Europa

Ich bin hasserfüllt. Ich bin ablehnend, ich bin verneinend. Ich bin gnaden- und reuelos, verachtend und verfolgend, voller Abscheu, voller Ekel. Ich bin inmitten Europas, in ihren erlahmten Eingeweiden, in ihren verstopften, verhärteten Arterien, zwischen ihren Metropolen, ihren Prachtstraßen, ihren Errungenschaften, den technischen, den ökonomischen, den fortschrittlichen, ihren Fabriken an Fabriken an Fabriken an Fabriken, ich bin zwischen ihren Strukturen und Prozessen, ihrer Mechanik, Zahnräder und Fließbänder und Lebensarbeitszeiten, ihren blutigen Gesten und blutigen Friedensmissionen und blutigen Machdemonstrationen, ihren Zahlen, Zahlen, Zahlen, ihren Fakten, Fakten, Fakten, ihren Werten, Werten, Werten, dem Warenwert, dem Arbeitswert, dem Lebens-, nein, dem Elendswert, ihren haltlosen Geldflüssen, ihren ökonomischen Irrealitäten, dem Wachstumsdiktat, dem Anpassungsdiktat, dem Unterwerfungsdiktat: ich bin unter ihrer Logik, unter ihrer Vernunft, unter ihrem Joch, unter ihrer Knute, unter ihrer Demokratie, unter ihrem Allmarkt. Hier esse ich, hier schlafe ich. Hier trinke und hier wärme ich, hier schöpfe und hier erschaffe ich, hier verteufle und verfluche und verdamme und verabscheue und vernichte ich. Europa, sie ist Industrie. Europa, sie ist arbeiten, sie ist werken, sie ist treiben. Niemals ist sie Schöpfung, niemals ist sie Kreation. Nichts und niemand von ihr kennt Verzweiflung. Nichts und niemand von ihr schwitzt Blut. Nicht eine Frau, nicht ein Mann in Europa, die voller Elend wären, die erfüllt wären mit Unglück. Diese fruchtlose Europa, dieser Tage kennt sie keine Plagen, weder Pest noch Cholera, weder Idee noch Seele, kein Verderben, kein Ende. Nichts dergleichen. Europa ist Organisation. Europa ist Form. Europa ist Pflicht. Und Fortschritt natürlich. Und Reformen. Und Wohlstand. Sie ist satt. Sie ist ohne Verlangen. Sie ist bewusstlos. Nichts von ihr ist dem Tode geweiht. Europa ist voller Leben, natürlich! Reiches und paarendes Leben, sammelnd und sortierend, anhäufend und vermehrend, bewegen, bewegen, bewegen, niemals verharren, schaffen, schaffen, schaffen, niemals erschaffen.

Es ist wahr: nichts und niemand in Europa endet. Nichts geht zugrunde. Wenn doch, dann bloß im Geheimen. Hinter dem Betrieb, hinter der Geschäftigkeit. Dort, wo man ihren Blick nicht spürt. Noch im Sterben begriffen, ist man schon verlassen, ist man, gleichwohl lebendig, schon dem Toten gleich: in seinem, beim Sterbenden tatsächlichen, beim Gestorbenen bereits gedachten, Beisein wird die Stimme gesenkt, die Worte sind gedämpft und phrasenhaft, der Schritt ruhig, die Gesten andächtig; der Abschied und der Ausschluss, sie sind bereits vollzogen. Alles Weitere ist Ritual.

In der Tat, ich bin inmitten Europas. Doch ich bin nicht von ihr und nicht aus ihr. Dieser Tage bin ich gefasst. Dieser Tage bin ich ruhig. Ich bin mir meiner selbst bewusst. Das Individuelle tritt hervor, grenzt sich ab, entzieht sich; das Gesellschaftliche hingegen tritt zurück, verlagert sich, wandelt sich zu einem beobachtbaren und fernen Außen.

Nichts anderes ist es, das Sterben.
 



 
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