Fataler Irrtum

3,50 Stern(e) 2 Bewertungen

Yoanna

Mitglied
"Ich weiß selbst nicht mehr, wie ich so etwas tun konnte!"
Simone Lepercq nestelte an ihrem zerknüllten Papiertaschentuch und schneuzte sich hinein.
"Ich musste einfach handeln, es konnte so nicht mehr weiter gehen!"
Polizeikommissarin Viviane Deflandre hörte aufmerksam zu und spielte dabei mit einem in braunes Wildleder gebundenen Buch, das vor ihr auf dem Schreibtisch lag.
"Gut, dann erzählen Sie mir doch bitte alles von Anfang an. Sie kannten Gilbert Mathieu seit – wie langer Zeit?"
"Seit acht Jahren. Als ich bei dem Reifenhersteller im Einkauf anfing. Aber seit sieben Jahren erst sind wir – waren wir, ein Paar, das heißt, wenn man es so nennen will …"
Simone kämpfte sichtlich mit den Tränen. Viviane seufzte. 'Das kann ja noch dauern, bevor wir hier fertig sind', dachte sie.
"Gut. Und Madame Mathieu wusste von dieser Affäre ihres Mannes? Kannte sie Sie?"
"Sie kannte mich natürlich, von Betriebsfeiern her. Sie kam regelmäßig zu den Jahrestreffen und auch schon mal, wenn ein Jubiläum gefeiert wurde. Wir wechselten dann meist ein paar Worte, höflich und unverbindlich, wie das so geht. Aber sie hat keine Ahnung gehabt, bis Gilbert ihr Anfang 2000 reinen Wein einschenkte."
"So. Er sagte ihr also die Wahrheit. Einfach so? Spontan? Oder hatte er einen Grund dazu?"
"Na ja, es gab schon einen Anlass." Simone Lepercq räusperte sich. "Also, ich hatte ihm eine SMS geschickt, und die hat zuerst sie gelesen, nicht er. Ich weiß, es war dumm von mir, am Neujahrsmorgen eine SMS zu schicken, ich hatte das auch noch nie getan. So hatten wir es vereinbart: Anruf auf dem Handy nur in Notfällen, SMS gar nicht. Aber es war doch ein ganz besonderes Silvester gewesen, und ich hatte solche Sehnsucht. Da habe ich gegen unsere Regel verstoßen und eine Nachricht geschickt."
"Hm, und dann wusste sie auf einmal Bescheid. Wissen Sie, wie sie reagiert hat?"
"Natürlich weiß ich das, Gilbert hat es mir ja erzählt. Hysterisch ist sie geworden. Hat ihn zur Rede gestellt wie einen Schuljungen, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Sie war nämlich nervenkrank, müssen Sie wissen. Manisch depressiv, war schon lange in Behandlung deshalb. Darum hat Gilbert ihr ja auch nichts von uns gesagt. Weil er Angst hatte, sie würde dann noch tiefer abrutschen.
Sie war eine sehr labile Frau, ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs, und sie regte sich über alles und jeden maßlos auf. Sie hatte eine regelrechte Putzwut entwickelt. In ihrem Haus blitzte es nur so. Wer hereinkam, musste sich gleich Filzpantoffeln anziehen, um das Parkett zu schonen. Jede benutzte Tasse wurde sofort abgespült, obwohl es eine Spülmaschine gab, und wenn man es wagte, sich auf das Alcantara-Sofa im Wohnzimmer zu setzen, hatte man sofort das Gefühl, es beschmutzt zu haben, nur weil man sich draufgesetzt hatte. Gilbert hat es mir oft erzählt. Er hat sehr darunter gelitten."
Hier hielt Simone kurz inne, um sich erneut zu schneuzen.
"Als Finanzleiter hatte er natürlich eine große Verantwortung im Unternehmen. Er war es gewohnt, wichtige Entscheidungen zu treffen und ihre Konsequenzen zu tragen. Für seine Frau fühlte er sich ebenfalls restlos verantwortlich, übertrieben verantwortlich, wenn Sie mich fragen. Ich habe ihn oft daran erinnert, dass ich auch noch da bin, dass unsere Beziehung auf Dauer so nicht bestehen kann. Aber er fühlte sich seiner Frau gegenüber dermaßen verpflichtet, dass er sich einfach nicht von ihr trennen konnte."
Viviane spielte weiter mit dem Buch. Solche und ähnliche Geschichten waren ihr tägliches Brot. Ehebruch und Eifersucht, wohin man schaute, Lug und Betrug allerorten. Aber sie hatte sich ihren Beruf schließlich selbst ausgesucht, und so waren die Menschen nun mal. Wenn sie ehrlich war, musste sie sogar zugeben, dass es eben die menschlichen Schwächen und Fehler waren, die sie interessierten und die ihren Beruf für sie so spannend machten.
"Wissen Sie eigentlich", fuhr Simone fort, "wie es ist, wenn man jahrelang nur 'die Geliebte' ist, immer nur die zweite Geige spielt im Leben des Mannes, den man liebt? Auf Einladungen erscheinen Sie stets ohne Partner, und die mitleidigen Blicke der Anwesenden brennen Ihnen nur so im Rücken: 'Ach, hat sie immer noch keinen gefunden. Na, wird aber doch langsam Zeit, in ihrem Alter!' Ihren eigenen Geburtstag, sämtliche Festtage im Jahr verbringen Sie ohne ihn und stellen sich vor, wie er jetzt den liebevollen Ehemann und Familienvater spielt. Während Sie zu Hause sitzen und sich Episode 583 der Daily Soap ansehen.
Aber sie wollte ihn nicht gehen lassen, wie eine Klette hing sie an ihm. Auch nachdem sie es dann wusste, wollte sie ihn nicht loslassen. Auf Knien angefleht hat sie ihn, dass er sie nicht verlassen soll. Genau so hat er es mir erzählt. Furchtbar muss das für ihn gewesen sein."

Es kopfte an der Tür.
"Herein!", rief Viviane ungeduldig.
"Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber Frau Lepercq wird dringend nebenan benötigt. Da sind ein paar Formalitäten zu klären; Fingerabdrücke, Lebensdaten und so weiter."
Viviane hätte jetzt protestieren können, dass diese Formalitäten doch auch noch Zeit bis später hätten, aber im Grunde kam ihr die Unterbrechung ganz gelegen. So konnte sie endlich einen Blick in das Buch werfen, das vor ihr lag. Die Einsatzleute hatten es heute Morgen aus dem zertrümmerten Wagen geborgen und Viviane ausgehändigt, zusammen mit Simone Lerpercq, die kurz nach dem Auftauchen der Polizeibeamten im Fabrikgebäude des Reifenherstellers einen Zusammenbruch erlitten hatte. Sie selbst habe den Unfall verursacht, hatte sie behauptet, und sie wolle sofort ein Geständnis ablegen. So war sie hierhergebracht worden, und Viviane hatte unverzüglich mit dem Verhör begonnen.
Viviane öffnete das Buch.

01.01.2000 Er hat eine Geliebte! Ich kann es nicht fassen. Er hat mich belogen, und er belügt mich immer noch. Behauptet steif und fest, die SMS hätte nichts zu sagen, das sei ein Scherz, ein Neujahrswitz, alles Blödsinn, mach dich nicht verrückt, Josiane, was bedeutet schon eine SMS gegen unser gemeinsames Leben, die bald erwachsenen Kinder, das Haus – ich kann es einfach nicht glauben. Was soll ich jetzt machen? Ihn rausschmeißen?
Wie lange geht das schon so?

20.1.2000 Er streitet immer noch alles ab. "Ich habe keine Geliebte, ich habe nur dich", sagt er mir zehnmal am Tag. Gestern hat er mir sogar Blumen mitgebracht. Am liebsten hätte ich sie gleich in den Mülleimer geworfen. Er ekelt mich an. Ich könnte ständig hinter ihm herwischen, alles, was er berührt hat, gleich sauber machen, damit sich der Bazillus der Lüge nicht in unserem Haus ausbreiten kann.
Wie gut, dass ich meine Freizeitaktivitäten habe, und wie gut, dass er nicht dabei ist. Obwohl ich es ihm ja vor ein paar Jahren angeboten habe. "Komm doch mit zum Tennisclub und auch zum Yogakurs, dann haben wir gemeinsame Interessen, die wir pflegen können."
Eigentlich meinte ich: Dann haben wir uns vielleicht mal wieder etwas zu sagen, aber so drastisch wollte ich mich dann doch nicht ausdrücken.

15.2.2000 Heute habe ich ihm klipp und klar ins Gesicht gesagt, dass ich ihm kein Wort mehr glaube. Und dass ich mich von ihm trennen will. Er hat mich angefleht, ich solle es mir doch noch einmal überlegen, da sei wirklich nichts zwischen ihm und Simone, ich könne sie ja anrufen. Als ob ich so etwas machen würde! Ich habe schließlich auch meinen Stolz. Nie und nimmer rufe ich die an!


Es klopfte erneut an der Tür, und Simone Lepercq wurde wieder hereingeführt. Sie wirkte jetzt ein wenig gefasster, und Viviane beschloss, sie nun über den genauen Tathergang zu befragen.

"Madame Lepercq, wenn Sie bereit sind, würde ich jetzt gern von Ihnen erfahren, was genau Sie unternommen haben, um den tödlichen Unfall des Ehepaares Mathieu herbeizuführen. Und warum Sie es getan haben."
Simone schluckte.
"Warum? Warum? Ich konnte einfach nicht mehr! Als er dann noch den Wochenendausflug mit seiner Frau plante, um an diesem Familientreffen teilzunehmen, da habe ich – da bin ich …"
Sie schluckte noch einmal und holte tief Luft.
"Ich hatte mir seit Anfang des Jahres große Chancen ausgerechnet, dass er sie nun doch bald verlassen würde. Ich wollte endlich offiziell an seiner Seite existeren, das ist doch verständlich, oder? Immerhin wusste sie ja jetzt Bescheid, und ihr Mann konnte schließlich nicht ewig für ihr Nervenleiden gerade stehen. Zweimal in der Woche musste sie zum Psychiater, das lässt doch tief blicken, finden Sie nicht? Wir nutzten ihre regelmäßigen Abwesenheiten allerdings aus, um uns heimlich zu treffen."
Simone entfuhr ein nervöses Lachen, worauf sie sich erschrocken auf den Mund schlug.
"Er kam immer mit dem Hund zu mir", setzte sie erklärend hinzu. "Ich habe ja vor ein paar Jahren eine Wohnung nicht weit vom Haus der Mathieus genommen. Also, um es kurz zu machen: Allmählich wurde ich ungeduldig. Ich wollte einfach nicht mehr warten! Und dann erzählte er mir von der Familienfeier in der Normandie – irgendein runder Geburtstag – und dass er unbedingt mit seiner Frau daran teilnehmen müsse. Da habe ich Rot gesehen. Mir wurde schlagartig klar, dass er sich nie von ihr lösen würde, dass ich immer nur im Schatten bleiben würde.
Sie können sich nicht vorstellen, wie ich die beiden gehasst habe! Alle beide! Das Ehepaar Mathieu. Ein schönes Paar! Sie ein nervliches Wrack und er ein Lügner und Ehebrecher. Aber nach außen hin, für die Familie, da spielten sie das glückliche Paar. "

Viviane hatte wieder angefangen, mit Josiane Mathieus Tagebuch zu spielen. Sie betrachtete es nachdenklich. Was für fähige Einsatzleute sie doch hatte!

"Die Idee mit den Reifen kam mir dann wie von selbst zugeflogen. Kein Wunder, schließlich habe ich ja täglich mit Reifen zu tun.
Gestern Nachmittag habe ich unter einem Vorwand die Firma verlassen und bin zum Haus der Mathieus gefahren. Einen Zweitschlüssel für die Garage hatte ich schon lange; ich besitze sämtliche Schlüssel der Familie. Mit einem scharfen Messer habe ich die beiden Vorderreifen leicht aufgeschlitzt. Danach war es für mich nicht mehr sonderlich schwierig, mit einer kleinen Metallsäge Gürtel und Karkasse anzusägen. Um die Reifen wieder vollzupumpen und zu verschließen, habe ich einfach zwei Flaschen "Reifen-Doktor Auto-Pannenhilfe" verwendet. Die Reifen sollten natürlich erst bei voller Fahrt auf der Autobahn ihren Dienst aufgeben. Und das haben sie dann ja auch getan", setzte Simone Lepercq, erneut schluchzend, hinzu.

Viviane schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Vor ihr saß eine Frau, die aus Eifersucht ihren Geliebten und dessen Ehefrau getötet hatte. Und die nun von den eigenen Schuldgefühlen fast erdrückt wurde.
"Tja, dann muss ich Sie jetzt leider festnehmen lassen", konstatierte sie sachlich und gab Polizeileutnant Michel Dupont, der an der Tür gestanden hatte, einen Wink.

Nachdem Simone Lepercq abgeführt worden war, blätterte Viviane noch einmal in dem Tagebuch.

7.4.2000 Endlich! Ich glaube, allmählich findet er sich mit dem Gedanken ab, dass es für uns alle das Beste ist, wenn wir uns trennen. Wie gut, dass ich ihm nicht die Hölle heiß gemacht habe. Jetzt können wir kühl und besonnen an unsere Scheidung gehen und das Ganze schnell hinter uns bringen.

3.5.2000 So, jetzt ist es endgültig. Der Antrag ist eingereicht. Am Himmelfahrtswochenende will Gilbert noch einmal mit zum Familientreffen in die Normandie fahren – um der ganzen Familie offiziell unsere bevorstehende Scheidung mitzuteilen! Und danach will er seine Simone damit überraschen. Hoffnungsloser Romantiker, sozusagen. Na, soll er's tun, wenn's ihn glücklich macht.


Viviane klappte das Buch zu. Sie hatte genug gelesen. Simone Lepercq begann ihr ernstlich leid zu tun.

Wieder einmal klopfte es an der Tür. Dupont trat ein.
"Wir haben jetzt die Ergebnisse der Spurensicherung. Die Unfallursache ist eindeutig geklärt worden."
"Ja, und?" fragte Viviane halb verärgert, weil ihr Untergebener sich die Informationen an den spannendsten Stellen immer einzeln aus der Nase ziehen ließ.
"Es war eindeutig ein Hirsch, der im Frühnebel auf der Straße gestanden hatte. Die Überreste des Tieres sind 20 Meter weiter im Wald gefunden worden. Mathieu muss versucht haben, ihm auszuweichen, und ist dabei gegen einen Baum geprallt. Beide Insassen waren sofort tot, aber das wissen Sie ja."
"Hm, und was wissen Sie über die Reifen des Fahrzeugs?"
"Die Reifen? Wieso, war was mit den Reifen? Nee, ist uns nichts aufgefallen. Hat keiner nach geguckt. Warum auch?"
 
Hallo Yoanna,

nette Geschichte, schön geschrieben. Allerdings finde ich die Motivation der Geliebten ein wenig "dünn". Es mag sein, dass eine Familienfeier ausreicht, um sie zu ihrer Tat zu bringen, aber für mich wirkt dies eher konstruiert als glaubwürdig. Aber vielleicht liegt es daran, dass mir die Dame ein wenig fern bleibt und mein Urteil rührt daher.

Gruß,
Michael
 



 
Oben Unten