Feliz Raquelita, Kapitel 1

mikhan

Mitglied
Feliz Raquelita

Kapitel 1

Eine riesige Wolke hat ihren mächtigen, Unheil verkündenden Schatten auf die Baracken zwischen den Hochhäusern unserer Stadt geworfen. In den blank polierten Fensterscheiben der Hochhäuser spiegelt sich das Wolkenmeer, das über unsere Stadt hinweg zieht. Dort wo die Sonnenstrahlen durchdringen, bildet sich ein goldener Schimmer auf den weißen Wänden der Häuser. Doch die Baracken haben weder Fenster noch weiße Wände, sie bestehen aus notdürftig zusammen genagelten Brettern und Plastikvorhängen. Daher bleibt hier alles grau. Unvorstellbar, dass hier Menschen leben sollen. Draußen, um die Baracken herum, stapelt sich der Müll, der nicht verwertet werden konnte, ein Paradies für Ratten, Kakerlaken und allerlei Krankheitserreger. Eine ganz besonders fette Ratte ist gerade dabei, sich an den Überresten eines Straßenköters zu laben. Von meiner Anwesenheit lässt sie sich dabei nicht im Geringsten stören. Selbst die auf sie gerichtete Kamera kann sie nicht von ihrem grausigen Mahl abhalten.

Endlich lüftet sich ein Schleier im Wolkenmeer, doch das grelle Sonnenlicht lässt die Baracken nur noch trostloser erscheinen. Ein kleines Mädchen läuft barfüßig, und in zerfetzten Kleidern vor einer Gruppe Jugendlicher davon, die mit Steinen nach ihr werfen.
„Bleib sofort stehen, du dreckige Diebin!“ rufen sie ihr nach. Jetzt sehe ich das Bündel, dass sie in ihren Händen trägt. Im gleichen Augenblick wird das Mädchen von einem Stein am Kopf getroffen und fällt blutend zu Boden. Doch das reicht den Jungen, die ihr inzwischen das Bündel aus den Händen gerissen haben, noch nicht. Sie schlagen ununterbrochen auf das am Boden liegende Mädchen ein, das überhaupt keinen Ton mehr von sich gibt.

Entsetzt lege ich meine Kamera beiseite und schreie laut auf. Die Jungen bemerken meine Anwesenheit erst jetzt und laufen, wohl mehr aus Überraschung denn aus Furcht, in alle Richtungen davon. Ohne länger nachzudenken gehe ich auf das Mädchen zu und versuche die große klaffende Wunde an ihrem Kopf mit einem provisorischen Verband zu schützen. Sie ist noch bei Bewusstsein und atmet in flachen Zügen. „Keine Angst, ich bringe dich jetzt zu einem Arzt.“ sage ich beruhigend. Ich hebe sie hoch und stelle fest wie dünn sie ist, fast habe ich Angst, sie könnte in meinen Armen zerbrechen, sollte ich sie zu fest anfassen.

Schnell habe ich die Barackenstadt hinter mir gelassen und befinde mich auf den makellos sauberen Bürgersteig, der zwischen den Hochhäusern entlang führt. Modisch gekleidete, langbeinige Frauen und Geschäftsleute mit Aktenkoffern und Fettrollen im Nacken kreuzen meinen Weg, einige bleiben kurz stehen und sehen mir nach, andere schütteln angewidert mit dem Kopf, aber keiner bietet mir seine Hilfe an. Das Blut des Mädchens hinterlässt eine unheimliche, tiefrote Spur auf dem Beton.

Beim Arzt.

„Und wer sind Sie?“

„Ich bin Dokumentarfilmer, ich habe gerade einige Aufnahmen in der Barackenstadt gemacht, als ich Zeuge dieses traurigen Vorfalls wurde.“

„Wissen Sie, die Wunden dieses Mädchens sind nicht so gravierend, wir können da eigentlich nicht viel machen. Warum bringen Sie das Mädchen nicht einfach nach Hause, das wird das Beste für sie sein.“

„Das können Sie doch nicht ernst meinen! Ein Wunder, dass sie überhaupt noch bei Bewusstsein ist, sie benötigt doch dringend medizinische Hilfe!“

„Ob sie das beurteilen können? Überlassen Sie das mal lieber uns Fachleuten! Ich habe nicht sechs Jahre lang studiert, um mir so etwas anhören zu müssen! Mit diesem Pack aus der Barackenstadt hat man ohnehin nichts als Ärger, außerdem sind die hart im Nehmen, ein paar Tage und sie ist wieder auf Diebestour. Die lernen nie etwas. Gehen Sie schon, es ist sinnlos.“

Zurück in der Barackenstadt.

„Du hast gehört, was der Arzt gesagt hat. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dich nach Hause zurück zu bringen. Kannst du mir den Weg zeigen?“

Das Mädchen nickt kurz und weist mir mit der Hand den Weg, sie kann schon wieder gehen und das Blut hat auch aufgehört zu laufen. Ich staune über die Härte dieses Mädchens, sie ist vielleicht zwölf Jahre alt, hat aber die Gesichtszüge einer Erwachsenen. Wir durchqueren ein Wirrwarr von kleinen Pfaden, die zwischen Gestrüpp, Müll und vereinzelten Baracken hindurchführen. So tief bin ich noch nie in die Barackenstadt vorgedrungen, es ärgert mich, dass ich nicht filmen kann. Endlich erreichen wir das Zuhause des Mädchens, welches sich nicht von den übrigen Baracken unterscheidet.

Eine sehr dicke, überaus hässliche Frau sitzt vor dem Eingang und steht in einer einzigen, unendlich langsamen Bewegung auf, als sie uns kommen sieht. Ihr Atem ist schwer und laut, ihr Gesicht mit Schweiß bedeckt. Ein unangenehmer Geruch geht von ihr aus.

„Raquelita, mein Kind, was ist mit dir geschehen?“ Die sanfte Stimme der Frau und ihre aufrichtige Besorgnis verblüffen mich und ich schäme mich dafür, sie nur nach ihrem Aussehen beurteilt zu haben.

„So du heißt also Raquelita? Mein Name ist Mauricio, sehr erfreut dich kennen zu lernen, kleine Raquelita.“ Zum ersten Mal sehe ich ein Lächeln über das immer noch blutverschmierte, dreckige Gesicht des Mädchens huschen.
 

Rainer

Mitglied
hallo mikhan,


dein text gefällt mir. du schaffst es, die atmosphäre "rüberzubringen", mir das geschehen vor augen zu führen.
ein kleines problem habe ich aber noch: entweder du hast es so gewollt (schließlich ist dein prot ja dok-filmer), oder du BEschreibst wie bei einer dokumentation. manche deiner "nebensätze" erklären mir zu viel. ein paar beispiele:

Ursprünglich veröffentlicht von mikhan

... Unvorstellbar, dass hier Menschen leben sollen. Draußen, um die Baracken herum, stapelt sich der Müll, der nicht verwertet werden konnte, ein Paradies für Ratten, Kakerlaken und allerlei Krankheitserreger.

...doch das grelle Sonnenlicht lässt die Baracken nur noch trostloser erscheinen.
...
Beim Arzt.
...
Zurück in der Barackenstadt.
...
, welches sich nicht von den übrigen Baracken unterscheidet.
...
Die sanfte Stimme der Frau und ihre aufrichtige Besorgnis verblüffen mich und ich schäme mich dafür, sie nur nach ihrem Aussehen beurteilt zu haben.
...
immer noch blutverschmierte, dreckige Gesicht des Mädchens huschen.
(anmerkung: das gesicht MUSS noch so aussehen, es hat ja keiner was "verändert")
weißt du was ich meine? es ist alles sehr nüchtern, aber vielleicht willst du ja genau das erreichen - dann ist es dir gelungen. es läßt sich aber schwer an hand dieses kurzen abschnittes beurteilen.
ich melde mich nochmal, wenn mehr "fleisch" da ist.


viele grüße + bitte mehr davon

rainer
 



 
Oben Unten