Es

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Biillii

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Es

Ein winzig kleines, erbärmlich dasitzendes Wesen. Zwei gesunde Ärmchen, zwei gesunde Füsschen, ein gesundes Köpfchen. Und trotzdem kann es mit seinen Ärmchen keine Berge versetzten. Trotzdem kann es mit seinen Beinchen nicht über seinen eigenen Schatten springen. Trotzdem kann es mit seinem Köpfchen keine Wunder mehr glauben. Es sitzt einfach da und vegetiert vor sich hin.

„Mama?“, hört man durchs ganze Haus hallen, „wo sind meine Balletschuhe?“. „Die sind schon in deiner Tasche, mein Schatz.“. Ein flüchtiger Abschiedskuss und schon rennt die Kleine zur Bushaltestelle. Ich grinse. Jeden Dienstag dasselbe mit ihr. Ich war genauso als ich klein war. Ich musste immer rennen um den Bus noch zu erreichen. Und das veranlasst mich zu einem Grinsen. Doch ein zufälliger Blick auf die Wanduhr über dem Kühlschrank holt mich wieder aus meinen Gedanken zurück. In einer halben Stunde kommen Mann und Sohn nach Hause. Dann hätte ich gerne das Abendessen fertig vorbereitet. Also ran an die Arbeit. Wie gerne ich dies doch erledige, wenn ich daran denke was für ein schönes und erfülltes Leben ich habe: einen mich liebenden und verehrenden Ehemann, zwei gesunde und muntere Kinder, ein eigenes kleines Häuschen in einer ruhigen und sicheren Gegend und sogar wieder einen fantastischen Teilzeitjob. „Was für ein herrliches Leben“ denke ich mir und atme tief durch.

Es atmet tief durch. Das einzige was seine Ärmchen noch verrichten können, ist ein Messer zu bedienen. Doch auch dies funktioniert nur unter einem leichten Zittern. Das einzige was seine Füsschen noch verrichten können, ist seinem Körper zu helfen durch diesen Raum zu schlendern. Ein selbstbewusstes durchs Leben gehen funktioniert schon lange nicht mehr. Und das einzige was sein Köpfchen verrichten kann, ist sich Fantasiewelten auszudenken. Es schaut sein Messer an, dann wandert der Blick zum Toastbrot, dann zur Butter, und schliesslich wieder zurück zum Messer.

„Yeah, endlich das Medizinstudium beendet“ sag‘ ich leise zu mir selbst. Sechs lange Jahre sass ich nun beinahe Tag für Tag in dieser Uni und nun habe ich das Diplom in meiner Hand. Es ist ein überwältigender Moment, hier vor der Uni zu stehen, das Diplom fest in den Händen zu halten und dem noch vor mir liegenden Lebensabschnitt positiv gestimmt entgegen zu schauen. Nun werde ich drei weitere Jahre als Assistenzärztin arbeiten müssen, um dann selbständig praktizieren zu dürfen. Aber was soll’s. Ich geniesse mein Leben. Ich habe es geschafft. Ich werde vielen Leuten helfen können. Sicherlich gibt’s auch viele, welchen ich nicht werde helfen können. Doch ich kann einigen Leuten eine Hilfe sein. Ich kann Dinge in ihrem Leben ändern, die für sie Berge bedeuteten. Berge von Problemen. Ich kann Berge versetzen.

Laut seinen teils noch unverheilten Wunden, teils schon Narben, wird es das Messer wohl kaum zum Butterstreichen benutzen. Wieso sollte es auch? Das ist doch überhaupt kein Buttermesser, nein, es ist vielmehr ein Taschenmesser. Ein stets gut geschliffenes Schweizer Taschenmesser. Ausserdem wird sein Bauch nicht mit Brot gefüllt, sondern mit roten, bräunlichen und weissen Strichlein. Diese kommen eigentlich nicht von aussen, sondern von innen. Und zwar von ganz tief innen. Von da aus, wo das Wesen zu einem winzig kleinen und erbärmlich wirkenden Wesen gemacht wird. Dafür ist kein Messer verantwortlich. Dafür sind keine Ärmchen verantwortlich. Dafür ist etwas ganz anderes verantwortlich.

Was für ein Stress, jetzt während den Jahresprüfungen. Die Arbeiten zweier Klassen habe ich bereits verbessert, doch zwei weitere muss ich auch noch verbessern. Und die Zeit drängt. Bereits morgen Abend muss ich die Resultate im Notensystem eingetragen haben. Alle meine Schüler haben das Recht, rechtzeitig zu erfahren, ob sie das vergangene Schuljahr bestanden haben. Aber trotzdem, zuerst gönne ich mir nun eine kleine Mahlzeit. Ich habe einen Bärenhunger. Am Kühlschrank werfe ich einen kurzen Blick auf die dort hängenden Fotos. Eines meiner Lieblingsfotos zeigt einen jungen Mann, der braungebrannt in die Kamera lächelt. Ich liebe ihn so sehr. Und auch wenn wir keine Kinder haben, wir haben ja einander. Doch ich musste mich sehr überwinden, auf eine Beziehung einzugehen. Es war anfangs alles andere als einfach. Doch ich habe mich überwunden. Ich bin über meinen eigenen Schatten gesprungen.

Es wird aufgefressen. Ganz tief innen drin ist alles schon zerfressen und auch weiter nach draussen ist es schon angeknabbert. Das reicht sogar so weit, dass sich dieses innerliche Zerfressen auf seinem Bauch widerspiegelt. Es wird langsam aber sicher aufgefressen. Seine Ärmchen, seine Füsschen, sein Köpfchen, alles wird immer funktionsunfähiger. Es wird aufgefressen.

Ich starre auf das kleine, vergitterte Fenster. Es ist das einzige Fenster in diesem Zimmer. Wie lange bin ich hier wohl schon drin? Ein paar Stunden? Ein paar Tage? Wochen? Monate? Oder gar Jahre? Werde ich je wieder entlassen? Wann erklärt man mich für gesund? Wer erlaubt sich mein Zustand als krank zu definieren? Wieso soll ich krank sein, wenn ich doch gar nichts getan habe? Ich konnte mich immerhin nicht selbst schlagen, ich konnte mich nicht selbst misshandeln, ich konnte mich nicht selbst in den Keller sperren, ich konnte mich nicht selbst vergewaltigen. Ich halte das nicht mehr aus. Das frisst mich auf. Es ist ein Teil von mir. Ich fresse mich selber auf. Ganz langsam. Aber sicher. Tief innen drin hat’s angefangen. Und nun arbeitet es sich in aller Ruhe weiter vor in meinem Körper. Die Seele ist kaum mehr ansprechbar. Sie wurde fast schon vollständig aufgefressen. Meine Fantasiewelten von einem schönen Leben, einer geglückten Ausbildung, einer Familie, einer Arbeit. Sie werden immer seltener. Meine Ärmchen, Füsschen und auch mein Köpfchen. Sie werden immer tauber. Mein Bauch funktioniert noch. Aber auch nur als Bildschirm für die Geschehnisse tief in mir drin. Ich werde aufgefressen. Ich fresse mich selber auf. Ich darf mich nicht mehr “ich“ nennen. Das habe ich nicht verdient. Ich bin nur noch “es“.

Es sitzt einfach da und vegetiert vor sich hin. Es hat inzwischen realisiert, dass es im Leben nie etwas erreicht hat, und auch nicht mehr erreichen wird. Es hat versagt.
 

IDee

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Mir hat dieser Text sehr gut gefallen. Er macht neugierig. Bis man letztendlich feststellen muss, dass es das Leben ist.Vielleich geht es vielen Menschen so...
 
Also die idee, verschiedene Lebensträume der Protagonistin zu beschreiben und dann immer ein 'es' dahinzusetzen, was (wie ich annehme), zeigt, wie sie sich wirklich fühlt und wie es um ihr seelenleben bestellt ist, finde ich wirklich gut.

Was mich gestört hat ist, dass die Sprache oft sehr Hölzernd war.
Die ielen erniedlichungen bei den ES passagen kamen bei mir nicht gut an, ich finde, sowas sollte man sparsam einsetzen, und auch die anderen passagen

Passagen wie:

>>Was für ein Stress, jetzt während den Jahresprüfungen. Die Arbeiten zweier Klassen habe ich bereits verbessert, doch zwei weitere muss ich auch noch verbessern. Und die Zeit drängt. Bereits morgen Abend muss ich die Resultate im Notensystem eingetragen haben. Alle meine Schüler haben das Recht, rechtzeitig zu erfahren, ob sie das vergangene Schuljahr bestanden haben<<

Da finde ich wäre es besser gewesen, eine Sprache zu wählen, die man wirklich nutzen würde, um solche dinge zu erzählen.
Als würde die Protagonistin mit uns sprechen.
Dann würde man auch mehr emotionalen Kontakt zu ihr aufbauen und wäre om ende, wo sie offenbar von dem mann vergewaltigt worden ist, eher berührt.

Cool hätte ich es gefnden, wenn man die Protagonistin quasi in abständen 'trifft', diese einem ein lügenmärchen auftischt, bis man sie am ende in der psychiatrie trifft und sie endlich zugibt, dass das alles nicht wahr war und zu eine katharsis kommt und ihrem leben jetzt in#s auge sieht.

SIe könnte dabei auch mit sich selbst reden, oder am besten sogar zu dem ES.

So jedenfalls suggerierte die sprache viel zu stark, dass man doch bitte mitfühlen soll
Emotionale begriffe wie die erniedlichungen, sätze wie 'Wie gerne ich dies doch erledige, wenn ich daran denke was für ein schönes und erfülltes Leben ich habe'

Das wäre es mit 'Ich erledige die Arbeit gern für meinen Mann und meinen Sohn, ich liebe meine Familie' besser gelaufen, finde ich.
 



 
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