die touristischen Übungen vorzubereiten, glaubte sie, er wolle ihr aus dem Wege gehen. In der Nacht hielt sie es nicht aus und ging zu ihm. Überrascht schien er nicht zu sein, als sie sich an das Lagerfeuer setzte, einen Zweig in die Glut warf und fragte: „Hast du nichts zu trinken hier? Zu einem richtigen gemütlichen Feuer gehört ein Punsch.“ Alkohol ist da. Doppelkorn. Aus Plastebechern getrunken war er zwar kein Genuss, zeigte aber trotzdem Wirkung. In den Bechern war kein Maß zu erkennen. Es dauerte nicht lange und sie wusste nicht, woran es lag, dass so gelöst und frei fühlte. Das Flackern des Feuers, die aufkommende Kühle im Rücken, Harris ruhige, sonore Stimme, die heute leicht aufgeraut schien, brachten sie dazu, sich ganz fest an ihn zu drängen. Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen und flüsterte immer wieder: „Harri, Harri!“ Er erwiderte ihre Gefühle. Wenn bis jetzt noch etwas an ihnen verklemmt war, an diesem Abend lösten sie sich von allen Hemmungen.
Der Morgen wurde schrecklich. Sehr zeitig, ihr kam es jedenfalls so vor, erschien die erste Touristengruppe. Mit ihr kam zur Kontrolle der Lagerleiter. Sie musste gleich mit zurück ins Hauptlager. Harri wurde zwei Stunden später abgelöst. Verletzung der Dienstpflichten hieß der Grund.
Sie wollte sich rechtfertigen, wurde unsachlich. Es wurmte sie, dass alle nur von der Dienstpflichtverletzung sprachen, nicht aber in den Vordergrund ihr Zusammensein mit Harri stellten. Sie liebten sich. War das ein Verbrechen? Als sie es ansprach, bekam sie zur Antwort: „Was in der Nacht geschah, wissen wir nicht. Das müsst ihr mit euch selbst ausmachen. Fest steht, dass du um sieben Uhr nicht bei deiner Gruppe warst.“
Fast hätte sie herausgeschrien, wie wohl sie sich gefühlt hatte in der Nacht, wie seelisch entspannend dieses Zusammensein mit Harri für sie gewesen sei. Pflichten waren gar nicht vorhanden. Sie hatte mit sich zu tun und natürlich mit Harri. Sie sah ihn an mit einem Blick, der so viel Liebe der Nacht in seine Augen brachte, dass ihm ganz heiß wurde. Da wurde sie aber von Harris Ruhe und Sachlichkeit gebremst. Er übte Selbstkritik: „Ja, wir haben die Zeit verschlafen. Könnt ihr euch vorstellen, dass die Ruhe in der freien Natur das bewirkt hat?“ Und man stelle sich vor, die anderen nickten zustimmend. Der Lagerleiter hatte schon die Rüge als Erziehungsmaßnahme auf den Lippen. Da sprang sie auf und schrie die Versammelten an: „Wir haben miteinander geschlafen. Wir lieben uns!“
Alle machten Gesichter als wenn in der Disco statt der hoch gelobten Band plötzlich eine Blaskapelle auf der Bühne erscheint. Man weiß nicht so recht, ob das ein Gag wird oder eine glatte Verarsche.
Alle verschwanden nach und nach. Nur Harri sah anders aus. Er verstand sie nicht, glaubte, sich verhört zu haben. Er kniff die Augen zusammen und schüttelte leicht den Kopf. Auf seiner Stirn bildeten sich fragende Falten. Was soll das Ganze? Sie rannte aus dem Zimmer.
Warum waren nur alle so prinzipiell? Vor allem, wenn es um die Arbeit ging. Viele Entscheidungen in der Arbeit wurden doch durch private Ereignisse beeinflusst. Kann es da nicht vorkommen, dass auch mal Privates überwiegt? Sie war in Zweifel versetzt worden, wollte nichts mehr verstehen, verrannte sich.
Und Harri? Hätte er sich anders verhalten müssen? Gestern hatte sie beobachten können, wie er sich beim Lesen einer eMail von zu Hause freuen konnte. Weh hatte es ihr getan, ihn so lächeln zu sehen. Wenn er mit ihr zusammen war, schien sein Zuhause aber gar keine Rolle zu spielen. Ihr Selbstvertrauen – wie oft war es ihre größte Stütze gewesen - war nicht mehr da.
Am frühen Nachmittag, sie packte gerade ihre Reisetasche, stand plötzlich der Lagerleiter vor ihr.
„Überdenke dein Verhalten. Wie steht Harri zu dir? Wir klären das Problem in Ruhe.“
„Ruhe. Das ist das richtige Wort. Die brauche ich jetzt. Ersatz für mich habt ihr ja. Also, lasst mich in Ruhe. Ich fahre nach Hause.“
Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, übergab ihm zwei Briefe an die Uni und an Harri. Das Brauereiauto nahm sie mit zum Bahnhof...

„Nun könnte er aber bald kommen.“ Der Soldat verstand nicht.
„Haben Sie schon einmal fünf Stunden umsonst gewartet?“ Der Soldat verstand immer noch nicht: „Wenn man wartet, dann doch immer auf etwas, also nicht umsonst.“
„Sie sind wohl ein kleiner Philosoph? So einer fehlt mir heute gerade noch!“
Er entschuldigte sich; er wollte sie nicht verärgern.
Sie aber drehte sich von ihm weg und sang wieder ihr Lied in einer Art Singsang. Das entband sie von einem weiteren Eingehen auf den Soldaten. Das dachte sie jedenfalls. Aber gerade dieses Verhalten ließ ihn neugierig werden.
„Machen Sie mal Platz! Wir passen sicher beide zusammen...“ Sie platzte in seine Rede hinein: „Wie kommen Sie denn auf so etwas?“ Es klang nicht einmal böse, eher erstaunt. Da fing er laut zu lachen an: „Ich meine doch, wir passen zusammen auf den großen Rucksack.“ Überrascht rückte sie zur Seite. Als er sich setzte, kullerten sie beide nach hinten. Jetzt wurde sie böse: „Was bilden Sie sich überhaupt ein?“ Er half ihr wortlos auf und führte sie zu der Bank, die zwei Meter neben ihnen stand.Sie ließ es mit sich geschehen. Nur Grübeln half auch nicht.
„Sie sind doch ein Mann.“ Noch ehe er eine Bemerkung einflechten konnte, fuhr sie fort: „Es geht mich natürlich nichts an, aber sicher haben Sie eine Frau oder Freundin. Wenn man wie Sie bei der Armee ist, denkt man sicher viel über sich und zu Hause nach. Könnten Sie verheiratet sein und gleichzeitig noch eine andere Frau lieben?“
Diese Frage ging selbstverständlich über den Rahmen einer Zufallsbekanntschaft hinaus. Er wollte seine Antwort relativieren, sagte, dass er von einem Freund den Abschiedsbrauch für Gäste Tadschikistan gehört habe. Kleine Geschenke würden überreicht mit dem Hinweis: Für die Frau, für die Tochter und für die Freundin. Sie registrierte für sich, der ist kein Gesprächspartner für dich!
Erneut zog sie ihr Handy hervor. Unschlüssig warf sie es zurück in ihre Tasche.
Jetzt stand es für sie fest, das Studium nahm sie nicht wieder auf. Jedenfalls nicht an der gleichen Uni wie Harri. Gehofft hatte sie, eigentlich hoffte sie immer noch, dass nur etwas dazwischen gekommen wäre. Vielleicht nur ein Zugunglück. Man liest das ja immer wieder. Das konnte es doch nicht geben! Konnte ein Mensch sich so verstellen?
Was wusste sie eigentlich von ihm? Er war ein eyecatcher. Er fiel sofort auf. Seiner Aura konnte man nicht ausweichen. Dabei war er stets ganz natürlich, nicht affektiert. Wer mit ihm zu tun hatte, beschrieb ihn als großen Sympathicus, wenn man das so sagen durfte. Seine Ausstrahlung wurde wesentlich durch seine sonore Stimme unterstützt. Allein in diese Stimme konnte man sich verlieben...


Mit gedämpfter Begeisterung saß die Truppe der Gruppenleiter aus dem Ferienlager in der Gaststätte zusammen. Neben Harri war ein Platz frei. Alle akzeptierten das und holten sich Stühle an den Tisch. Als sie eintrat, sah sie sofort die Freude in seinem Blick. Sie war noch gar nicht richtig im Raum, da stand er schon neben ihr und half aus der Jacke. Die Freude war echt, der Abend gehörte nur ihnen. Mit Ungeduld warteten sie die Begrüßungs- und Dankrede des Lagerleiters ab.Sie hielt nichts in diesem Raum und er ging mit. Im Hotelzimmer kannten sie keine Probleme. Warum in diesem Augenblick davon anfangen? Es war so schön. Losgelöst von allem, den Augenblick zu leben. Wie hatte sie sich nach seiner Zärtlichkeit, seinen Dasein gesehnt. Das konnte und wollte sie nicht kaputt machen. So ausgelassen war sie selten, obwohl sie mit jeder Minute, die sie zusammen waren, immer öfter daran dachte, diese Scheinwelt zu verlassen, um Ordnung zu schaffen. Harri merkte nichts davon.
Als er ging und die Worte sagte: „Ich lasse von mir hören.Tschüs!“ tat es ihr weh, aber sie glaubte. Sie glaubte ganz fest, sie wollte ganz fest daran glauben, dass es kein Abschied für immer war...



„Er hat ja was von sich hören lassen!“ Mit einem Seufzer war es ihr heraus gerutscht. Der Soldat, der noch neben ihr saß, wollte es genauer wissen.
„Ach lassen Sie man. Sie sind ein Mann. Dafür fehlt ihnen sicher das Verständnis. Wissen Sie, was ich jetzt mache? Kommen Sie mal mit. Nennen Sie mir fünf Zahlen von null bis neun.“
„Was soll denn das werden?“
„Na, los, machen Sie schon!“
„Zwei, fünf, null, drei, sieben.“
„Die Zahl geht nicht.“
Er verstand nicht, warum sie den Fahrkartenautomaten bediente. Aber, wenn sie spielen wollte, warum nicht. Er nannte fünf neue Zahlen. Sie gab sie dem Computer ein. Der verarbeitete sie und forderte weitere Daten und schließlich 74,80 € ab. Sie bezahlte mit der Karte.
„So, mein Herr, Sie haben für mich Schicksal gespielt. Vielen Dank für Ihre Geduld. Ich habe noch vierzehn Tage Ferien. Die nutze ich aus. Adieu!“
Sie sagte es und ging. Ihr Zug fuhr in einigen Minuten ab. Er blieb zurück und hatte Stoff zum Nachdenken.
Im letzten Moment fiel ihm ein, dass er doch auch auf den gerade abfahrenden Zug gewartet hatte.
 



 
Oben Unten