Falsch verbunden

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Kayl

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„Hallo!“
„Guten Tag, könnte ich Dr. Schneider sprechen?“
„Hier gibt es keinen Dr. Schneider und ich kenne keinen Dr. Schneider!“
„Dann habe ich mich wohl verwählt.“
„Sieht ganz so aus.“
„Halt, bitte nicht auflegen!“
„Warum nicht, was gibt es denn noch?“
„Ich weiß auch nicht … Ihre Stimme …“
„Liebe Frau, ich kann meine Zeit nicht am Telefon vertrödeln. Auf meinem Computer staut sich eine lange Liste von Mails, Mitarbeiter warten auf Anweisungen, ich warte auf ein Auslandsgespräch, in wenigen Stunden muss ich am Flughafen sein, und Sie … Was ist mit meiner Stimme?“
„Entschuldigung. Ich wusste nicht, dass Sie in Eile sind. Aber als ich Ihre Stimme hörte, ging es mir besser.“
„Wieso, ging es Ihnen schlecht?“
„Kann man so sagen.“
„Fehlt es an Geld?“
„Nein.“
„Sind Sie obdachlos?“
„Nein.“
„Also, inwiefern geht es Ihnen schlecht?“
„Mir ging es schlecht, jetzt geht es mir besser.“
„Durch meine Stimme?“
„Richtig.“
„Sagen Sie doch endlich einmal, warum es Ihnen schlecht ging.“
„Nicht so einfach zu erklären.“
„Versuchen Sie es!“
„Vor mir brennt ein Teelicht. Wissen Sie, so eines, die es zu hunderten im Supermarkt gibt und zu hunderten abgebrannt werden in Stövchen und Servierplatten. Sonst habe ich kein Licht an, nur dieses Teelicht.“
„Und was hat das mit Ihrem Wohlergehen zu tun?“
„Ich sehe in diese Flamme. Das ist beruhigend. Aber einen Moment später macht sie mir Angst.“
„Warum kann eine kleine Flamme Angst machen, und was hat das mit Dr. Schneider zu tun?“
„Dr. Schneider versucht, mir diese Angst zu nehmen.“
„Und warum blasen Sie die Flamme nicht einfach aus?“
„Ich muss in diese Flamme sehen. Es ist so, als ob ich einen Berg übersteigen müsste oder einen Fluss durchqueren. Auf der anderen Seite wartet mein Sohn.“
„Haben Sie noch mehr Kinder?“
„Nein, ich hatte nur diesen Sohn.“
„Sie hatten …?“
„Ja. Ich muss da immer wieder durch, durch diese Flammen. Das ganze Haus eine rote Glut. Ich muss da durch, zu meinem Sohn! Halte ich Sie auf?“
„Nein. Wie alt war Ihr Sohn?“
„Sieben. Diese Flammen! Ich wollte da durch. Männer in blauen Uniformen haben mich zurückgeholt, haben meine brennenden Kleider gelöscht.“
„Ist Dr. Schneider Arzt?“
„Ja. Aber das ist doch unwichtig. Sagen Sie ehrlich, halte ich Sie nicht auf? Sie müssen doch zum Flughafen.“
„Ich muss gar nichts!“
„Habe ich Sie zu lange festgehalten?“
„Ich muss nicht zum Flughafen! Wie hieß denn Ihr Sohn?“
„Felix. Er ging gern zur Schule. Aber noch viel lieber kam er heim. Müssen Sie sich nicht um Ihre Firma kümmern?“
„Ich habe immer nur von einer eigenen Firma geträumt. Meine Frau war dagegen.“
„Das tut mir leid.“
„Halb so schlimm. Jetzt bin ich Rentner.“
„Ach, wie alt sind Sie? Und wo sind Sie?“
„Ich habe vor einer Woche meinen 75. gefeiert, zusammen mit einer Pflegerin von der Caritas.“
„Dann darf ich Ihnen nachträglich gratulieren. Wo sind Sie?“
„Daheim, in meiner Wohnung. Gleich werde ich in die Küche rollen und mein Abendessen wärmen.“
„Sie rollen in die Küche?“
„Nun ja, ich bin schlecht zu Fuß. Ich auf Rädern und das Essen auf Rädern. Ich nehme es mit Humor.“
„Da kann ich Ihnen auch noch einen guten Appetit wünschen.“
„Danke. Es ist irgendwie ermutigend, wenn man mal wieder angerufen wird.“
„Das kann ich verstehen. Das Teelicht brennt noch. Es ist so tröstend.“
 

valcanale

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Hallo Kayl,
ein schöner Dialog, wo mit wenigen Worten viel gesagt wird. Beeindruckend die überraschende Wendung zum Schluss! Hab ich gern gelesen.
LG Valcanale
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Kayl,

Dein Dialog zeigt: Die Welt da draußen ist randvoll mit Geschichten! Hat mir ausnehmend gut gefallen!
Liebe Grüße
Petra
 

Clara

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mal abgesehen davon, dass ich von einem Mann ausging, der vor dem Teelicht hockt ist die Geschichte spannend und gut verdaulich ohne Schlenker geschrieben.

diese irrenden älteren Bürger mit der Falschen Taste
bekommen sie Unterhaltung gratis,wenn man nicht gleich auflegt.
Mit der Wählscheibe hatte man sich aber häufiger verwählt..
 



 
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