Fast wie ein altes Ehepaar

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joachim

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Abrupt kam der Bentley neben der Zapfsäule zum Stehen und wäre um ein Haar auf das rote Cabrio aufgefahren, so sehr war Lord Arthur Gainsborogh von der reizenden Lady fasziniert, die dieses gerade betankte.
Er stieß die Wagentüre auf und hatte dabei kein Ohr für Elizabeth, seine Schwester, ein ältliches Fräulein in graubraunem Tweed, die ihm mitzuteilen versuchte, dass sie „nur mal schnell aufs stille Örtchen müsse“. Ächzend schälte sich der Lord aus seinem Sitz, ging steifbeinig um den Bentley herum und begann, ihn ebenfalls zu betanken.
Aus den Augenwinkeln betrachtete er die Lady voll Bewunderung. Sie war ganz in Weiß gekleidet. Ihr eleganter Hosenanzug und der breitkrempige Hut auf ihrer wallenden roten Mähne gaben ihr die Aura einer unerreichbaren Göttin. Und als sie dann einmal zu ihm herüberlächelte, entrannen sich seiner Brust ein paar heimliche Seufzer.
Fast zur gleichen Zeit kamen sie beim Kassenhäuschen an, und während sie zahlte, stand Lord Arthur hinter ihr und sog voll Sehnsucht und mit geschlossenen Augen den betörenden Duft ihres Parfums in sich auf.

„Oh Dear! Hast du gerade diese elegante Lady in ihrem bezaubernden roten Cabrio vor uns gesehen?“, ergriff der Lord das Wort, nachdem er, den Blick noch immer auf den just davonbrausenden Flitzer geheftet wieder eingestiegen war und den Bentley in Gang gesetzt hatte, „ich muss dir ein Geständnis machen: Ich habe mich soeben verliebt! Wer hätte das je gedacht! Ich, Arthur William Archibald der achte, Herr auf Wilbury-Castle, vierzehnter Lord der Grafschaft Gainsborough und Besitzer ausgedehnter Ländereien im Umkreis von über einhundert Meilen, ein Mann Mitte fünfzig, Jäger und überzeugter Junggeselle: Ich habe mich verliebt. – Verliebt!“ Sekundenlang verharrte er in diesem ungeheuerlichen Gedanken, bis er bemerkte, dass er Gas zu geben vergaß und der Wagen langsam ausrollte.
„Was sagst du dazu, Elizabeth?“, fragte er dann nach hinten, wo er seine Schwester wusste. Er beschleunigte, um den roten Wagen wieder einzuholen. „Oh, man könnte es eine Tragödie nennen“, gab er sogleich sich selbst die Antwort ohne die ihre abzuwarten, „wenn es nicht andererseits ein so erhebendes Gefühl wäre. Ja, ein Gefühl, das – und da glaube ich, auch in deinem Namen sprechen zu dürfen, Lizzy, – ein Gefühl, das wir beide so wohl noch nie erfahren haben.“ Aufgekratzt einen alten irischen Walzer vor sich hinsummend passte er seinen Fahrstil dem Dreivierteltakt an.
Und auch die Lady vor ihm schien Vergnügen an seiner Verfolgung zu haben. Lächelnd wandte sie ihren Kopf und sah amüsiert nach hinten. Dabei züngelten ihre roten Haare im Fahrtwind wie Flammen unter ihrem Hut hervor und setzten das Herz Lord Arthurs in Brand.
„Nun, meine Liebe“, spann er den Faden weiter, „deinem betroffenen Schweigen entnehme ich, dass dir diese Seite deines Bruders nicht behagt: der Mann, der fremden weiblichen Reizen zugetan ist. Gewiss: stets hielt ich mich zurück und du musstest glauben, das andere Geschlecht ließe mich kalt. Und, ich gestehe, es war ja auch überaus bequem für mich mit dir als derjenigen, die all die Jahre für mich sorgte, seit wir unsere Eltern damals verloren. Doch als ich vor wenigen Minuten in die Aura dieser Lady trat, da war es um mich geschehen.“ Lord Arthur beschleunigte und versuchte, das Cabrio zu überholen, um im Vorbeifahren einen Blick auf die Lady zu erhaschen.
„Ich sehe, mein Geständnis hält dich stumm“, fuhr er fort und seufzte, nachdem er im Passieren die Lady mit erhobener Hand gegrüßt und dafür von ihr ein lächelndes Kopfnicken geerntet hatte, „aber du musstest damit rechnen, dass dies eines Tages geschehen könnte. Spiele also nun bitte nicht die Beleidigte.“ Er blickte in den Rückspiegel und setzte den Bentley vor das Cabrio. „Immer wieder habe ich dir gesagt: Elizabeth, sagte ich, schau dich um nach einem adäquaten Partner für dich. Aber dir war ja kein Mann gut genug, nicht wahr? Außerdem, so glaube ich, war es auch für dich viel bequemer, an meiner Seite die Herrin auf Wilbury-Castle zu geben, als Verpflichtungen einem Gatten gegenüber eingehen zu müssen.“ Lord Arthur verlangsamte sein Tempo und ließ sich nun seinerseits von dem roten Flitzer überholen. Sandte verliebte Blicke zu der Lady hinüber und passte seinen Fahrstil aufs Neue dem Dreivierteltakt an.
„Dafür war ich in all den Jahren ein dich umsorgender Bruder, nicht wahr?“, fuhr er fort und schickte dem vor ihm fahrenden Wagen ein Kusshändchen nach. „Oh, ich weiß, ich war es“, ließ er sie nicht zu Worte kommen. „Doch wäre es besser gewesen, ich hätte auf den Rat meiner Freunde gehört. Alle haben sie mich gewarnt, sagten, Schwester und Bruder, nein, auf Dauer kann das nicht gut gehen, sagten sie. Ich aber, was tat ich? Ich schlug ihre Warnungen in den Wind und passte mich, ohne es zu merken, mehr und mehr dir an. So wurden wir im Laufe der Jahre fast so etwas wie ein altes Ehepaar. Oh Lizzy, was nur ist aus uns geworden? Ein altes Ehepaar“, wiederholte er. „Früher, ja, da waren wir voll Elan, redeten tage- und nächtelang über Gott und das Universum. Und heute? Heute gibst du mir nicht einmal mehr Antwort, wenn ich dich etwas frage. Bitte, Elizabeth, sage mir ... oh, was ist das?“

Im rechten Außenspiegel sah Lord Arthur ein schweres Motorrad mit Blaulicht heranbrausen. Anschwellendes Sirenengeheul. Das Rad fuhr auf gleiche Höhe mit seinem Wagen und ein Bobby bedeutete ihm, auf dem Seitenstreifen anzuhalten. Schlechten Gewissens wegen seines Fahrstils im Walzertakt fuhr er links ran.

Auf den Sozius des Motorrades klammerte sich eine vom Fahrtwind völlig zerzauste Person im graubraunen Tweed-Kostüm.
„Oh, my God!“, entfuhr es Lord Arthur voll Schreck und er wandte den Kopf.

Der Fond des Bentley war leer.

Und der rote Flitzer auf und davon.
 



 
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