Es führt kein Weg zu mir

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Suzie

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Es führt kein Weg zu mir


Im tiefsten kalten Winter hatte ich einmal eine Spur im Schnee entdeckt.
Ich trat näher und beugte mich hinab, um die Abdrücke im Weiß genauer betrachten zu können. Meine Knochen krachten, als ich mich herabsenkte, ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf die Knie. Ich bin sehr alt geworden seit damals.
Der Schnee schien zu lächeln. Um mich herum war alles so hell, dass ich unwillkürlich an den Tag deiner Geburt denken musste. Überall nur Blut und Schweiß und kahle Wände und dann du und eine fleckige, explodierende Sonne und nichts Dunkles mehr, für immer, für immer. Du hast nicht geschrieen. Die Hebamme begann dich zu schütteln, als du stumm bliebst. Erst zögerlich und verunsichert, dann immer fester und ungeduldiger, bis du schließlich widerwillig nach Luft geschnappt hast. Das hat mich irgendwie ein wenig beleidigt, dass du dich gleich von Anfang an hartnäckig geweigert hast, mein Leben zu betreten. Als ob du geahnt hättest, wie alles enden würde. Aber geschrieen, nein, das hast du nie.
Jedenfalls habe ich keine einzige Erinnerung daran.
Genaugenommen ist mir so gut wie nichts von dir im Gedächtnis geblieben. Nur eben deine stetige Ablehnung. Und später ein erst heftig schwelender und dann, als ich es endlich bemerkte, längst verglühter Brand. Ich mache mir immer noch Vorwürfe. Aber ich wusste es nicht. Nicht wirklich. Obwohl ich ahnte, dass es nicht gut ausgehen würde, diese Sache mit uns.
Ich zog meine Handschuhe aus und griff in den Schnee hinein. So hast du dich angefühlt, ganz zuletzt. Kalt und erloschen. Ich habe nur noch gefroren.
Einmal, da blätterte ich heimlich in deinem Tagebuch. Es gab darin nur einen kurzen Eintrag, der mitten im Satz abbrach. Ich musste mir ihn einfach abschreiben, es war alles, was mir jemals einen scheuen Einblick in dich gewährte:

„Ich habe die Anker eingeholt. Unter mir nur nacktes, eisiges Meer.
Ich werde jetzt aufhören, mich zu wundern. Es ist zu spät dazu.
Ich glaube, ich bin so etwas wie ein altes, verfallenes Gartenhäuschen, dass im Dickicht von Rhododendron- Büschen und Kirschbäumen vergessen wird. Ich stehe seit langem leer und abends ergreift mich immer das sehnsüchtige Verlangen, davonzulaufen. Aber ich warte weiter.
Vielleicht kommt eines Tages jemand und brennt mich nieder oder zerschlägt meine gläsernen Augen oder stiehlt sich mit seinem begehrtem Menschen in mich hinein, um ihn in meinen Räumen ungehemmt zu lieben.
Ach, könnten doch nur derlei Dinge geschehen. Dabei musste ich vor einiger Zeit mit Erschrecken feststellen, dass kein Weg mehr zu mir führt. Wie soll mich denn da einer finden?
Vielleicht denken alle, in mir wohnt in Wirklichkeit ein “

Ich habe am ganzen Körper gezittert, als ich das mit dir erfuhr. Ich wusste auch sofort, dass es stimmte; nicht so wie bei anderen Menschen, die es erst gar nicht glauben wollen, wenn so etwas passiert.
Du hast auch da nicht geschrieen. Nie hast du es getan. Das war das Unheimlichste an dir. Ich glaube, du warst zum Schluss ganz versteinert. Sogar das Atmen schien dir weh zu tun.
Ich weiß noch, als du drei Jahre alt wurdest, hatte ich dich an deinem Geburtstag nach deinem liebsten Wunsch gefragt und du hast ganz ernst geantwortet: „Ich möchte Tänzerin werden“. Ich setzte mich dann in eine stille Ecke unserer finsteren Wohnung und habe den ganzen Nachmittag geweint. Und du bist ertrunken. Ich ließ dich verenden zwischen all den Verwandten und Freunden, die bei uns zu Besuch waren, um dich zu feiern. Währenddessen hockte ich mich dann auf die Terrasse und leerte mehrere Flaschen Wein, in der Hoffnung, deine flehenden Blicke dadurch besser ignorieren zu können. Die Leute lärmten und zerrten und rissen an dir und ich wusste genau, dass du alles hasst und dein Kopf schwoll an und zerplatzte und aus ihm kullerte eine schimmernde Kristallkugel heraus.
Die bewahre ich heute noch in meinem Nachttisch auf. Und immer, wenn ich nicht schlafen kann, lege ich sie neben mich auf das Kopfkissen und streichele darüber, bis sie ganz warm wird und zu leuchten beginnt.
Dann lege ich mich zufrieden zurück und kann dich vergessen.

Du bist immer kleiner geworden, immer winziger und eines Tages warst du ganz verschwunden.
Und ich höre die Nachbarn flüstern in meinem Kopf. „Nicht mal die eigene Mutter hat etwas davon gemerkt“
Und ich höre alle Leute, denen ich auf der Strasse begegne, murmeln: „Warum hat sie nichts getan, sie hätte ihn doch retten können, sie hat einfach nichts getan.“
Und in meinen Eingeweiden höre ich die Kollegen von der Arbeit tuscheln: „Diese selbstsüchtige Schlampe! Sie hätte es verhindern können! Ihr Sohn verreckt vor ihren Augen und sie benimmt sich, als würde es sie nicht im Geringsten etwas angehen!“
Und ich höre alle Königinnen dieser Welt durch mein Blut pochen und zischeln: „Es ist deine Schuld! Du hättest ihm das blaue Kleid nicht wegnehmen dürfen. Du wusstest doch, wie sehr er es geliebt hat. Du musstest immer alles falsch machen!“
Und ich höre mich selbst immer noch des nächtens wirr im Traum reden, dass Leander mein blaues kurzes Sommerkleid mit den schwarzen Stickereien ausziehen soll, und meine halterlosen Strümpfe und meine hochhackigen Stiefel.
Und ich sehe, wie er sich zu mir umdreht mit seinem geschminkten Gesicht und böse und ruhig entgegnet: „Ich heiße Minerva. Das weißt du doch!“

Einige Jahre vor Leanders Geburt war ich schon einmal schwanger gewesen. Ich freute mich unbändig auf das Kind, es sollte mein Leben füllen und mich heilen.
Es stand auch vom ersten Augenblick, ab dem ich von meiner ungeborenen Tochter wusste, für mich fest, wie ich sie nennen würde: Minerva. Eine römische Göttin. Und sie sollte einmal eine Tänzerin werden, so wie ich es war, bevor ich am linken Fuß drei Zehen verlor und mir seitdem jeder Schritt schmerzte.
Als Minerva zur Welt kam schrie und weinte sie erbärmlich. Es hatte Komplikationen gegeben und ich war sehr erschöpft, aber völlig berauscht vom Glück, sie endlich geboren zu haben und nun in Besitz nehmen zu können. Ich hatte ihr eine wunderschöne hölzerne Wiege gekauft und meine alte Spieluhr für sie wieder hervorgeholt, in der sich, wenn man sie öffnete, eine zierliche Ballerina zur Melodie von Beethovens „Für Elise“ drehte.
Minerva wurde mir an die Brust gelegt und tat dort ihren letzten Atemzug.
Fünf Minuten lang hatte ich eine Tochter gehabt.

Als ich erneut schwanger wurde, war es mir gleichgültig. Und obwohl das Kind in meinem Bauch strampelte und um sich trat und sich bald immer mehr bemerkbar machte, interessierte es mich nicht. Ich betrank mich verdammt oft und zerschlug alle Spiegel in meiner Wohnung, um meinen immer unförmigeren Körper nicht mehr anschauen zu brauchen. Als ich erfuhr, dass ich einen Jungen bekommen sollte, wurde ich ruhiger. Minerva würde also nicht zurückkehren. Es war endgültig vorbei mit ihr.

Manchmal überlege ich, ob ich dich dazu gezwungen habe, so zu werden.
„Sieh mich an!“, hast du oft gesagt, „Na los, sieh her!“ Und immer, wenn du den Mund öffnetest, quoll Blut hervor.
Alle meine Rasierklingen hattest du an jenem Tag verschluckt. Aber das war es nicht, was dich tötete, nicht wahr? Ich war es. Ich habe dich umgebracht. Nicht wahr? Ich allein und meine unstillbare Gier nach Gesundung. Und ich habe dich dabei ganz krank gemacht.

Warum ich nichts gemacht habe, als du vor mir zusammengesackt bist, blutend und röchelnd? Ich wollte, dass du schreist. Dass du mich verfluchst, mich beschimpfst, mich verachtest, mich hasst. Ich bin schließlich deine Mörderin.
Aber alles, was du fast lautlos gewispert hast, war: „Mutti, es tut mir so leid, ich bin keine gute Tochter gewesen. Ich wollte doch nur, dass du ein bisschen glücklich bist“
Da fing ich an, wie von Sinnen zu schreien, aber es hörte sich nicht wie meine Stimme an. In Wirklichkeit war es deine, das weiß ich genau. Dein ganzer schlimmer Schmerz kroch aus dir heraus und in mich hinein.
Ich brüllte und das würde ich wahrscheinlich noch bis zum heutigen Tag tun, wenn man mich nicht mit Medikamenten und allen möglichen Mitteln vollgestopft und in Zimmer gesperrt hätte, wo fremde Menschen unablässig auf mich einreden und mir Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann und dann wütend werden, wenn ich über sie lache.

Das alles ist schon sehr lange her und ich denke fast nie daran zurück. Nur einmal in diesem tiefen, kalten Winter, als ich im Schnee dein Gesicht entdeckte, fiel es mir plötzlich wieder ein.
Das Weiß lächelte mich so strahlend und vergnügt und betörend an, dass ich mich hineinfallen ließ und die Wärme genüsslich in mich aufsog.
Und dann blieb ich dort liegen, für immer, für immer.
 

Rubinuit

Mitglied
Kein Weg

Habe soeben Deine Geschichte gelesen, sehr eindringlich intensiv erschreckend. Hätte zwar noch ein paar Fragen, aber ich lass es erst etwas wirken, stelle meine Fragen doch erst später..bis dahin :)
 

herb

Mitglied
Hallo Suzie,

wie machst du das, ohne zu verbrennen. da hält man die luft an,
so intensiv in die gedanken sich hineinzuversetzen.
da ist mir die handlung, das wirkliche geschehen, fast möchte ich sagen, egal. eine mutter hat schuldgefühle,
eine tochter hat sie verloren, ein sohn zur tochter gemacht,
oder er aus liebe zur mutter sich als tranvestit gegeben,
selber daran "kaputt" gegangen, ob der sohn sich nun wirklich als frau fühlte oder es aus liebe zur mutter tat, auf jeden fall hat er auf gräßliche art selbstmord gemacht,
ich weiß es nicht genau, vielleicht weiß es sogar die mutter nicht genau, auf jeden fall hat die mutter schuldgefühle und du drückst es sehr intensiv aus,
so verstehe ich es
das ist perfekt
 



 
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