Familienbesuch

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Sieben Jahr war es nun her. Sieben Jahre, das sind vierundachtzig Monate. Sieben verdammte Jahre. Dieser Feigling! Sieben Jahre hat Tom nichts mehr von sich hören lassen, so ein Idiot! Energisch fuhr Anna sich durch's Haar. Mit der rechten Hand griff sie nach der Bürste, mit der linken nach einem Gummiband. Streng band sie sich die Haare zu einem Zopf. Anschließend fuhr sie mit der Hand über den Kopf um die letzten abstehenden Haare zu glätten. Was er wohl jetzt macht? Früher träumte er immer von einem Luxusschlitten und einem supper Job, am besten gleich Chef, in einer gutzahlenden Firma. Am liebsten hatte er sich das Leben eines Geschäftsführers ausgemalt, mit einem schwarzen Mercedes. Anna hatte scherzhaft seine geilen blonden Weiber auf der Motorhaube erwähnt. Ganz viel Haut sollten sie zeigen. Jaja, sie hatten zusammen gelacht. Der Möchtegern-Millionär und sie.
Anna setzte sich an den Schreibtisch und beugte sich über ihre Mathehausaufgaben. Textaufgaben, sie hasste es. Widerwillig griff sie nach Stift und Papier, las die Aufgabe durch. Las sie noch einmal durch. Ihr Blick schweifte aus dem Fenster. Sie spähte auf die Straße. Es war recht viel los, dort unten. Gelbe, rote, weiße Autos – aber kein schwarzer Mercedes. Ob Tom inzwischen eine Freundin hat? Sicher eine schlanke Blonde. Vielleicht eine Journalistin? Oder eine Moderatorin? Nein, sicher hat er sich ein geiles Supermodel geangelt. 90-60-90 und abends nur Spinat. Anna lächelte ironisch. Inzwischen tummelten sich ein paar Zahlen auf dem Blatt. Nun sollten sie nur irgendwie in Beziehung zueinander gebracht werden. Vielleicht so?, sie stellte eine Gleichung auf. Wenn er reich ist, fuhr es ihr durch den Kopf, bringt er uns sicher etwas mit. Ein "kleines" Geschenk, das in Wirklichkeit ein Vermögen kostet. Er würde grinsen, seine Mieze am Arsch streicheln und gespielt verlegen behaupten, das sei doch nicht so wild. Nur eine Kleinigkeit. Um sich einzuschmeicheln, würde ihr Bruder sie beschenken. Aber mit mir nicht! beschloss sie. Mit mir nicht!
Die Gleichung nahm langsam Gestalt an. Ich muss ihn irgendwie beeindrucken, schoss es Anna durch den Kopf. Negativ, versteht sich. Sie sprang auf, wühlte in ihrem Kosmetikschrank und griff nach einer Spraydose und einem Kamm. Sie hielt die Haarsträhnen fest und kämmte mit dem Kamm rückwärts, zum Kopf hin. Dadurch bekamen sie mehr Volumen und wirkten wild und zottelig, fand sie. Anschließend besprayte sie ihre Haarpracht mit dem schwarzen Spray und zog ihre Lider mit Kajal nach. Es klingelte. Oh Shit, ich bin doch noch gar nicht fertig! Sie hörte wie ihre Eltern Tom und seine Freundin empfingen. "Anna! Dein Bruder ist da!" schrie ihre Mutter durch die Wohnung. "Komme gleich!", antwortete sie. Schnell griff sie nach einer pinken Seidenstrumpfhose und einem schwarzen Mini. Rasch zog sie sich um. Über ihr Top strich sie ein rotes Häckelshirt. Sie begutachtete sich im Spiegel und verließ den Raum.
Ihre Mutter und ihr Vater saßen mit den "Gästen" im Wohnzimmer und servierten Kaffe und Kuchen. Anna stand in der Tür. "Wie siehst du denn aus?" entfuhr es ihrer Mutter entsetzt. "Ich? Wieso?", fragte sie schnippisch und setzte sich auf die Sofalehne. "Man wird ja wohl noch was Neues ausprobieren dürfen." "Aber das..." ihre Mutter erinnerte an eine alte, verwirrte Oma. "Als ich in deinem Alter war, habe ich auch immer alles Mögliche ausprobiert." Mischte sich Toms Freundin ein. Wie konnte sie es wagen? Kaum hier, und schon denkt sie, hier so vorlaut sein zu dürfen! Wie sah sie überhaupt aus! Anna beäugte sie kritisch. Blaue Jeans, einen roten Pulli und schwarze kurze Haare. Gar nicht schlank, wohlgeformt. Nett, dachte Anna. Scheiße! regte Anna sich innerlich auf. Ich finde, sie sieht nett aus! Stopp, nein, wieso ist sie nett?
Ihr Bruder meldete sich kaum zu Wort, er wirkte etwas schüchtern. Dafür war seine Freundin umso lebhafter. "Was arbeitest du denn?" wurde die Freundin von Annas Vater gefragt. Sie waren also schon beim DU. Irgendwie klar... "Anna, darf ich mal dein Zimmer sehen?", fragte die Schwarzhaarige. Anna nickte und führte sie in ihren Raum. Schon seltsam. Sonst ließ sie nur ungern jemanden in ihr Quartier. "Wie heißt du eigentlich?", fragte Anna. "Sibylle", antwortet die junge Frau und lächelte. "Und das sind deine Freunde?" wollte Sibylle wissen und deutete auf ein Foto an der Wand. "Ja, das sind Tina und Jenny", bestätigte Anna. "Schönes Zimmer", meine Sibylle. "Doch gefällt mir echt." Anna glaubte ihr. "Telefonierst du gerne?" fragte Sibylle. Anna verdrehte die Augen. "Ich finde nicht, dass ich lange telefoniere. Aber Mama. Sie beschwert sich andauernd!" "Jaja, das kenne ich. Meine Mutter ließ mich manchmal einen Anteil der Telefongebühren zahlen!" "Soweit ist sie zum Glück nicht. Aber ich könnte nicht ohne...". Anna lächelte. Die beiden kehrten wieder ins Wohnzimmer zurück.

"So, jetzt müssen wir aber gehen. Wir haben noch einen Termin." sagte Tom nach einer Weile. Sie verabschiedeten sich, vereinbarten ein neues Treffe und verließen das Haus.
Anna half ihrer Mutter das Kaffeegeschirr wegzuräumen. "Schön, dass wir wieder zueinander gefunden haben." sagte ihre Mutter und küsste ihren Mann auf die Wange. "Er hat sich gemacht, das muss man im lassen." meinte ihr Vater. "Ich weiß nicht..." warf Anna ein. "Aber seine Freundin, die ist ganz nett."
 



 
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