Fahrenheit 2797

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Shinji-chan

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Fahrenheit 2797

Sie war bei 67% ihres täglichen Updates, als sie sich entschloss, das Buch zu holen.

Es spukte schon eine Weile in ihrem Kopf herum. Sie selbst verstand eigentlich gar nicht, warum es sie so faszinierte. Ihr Vater hatte eine riesige Sammlung an Dingen aus der Vergangenheit - „Antiquitäten“ nannte er sie, wie es auch auf dem verrosteten Messingschild stand, dessen Hologramm er in die gläserne Eingangstür zum Sammlerzimmer eingravieren lassen hatte. Aber bisher hatte sie das immer nur am Rande mitbekommen. Wenn er ein neues Stück ergattert hatte, erzählte er davon, sie hörte höflich zu, und dann war das Thema für sie auch schon wieder abgeschlossen. Das Sammlerzimmer betrat sie eigentlich nur, wenn sie ihren Vater holte, der sich dort gerne mehrere Stunden am Stück aufhielt.
Doch mit dem Buch war es anders. Er hatte es bei einer Online-Auktion auf der anderen Seite der Welt ersteigert, für eine Summe, die ihr fast die Tränen in die Augen trieb, obwohl auch ihr eigenes Einkommen weit über dem Durchschnitt lag. Es dauerte nur weniger Stunden, bis der Spezialkurier mit dem kleinen Päckchen vor der Tür stand. Ihr Vater war vor einigen Minuten aufgebrochen, um ein wichtiges Kundengespärch zu führen, daher hatte er ihr den Auftrag erteilt, die Sendung entgegezunehmen.
Für seine geringe Größe war das Paket ziemlich schwer. Dies lag vermutlich an der mehrere Zentimeter dicken Stahltruhe, in der das Objekt verpackt war. Schließlich wollte man nicht riskieren, dass es bei einem eventuellen Absturz des Hochgeschwindigkeitsjets beschädigt wurde. Ein Jet oder sein elektronischer Pilot konnten leicht ersetzt werden, doch dieses als „Buch“ titulierte Objekt war einmalig und unersetzbar.
Sie trug das Paket zum Sammlerzimmer und legte es dort, nach Anweisung ihres Vaters, in den Safe mit noch nicht katalogisierten Stücken. Sie stand schon wieder vor der automatischen Eingangstür, die gerade ihre DNA scannte, um ihre Durchgangsberechtigung zu ermitteln, als die Neugier sie übermannte.
Sie hatte schon mehrere Male ein Objekt für ihren Vater angenommen, aber es hatte sie noch nie so sehr interessiert, dass sie es selbst ausgepackt hätte. Doch diesmal konnte etwas in ihr der Versuchung nicht widerstehen. Mit ein paar schnellen Anweisungen an das Robotersystem war die Stahlschatulle auch schon geöffnet. Das Buch selbst war nur einen knappen Zentimeter dick und kaum größer als ihre Handfläche. Es war in einer durchsichtigen Plastikfolie eingeschweißt. Vorsichtig nahm sie es in die Hand.

FAHRENHEIT 451
Ray Bradbury​

stand in dicken roten Buchstaben auf der Vorderseite. Darunter war ein zweidimensionales Bild von einem lodernden Feuer gedruckt, in dessen Rauchschwaden eine menschliche Figur zu erkennen war.
Die Rückseite war mit einem mehrzeiligen Text versehen. Sie starrte einen Moment darauf, bevor sie merkte, dass keine automatische Stimme ihr Bilder dazu in den Kopf versetzte. Langsam begann sie zu lesen.
Feuerwehr, Bücher, Salamander, Videowände...
Es war eine seltsame Welt, die dort beschrieben wurde. Sie drehte das Buch wieder herum. Welchen Zweck es wohl erfüllte? Mit einem Schulterzucken überließ sie es dem automatischen Katalogisierer.

Ihr Vater war noch weitere drei Tage unterwegs, um wichtige Gespräche mit seinen Kunden auf der ganzen Welt zu führen. Der direkte Kontakt war das Qualitätsmerkmal seines Unternehmens. Obwohl er auch im realen Leben Wert darauf legte, kontaktierte seine Tochter ihn am zweiten Tag per Videobotschaft und gestand das Öffnen das Paketes. Statt sich zu beschweren, begann er begeistert von der Alten Welt zu erzählen, in der Bücher ein Portal in fremde Welten waren.
„Aber es gibt doch schon lange Filme!“, wunderte sie sich.
„Oh ja, und davor gab es Theateraufführungen. Lange haben gespieltes und geschriebenes Wort koexistiert, beide hatten ihren eigenen Reiz. Aber die Filme waren anders als das, was wir heute kennen. Sie waren keine wortgetreuen Projektionen, sondern vielmehr Interpretationen.“ Die Stimme des Sammlers war voller offener Begeisterung. „Und ein Buch war auch mehr als nur Stoff für einen Abend. Manche Bücher waren hunderte von Seiten lang, sodass man mehrere Tage daran gelesen hat! Damals hatte die ganze Welt ein anderes Tempo!“
Sie schwieg staunend.
Ihr Vater lächelte. „Ich freue mich, dass du dich mal für eins meiner Stücke interessierst.“

Nach dem Telefonat verband sie sich mit dem Nachrichtensystem, um ihr Wissen über aktuelle weltpolitische Geschehnisse aufzufrischen. Währenddessen dachte sie über Bücher nach. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie Menschen so viel Zeit damit verbracht haben konnten, eine einzige Geschichte zu lesen, die selbst in einem der alten Filme in zwei Stunden gut zusammengefasst werden konnte. Sie empfand Lesen als eine anstrengende und lästige Tätigkeit. Die meisten Texte, die ihr in ihrem Arbeitsalltag begegneten, wurden sofort vom Computersystem in ihr Gehirn eingespeist. Doch mit den vollkommen technologiefreien Seiten der Büchern war das unmöglich. Jeder Buchstabe, jedes Wort, jedes Satzzeichen mussten von ihr aktiv verstanden und gedeutet werden. Warum tat man sich so viel Arbeit an für nichts weiter als eine fiktive Geschichte?
Mit einer Mischung aus Unverständnis und Neugier betrat sie nach dem Update erneut das Sammlerzimmer. Das Buch war inzwischen in einer Vitrine am anderen Ende untergebracht, an der Fensterfront, die einen Ausblick über die Stadt aus Stahl bot. Doch daran war sie nicht interessiert. Sie hatte nur Augen für das Buch. Um es herauszunehmen, fehlte ihr ein Code, den nur ihr Vater kannte, doch das dreidimensionale Hologramm, das beim Katalogisieren automatisch erstellt wurde, erlaubte es ihr auch so, es von allen Seiten zu betrachten. Nachdem sie den Beschreibungstext gelesen hatte, verstand sie auch etwas besser, was es mit dem Bild auf der Vorderseite auf sich hatte. Es war ein Stapel brennender Bücher, da diese in der dystopischen Welt dieser Geschichte verboten waren. Und die Gestalt im Rauch war einer der Feuerwehrmänner, die für die Büchervernichtung verantwortlich waren. Vielleicht war es Guy Montag, der Protagonist?
Doch der Text beantwortete nicht alle ihre Fragen. Warum mussten die Bücher verbrannt werden? Was konnte an einem Stapel Papier schon gefährlich sein? Vielleicht verschwendeten die Menschen zu viel Zeit mit ihnen, anstatt sich mit ihren realen Leben oder ihrer Arbeit zu beschäftigen.
Ein kurzer Gedanke genügte, um sie mit der virtuellen Enzyklopädie zu verbinden. Natürlich gab es dort die komplette Geschichte zum Download und viele Erläuterungen und Deutungsmöglichkeiten. Nach einigen Sekunden hatte sie Guy Montags komplette Erzählung im Kopf. Erst verbrannte er Bücher, dann las er sie, dann musste er fliehen. Der Titel spielte auf die Selbstentzündungstemperatur von Papier an. Und das Übel der Bücher lag offenbar darin, dass sie den Menschen eigene Gedanken in den Kopf pflanzten. Sie verbrachte noch ein paar Minuten damit, Interpretationen des Romans zu überfliegen. Doch nichts davon beeindruckte sie wirklich.

Obwohl der Inhalt der Geschichte sie nicht sehr fasziniert hatte, ließ der Gedanke an Bücher und Lesen sie nicht los. Am nächsten Tag tat sie sogar etwas, das sie noch nie getan hatte: Sie schaltete die automatische Lesevorrichtung an ihrem Computer aus, bevor sie das Dokument öffnete, das sie für die Arbeit noch durchgehen musste. Und dann begann sie zu lesen. Wie auch beim Klappentext des Buchs war es mühsam, jedes Wort einzeln wahrzunehmen. Doch sie hatte das Gefühl, dass der Inhalt auf einmal bedeutsam erschien. Dort hatte jemand seine Gedanken bezüglich eins der firmeneigenen Produkte formuliert, und sie als Qualitätsmanagerin sollte jedes seiner Worte gründlich abwägen, bevor sie eine Antwort formulierte. Schließlich war Kundennähe der Leitwert des Unternehmens! Wie konnte man dem gerecht werden, wenn man in einer Sekunde den gesamten Inhalt verschlang, ohne sich seine Formulierung auf der Zunge zergehen zu lassen? An diesem Tag ging ihre Arbeit langsamer voran als sonst, doch sie hatte das Gefühl, sie zum ersten Mal richtig zu machen.
Auch nach dem Feierabend konnte sie mit dem Lesen nicht aufhören. Sie suchte eine Geschichte heraus, die sie als Kind jeden Abend vor dem Einschlafen eingeflößt bekommen hatte. Und sie las zum ersten Mal jedes Wort, statt nur einen Film vor Augen zu haben. Jedes Wort war wichtig, um die Geschichte des Hasen herüberzubringen, der nicht schlafen konnte. Er konnte die Ratschläge der Eule und all seiner anderen Freunde nicht herunterladen, sondern musste zu ihnen gehen und mit ihnen sprechen. Es war ein längerer Lernprozess und keine plötzliche Erkenntnis, die ihn schließlich einschlafen ließ. Er lernte dabei seine Freunde zu schätzen und gewann an Lebenserfahrung.
Bevor sie einschlief, wünschte sie sich, der Hase zu sein. Sie wollte lernen statt wissen.

Es war am nächsten Morgen, dass sie ihr Update unterbrach, um das Buch zu holen. Der Sicherheitscode ihres Vaters ließ sich leicht überwinden, wenn man sich im System auskannte. Und schon hatte sie das Buch in der Hand und die Folie heruntergerissen.
Es war Zeit zu lesen.

Sie hatte bereits, trotz langsamen Lesens, fast die Hälfte erreicht. Ihr Blick schweifte ab, über die große Stadt, die sich rundherum erstreckte, über große Werbebildschirme an den Fassaden, über riesige Videoschirme an den Wänden ihrer Nachbarn, über Menschen, die sich im konstanten Strom durch die Stadt bewegten und möglicherweise gerade ihr Wissen über die eine oder andere Sache erneuerten, ohne jeglichen Lernvorgang. Und das in einer Welt, in der niemand Bücher verboten hatte.
Und sie beschloss, dass etwas brennen musste. Der Schmelzpunkt von Stahl betrug 2797 Fahrenheit.
 

Sebahoma

Mitglied
Hallo Shinji-chan,

mir hat das Lesen deiner Geschichte gefallen. Die Idee darin finde ich sehr interessant!
Ich habe mich gefragt, ob man am Ende vielleicht noch mehr darauf eingehen könnte, warum es der Welt schlecht geht, wenn die Leute nicht mehr richtig lesen.

Viele Grüße,
Sebahoma
 

herziblatti

Mitglied
Hallo Shinji-Chan, ein kluger Text, den ich sehr mag - ich bin Bradbury-Fan. Gut gebaut, bis zum Schluss, Nero ist überall :) LG - herziblatti
 

Vagant

Mitglied
Ja ja, die gute alte Welt. Aber hallo erstmal.
Die Thematik und der Plot deiner Geschichte haben mir sehr gut gefallen. Ich finde es allerdings schade, dass gerade die, die das Zeug dazu hätten, sich hier sprachlich nichts trauen. Ich denke, hier hätte man ein bisschen überzeichnen können. Nicht ins Groteske, aber irgendwo auf diesen schmalen Grat, dieses Coen-Brother-typische, dieses woodyalleneske. Das ist aber auch nur so'ne persönliche Meinung von mir. Dein Text ist ja blitzsauber geschrieben ... halt so, wie du ihn dir vorgestellt hast, und deshalb ist es dann auch OK so. Also Fazit ; starkes Ding.
LG Vagant.
 

Shinji-chan

Mitglied
Danke für euer Feedback!

Ich muss sagen, ich bin auch noch nicht hundertprozentig zufrieden mit dem Ende, da bleibt mir auch noch etwas zu viel übrig. Hab, nachdem ich erst mal die Idee hatte, den Großteil des Textes in einer Nacht geschrieben und hatte dann Angst, dass ich es nie zu Ende bringe, wenn ich zwischendurch aufhöre...
Vagant, mit dem Kommentar zur Sprache hast du wahrscheinlich Recht! Ich habe länger nichts geschrieben und merke, dass mein Ausdruck darunter gelitten hat. Hab in letzter Zeit so viele Englische Bücher gelesen, dass ich ins Deutsche erst mal wieder reinkommen muss!
 



 
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