Fata Morgana

Tallit

Mitglied
Wie ein grauer Schleier verdeckten die großen Regentropfen das vergitterte Fenster. Es hing gut zwei Meter über ihm, heute konnte er nicht einmal den Himmel sehen. Die schiefergrauen Wände um ihn herum waren beängstigend eng, als gönnten sie ihm den letzte Atemzug nicht. Die Tropfen trommelten in immer gleichbleibenden Schlägen, raubten ihm den Verstand, wiegten ihn in eine schaukelnde Gleichgültigkeit. Kein Licht, keine Luft. Durch die unbezogene Matratze kroch die Kälte in seine Glieder, in seinen Fingern hatte er kein Gefühl mehr, eine Starre hatte sie unbeweglich gemacht, sie ganz sich selbst überlassen. Bluteten sie? Weinten sie? Sie konnten es nicht, kein Wasser, keine Luft, kein Licht. Nicht einmal Leere.
Bist du traurig, Jerome? Du brauchst nicht. Du bist frei. Die Wüste liebt dich wie eine Mutter. Eure Seelen berühren sich, auch wenn die dicksten Wände sie trennen. Blutest du? Weinst du? Du brauchst nicht, sie tröstet dich.

Hast du mich vergessen? Kennst du meine Sandwinde nicht mehr, meinen Mond? Klarer als irgendwo sonst scheint er hier. Ich liebe dich, vergiss das nicht. Ich kenne dich, du vergisst nicht. Sind deine Augen noch offen? Das brauchen sie nicht, du siehst mich nicht. Du fühlst mich. Trocken und heiß, weißt du noch? Schließe deine Augen, sofort, ich befehle es dir, schließe sie, du brauchst sie nicht mehr. Fühlst du noch dein Herz in deiner Brust? Klopft es? Du lebst, siehst du. Hab keine Angst. Der Tod ist mein Verbündeter. Wenn er dich auch holt, du wirst bei mir sein. Siehst du, auch mich halten alle für tot, du nicht, du kennst mich, wie ich dich kenne, ich lebe. Lache oder weine, es ist mir gleich, aber lebe. Das ist das einzige Gesetz, dem du gehorchen musst. Es ist das Gesetz der Wüste und der Freiheit, es ist ein Gesetz, das du selbst wählen kannst. Gehorche ihm oder nicht, du entscheidest.

Er hatte die Augen geschlossen. Ich liebe dich, flüsterte er, ich liebe dich auch, aber dieses eine mal bin ich alleine. Ich vermisse dich, ich sehne mich so nach dir, doch was diese Fata Morgana in mein Ohr haucht ist eine Lüge. Die Entscheidung haben sie mir längst genommen. Ich werde dich nicht wiedersehen. Adieu, meine Wüste, ich werde dich nie vergessen. Du weißt, ich bleibe bei dir. Sie kennen mich nicht, sie wissen nicht, wer ich bin - ich bin du - eine Lüge. Adieu.
 

kosta

Mitglied
Deine Kurzgeschichte zeichnet sich durch eine große Emotionalität aus und hat eine sehr dichte Atmosphäre. Nur weiter so, "Fata morgana" hat mir enorm gefallen!
 



 
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