Fenster im Schneckenhaus

3,70 Stern(e) 9 Bewertungen

ENachtigall

Mitglied
Fenster im Schneckenhaus

Du hast Dich schon immer gern zurückgezogen, kleine Schwester, selbst als du noch in Mutters Schoß wohntest. Statt pünktlich zu deinem Geburtstag zu kommen, wie es sich gehört, nahmst du einfach zwei Wochen Sonderurlaub vor Antritt der Reise gen Ernst des Lebens. Vielleicht wolltest du Papa noch schonen, die maßlose Enttäuschung aufschieben, nach dem dritten geglückten Vermehrungsversuch nicht den gepriesenen Hubertus gezeugt zu haben, den ersehnten künftigen Treiber und Jagdhornbläser. Endlich der Stammhalter, der Ritter, der den ehrenwerten Namen, das Wappen auf dem Schild , kampfesbereit in die Zukunft trüge. Der würdige Junior in Lauerstellung auf den Chefsessel eines florierenden Mittelstandsunternehmens, die im Nachkriegsboom gediehen wie die Trunksucht.

Fehlgeschlagen war schon zuvor ein erster zarter Schritt in Richtung Selbstständigkeit: die „wilde“ Grünkohlplantage im Walde, jene Ich AG, durch Mutters Ersparnisse eher schlecht als recht finanziert, musste den verdutzten Hasen und Karnickeln wie ein verspätetes Carepaket für Niederwild erschienen sein. Alles fraßen sie ratzekahl leer in nur einer verdammten Nacht.

Während Papa im Mannschaftsraum mit seinen Arbeitern, so durften sie damals noch genannt werden, ordentlich den Hubertus begoss, beim Gesang von Ernst Mosch und seinen Original Egerländern „Heidewitzka, Herr Kapitän“ und „Gehn wir mal rüber zu Schmitz“ (der mit den drei Töchterlein) grölte bis der Morgen graute (eine versteckte musikalische Vorahnung?), machten dir die Vorstadtmediziner mit Wehenfördernden Mitteln bald den Garaus im gemütlichen Fruchtwasserbad. Die kräftige Uterusmuskulatur setzte sich stark kontrahierend in Bewegung und unsere zierliche kleine Mama ertrug in tapferster BDM Manier die qualvollen Schmerzen der Geburt. Auf das kleine rothaarige Mädchen wartete zur Begrüßung kein Name, und vielleicht war ihre weise vorausschauende Art der wahre Grund ihrer Verspätung.

Zur Aufsicht der großen Schwestern, die wir jetzt waren, hatte der Vater die Kellnerin aus seiner Lieblingswirtschaft „Plaaß“ nach Hause bestellt, die uns vom sonntäglichen Frühschoppen her kannte, und in den Pausen, wenn die Füchse für das Automatenspiel ausgingen, reichte sie uns regelmäßig Dunkelbiere. Sie hieß intern Frau Huck, weil sie einen beständigen Schluckauf hatte, und ihre knubbeligen dicken Knie lugten unter Röcken hervor, die so ganz anders gemustert waren, als Mamas Kittel, und wenn sie lachte, so laut und gackernd, hörte sie sich an wie Tante Hilde. Dieses Unikum kleidete uns nun anlässlich deines Geburtstags ganz ähnlich ein, wie sich selbst: in Sachen, aus denen wir längst - wenigstens der Länge nach – herausgewachsen waren. In die Breite wuchsen wir „Spargel-Janes“ nie so richtig hinein.

Mama, noch blass nach der Geburt, sah seltsam entrückt aus, mit dir hinter der antiseptischen Glasscheibe. Ob sie unser Zustand verunsicherte, oder Papas, oder sie sich schämte, wieder keinen Jungen geschafft zu haben, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls durften wir dir, nach ein paar Tagen - deine Kastanienhaare und die großen großen Augen bestaunend - dich winzige Gestalt auf einem klein karierten lila Kopfkissen, auf der Rückbank und unseren Knien in Papas Wirtschaftswunder Mercedes haltend, endlich Namen geben, Namen, die wir in schwierigen Einigungsverhandlungen zuvor aus unseren Lesebüchern gekungelt hatten: Doris und Helga.

Jahre später hättest du uns für die „Helga“ am liebsten verhauen, wären wir nicht soviel größer gewesen. Aber sag ehrlich, was konnten wir schon dafür, dass Jaqueline damals noch nicht modern und Evelyn zu extravagant war? Leider bliebst du oft mit Mutti allein; später allein mit Mutti und deinem Dackel, den der Nachbar bei der Jagd noch später und beiläufig erschoss, obwohl du sogar das Jagdhornblasen eine Zeit lang geübt hattest, als du noch zu jung warst, zu wissen, warum sie sich so amüsierten, wenn es hieß: Doris, blas mal tüchtig! - Hahaha. - Süßigkeiten brachten sie dir mit, in sämtlichen Variationen. Beizeiten hatte Milky Way und & Co. dir die Taille weggepolstert. Ein Getränkehändler brachte sie dir plastiktütenweise. Er lieferte Bierkästen nach Hause, und ein paar Flaschen Fanta, die wir nicht trinken sollten, weil Mama so gesunden Saft von den Beeren aus ihrem Garten machte.

Ein faszinierendes Gerät war dieser Entsafter: katheterisierend entließ er farbige Säfte in Flaschen, die einst Hochprozentiges geborgen hatten. So schaffte sie es, immerhin die Gefäße vom Schnaps zu entwöhnen. Papa mochte es nicht, wenn sie Unkraut jätete, besonders wenn Graf Balleström von der Bank im Anmarsch war oder der schicke Sichelschmidt mit seiner hoch toupierten Gattin, die tatsächlich meinten, ihr Sohn sähe aus wie Roy Black, und darauf ausgesprochen stolz waren. Und die Mädels: alle hinter ihm her. Mamas Gemüse schmeckte ausgezeichnet. Das war unumstritten.

Die Welt rief Papa zu Tagungen in ihre Metropolen (er schwärmt noch heute von der Haute Couture, die er uns mitbringselte) oder zur Jagd in die Steiermark. Die dort gehandelten Dirndl, frisch für uns Töchter ins Ruhrgebiet portiert, mussten einmal – bevor wir aus den noch jungfräulichen Trachten hinauszuwachsen drohten – zur Schule angezogen werden, als gerade die coole Hippiezeit begann. „Pass auf, dass du nicht über deine Schürze stolperst“, bekam ich von einem fast schon Langhaarigen aus der übernächst höheren Klasse zu hören und schämte mich über den ganzen Schulhof. Du hattest dagegen prima Gestricktes; Mama verarbeitete ihren Kummer mit klappernden Nadeln in wollige Pullover, wenn sie nicht Fasan oder Taube rupfte, Kaninchen ausnahm oder die Buchführung machte. Eigentlich fühlten wir uns immer am wohlsten, wenn er nicht da war. Dann gab es Pfannkuchen oder Kartoffelpuffer. Das Gerede von seinen Besuchen bei der Dorfschönheit machte Mutter allerdings zu schaffen. So fuhr sie oft mit dir allein in Urlaub, was mich fast eifersüchtig machte; als sie nämlich mal mit mir allein – lange vor deiner Zeit – in die DDR gefahren war, hatte ich mir prompt die Masern eingehandelt und musste das Bett hüten. Künstlerpech.

Du warst eindeutig Mamas Liebling. Immer da, wenn sie so traurig war. Manchmal meine ich, es hat ein wenig auf dich abgefärbt. So wie Papas Einsamkeit, die er vorzugsweise mit ein paar Promille Alkohol zu viel im Blut verdünnte. Er ließ seine leicht schwer gewordene Zunge gern an der langen Leine laufen . Seine Hunde nahmen meist schnell Reißaus, wenn sie Gelegenheit dazu hatten - so wie wir Kinder. War ich froh, als die Volljährigkeit auf 18 gesenkt wurde! Drei Jahre länger - nicht auszudenken.

Heute, da wir alle in eigenen Schneckenhäusern wohnen, wissen wir ja, warum er so unbeholfen dicke Backen macht: er beschwört nur seine Geister. Wenn sie schwatzen, er sei Schuld, nicht die Waffe in der kaum pubertären Hand abgedrückt zu haben, damals im Krieg, auf der Flucht, als er zusah, wie die Soldaten über Mutter und Schwester herfielen - sein Vater wehrlos festgehalten – dann schreit er heute noch im schweißnassen Bett: „Die Russen kommen.“ Ich werde ihm hin und wieder sagen, dass wir alle mit dem Leben davongekommen sind, weil er nicht geschossen hat…

Zum Geburtstag hast du dir neue Fenster einbauen lassen? Gratuliere, kleine Schwester! Mensch ist das lange her. Mehr als ein halbes Leben. Wie hast du gelacht, als ich "fliegender Fisch" mit dir spielte. Weißt du noch, wie das ging? Ich lag auf dem Sofa und balancierte dich auf meinen Füssen, die Beine hoch gestreckt, die kleinen Hände mit meinen haltend, flogst du rauf und runter und wolltest nie mehr damit aufhören. Im Winter übten wir zwei auf Schlittschuhen Pirouetten drehen. Der kleine Tümpel der alten Bäuerin mit ihrem gefährlich kläffenden Rehpinscher war dafür gerade groß genug. Wir fühlten uns wie Eisprinzessinnen, auch wenn die abschraubbaren Kufen nie lange an den Stiefeln hielten. Später wohnten wir übereinander im selben Haus zur Miete, kochten Brokolisuppe, sahen uns immer noch die "Puppenkiste" an und gingen - verwegenerweise Sonntagabends - zum Tanzen in den "Keller".

Manchmal frage ich mich: hab ich das wirklich alles mit dir erlebt? So weit weg kommt es mir vor - wie du, am anderen Ende der Welt. Sieh mal, ich zwinkre euch zu - dir und Blue. Fast scheint mir, ich spüre seine feuchte Nase an deinem Bein, Liebes.



11. Mai 2006
(nachträglich überarbeitet)
(zweite Überarbeitung 1.07.2006)
 
B

Burana

Gast
Hallo ENachtigall!
Ich hab Deine Geschichte ganz gelesen, obwohl mir zwischendurch schon mal die Puste ausging und ich nach unten geschielt habe, wie lang sie noch ist.
Ein schöner 'Erinnerungsbrief' für 'Deine Schwester' mit teilweise gut beschriebenen Szenen. Mir fehlt aber der Spannungsbogen dabei, der Lust drauf macht zu erfahren, wie's ausgeht. Vielleicht passt die Geschichte besser in >Tagebuch<?
Was meinen die anderen hier???
Liebe Grüße, Burana
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Burana,

schön, dass Du eine Rückmeldung gibst, wie der Text auf Dich gewirkt hat.
Mein Bestreben war es, eine Art Zeit-/Hausgeist aus meinem sehr persönlichen Blickwinkel einzufangen. Natürlich ist er zu flüchtig oder zu familiär, um das Zeug zu einem Quotencatcher zu haben.
Die Gratwanderung ist zugegebenermaßen schwer; darüber zu schreiben, was man kennt und doch nicht wie Tagebuch zu wirken.
Mich freut vor allem Deine Ehrlichkeit ob der empfundenen Spannungsschwäche.
Bezüglich Erzählungen wüßte ich gern, wie stark ein Spannungsbogen notwendigerweise sein sollte, um als solche gelten zu können.

Für heute gute Nacht.

Elke
 
M

Micha v.d. Rosenhöhe

Gast
Eine charmante, sehr persönliche und wundervoll, fast im Elke Heidenreich-Erzählstil verfasste Geschichte. Sie gefiele mir sehr gut, auch wenn Klischees bedient wurden, wie der Hubertus, die Blechbläser und die damals tatsächlich so beschissene Rolle der Männer(im Sinne von zurückgeblieben)
das Indizien zum Techtelmechtel mit der "Dorfschönheit".
Die zeit war "fast" meine Zeit ich denke meine war etwas später. Schön auch der Neid auf das Nesthäkchen beschrieben und das "Wegkippen der Einsamkeit durch "Promille".

Sehr,sehr gut beschrieben, auch wenn ich Jäger nie so recht mochte und das beschissene Outfit, diese Loden...iiiiigggitt.

LG
Micha
 
H

HFleiss

Gast
Meiner Ansicht nach reicht es nicht aus, humorig irgendwelche Lebensläufe aufzuschreiben und Erzählung dazu zu sagen. Das ist alles ganz sympathisch geschrieben - was mir aber fehlt, ist der Plot. Den gibt es einfach nicht. Das Ganze ist eine voluminöse Einleitung zu einer Geschichte, die dann am Ende nicht erzählt wird.

Gruß
Hanna
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Hanna,

danke, dass Du Dich mit meinem Text beschäftigt hast und für den Mut zur Bewertung; dass er auch Dir zu flach geraten erscheint macht mich nachdenklich. Vielleicht liegt es daran, dass eben das eigentliche Thema der beständige Rückzug ist, vielleicht auch daran, dass ich tatsächlich einfach Szenen "aufgehäuft" habe, anstatt etwas Besonderes aufzubauen und herauszustellen. In jedem Fall hat mich die Kritik schon mal gedanklich weitergebracht.

Liebe Grüße

Elke
 
B

Burana

Gast
Hallo Elke!
Mir ist es tatsächlich zu flach, wobei mich der Titel total neugierig auf die Geschichte gemacht hatte.
Das mit dem Rückzug ist ein wunderbarer roter Faden, den Du einfach besser durch die Geschichte ziehen lassen kannst.
Daraus kannst Du garantiert was richtig Gutes machen! Die Häufung der Szenen, wie Du es selber siehst, macht den Text 'langweilig'. Dabei sind es Szenen, die man nachfühlen kann - wenn man die Geduld hat, sie bis zum Ende zu lesen.
Da kommt dann wieder das mit dem Spannungsbogen...
Wenn ich wüsste, wie's besser geht, würde ich dir liebend gerne und haufenweise Tipps dazu geben.
Ich bin froh, dass Du meine Kritik und Bewertung nicht persönlich nimmst: sie bezieht sich nur auf diese Geschichte.
Magst Du nochmal drüber sitzen und dran arbeiten? Ich lese gerne wieder, was Du eventuell draus gemacht hast.
Liebe Grüße! Burana
 
M

MichaelKuss

Gast
Hanna und Burana haben - nach meiner Meinung - Recht. Das sind effektive Analysen, Kritiken und Vorschläge, wie ich sie in der LL erhoffte. Aber am sympathischsten finde ich Elkes Reaktion der Nachdenklichkeit und Kritikfähigkeit. Das ist in der LL nicht unbedingt selbstverständlich. Es ist aber für mich ein Weg, seine Arbeiten nach und nach zu verbessern. Dieser vorliegende Austausch zwischen Hanna, Burana und Elke sind ein prima Beispiel dafür. Ich wünsche mir in der LL mehr davon.
Sagt für diesmal erfreut
Michael
 

Inu

Mitglied
Hallo ENachtigall

Ich hatte den Text schon vor längerer Zeit gelesen und mir gefiel Dein Stil gerade so, wie er ist: spritzig, mit überraschenden Wendungen, sehr originell und individuell. Die kleine Geschichte ist sehr bildhaft und erfrischend erzählt, und für mich überhaupt nicht langweilig.
Ja, ich war ( und bin ) begeistert, hätte Dir damals auch mehr als eine 7 gegeben, wenn da nicht ein einziger Satzteil ( blau ) gewesen wäre, den ich nicht zuordnen konnte und der mich irritierte.

So wie Papas Einsamkeit, die er vorzugsweise mit ein paar Promille Alkohol zu viel im Blut verdünnte. Er ließ seine leicht schwer gewordene Zunge gern an der langen Leine laufen . Seine Hunde nahmen meist schnell Reißaus, wenn sie Gelegenheit dazu hatten - so wie wir Kinder. War ich froh, als die Volljährigkeit auf 18 gesenkt wurde! Drei Jahre länger - nicht auszudenken. Heute, da wir alle in eigenen Schneckenhäusern wohnen, [blue]wissen wir ja, warum er so unbeholfen dicke Backen macht.[/blue]
Grins jetzt nicht, aber solche Kleinigkeiten, die ich nicht verstehe, können für mich einen Text von 'ausgezeichnet' zu 'gut' herunterschmälern.

Ich mag die Geschichte sehr und kann mich der allgemeinen Kritik diesmal nicht anschließen

LG
Inu
 

ENachtigall

Mitglied
wunder Punkt

Hallo Michael und Inu,

wie gut, dass ihr euch gerade jetzt zu meiner Geschichte zu Wort meldet, bevor ich die Weiterarbeit daran vergessen hätte!
Inu hat treffsicher den Finger auf den wunden Punkt gelegt, den auch ich nach den ersten Resonanzen für mich als Schwachstelle herausfiltern konnte. Nur war mir da noch nicht klar, wie eine verbessernde Abänderung zu gestalten wäre.
Jetzt entscheide ich leichten Herzens zu Gunsten eines kleinen, aber wesentlichen Einschubs, der dem Leser durch einen Lichtschein auf den Hintergrund möglicherweise ein intensiveres Leseerlebnis ermöglicht. Der Einschub steht im vorvorletzten Absatz.

Mit lieben Grüßen und vielem Dank für alle Kommentare!

Elke
 

ENachtigall

Mitglied
Fenster im Schneckenhaus

Du hast Dich schon immer gern zurückgezogen, kleine Schwester, selbst als du noch in Mutters Schoß wohntest. Statt pünktlich zu deinem Geburtstag zu kommen, wie es sich gehört, nahmst du einfach zwei Wochen Sonderurlaub vor Antritt der Reise gen Ernst des Lebens. Vielleicht wolltest du Papa noch schonen, die maßlose Enttäuschung aufschieben, nach dem dritten geglückten Vermehrungsversuch nicht den gepriesenen Hubertus gezeugt zu haben, den ersehnten künftigen Treiber und Jagdhornbläser. Endlich der Stammhalter, der Ritter, der den ehrenwerten Namen, das Wappen auf dem Schild kampfesbereit in die Zukunft trüge. Der würdige Junior in Lauerstellung auf den Chefsessel des florierenden Mittelstandsunternehmens, das im Nachkriegsboom gedieh wie die Trunksucht.
Fehlgeschlagen war schon zuvor ein erster zarter Schritt in Richtung Selbstständigkeit: die „wilde“ Grünkohlplantage im Walde, jene Ich AG, durch Mutters Ersparnisse eher schlecht als recht finanziert, musste den verdutzten Hasen und Karnickeln wie ein verspätetes Carepaket für Niederwild erschienen sein. Alles fraßen sie ratzekahl leer in nur einer verdammten Nacht.
Während Papa im Mannschaftsraum mit seinen Arbeitern, so durften sie damals noch genannt werden, ordentlich den Hubertus begoss, beim Gesang von Ernst Mosch und seinen Original Egerländern „Heidewitzka, Herr Kapitän“ und „Gehn wir mal rüber zu Schmitz“ (der mit den drei Töchterlein) grölte bis der Morgen graute (eine versteckte musikalische Vorahnung?), machten dir die Vorstadtmediziner mit Wehen fördernden Mitteln bald den Garaus im gemütlichen Fruchtwasserbad. Die kräftige Uterusmuskulatur setzte sich stark kontrahierend in Bewegung und unsere zierliche kleine Mama ertrug in tapferster BDM Manier die qualvollen Schmerzen der Geburt. Auf das kleine rothaarige Mädchen wartete zur Begrüßung kein Name und vielleicht war ihre weise vorausschauende Art der wahre Grund ihrer Verspätung.
Zur Aufsicht der großen Schwestern, die wir jetzt waren, hatte der Vater die Kellnerin aus seiner Lieblingswirtschaft „Plaaß“ nach Hause bestellt, die uns vom sonntäglichen Frühschoppen her kannte und in den Pausen, wenn die Füchse für das Automatenspiel ausgingen, regelmäßig Dunkelbiere reichte. Sie hieß intern Frau Huck, weil sie einen beständigen Schluckauf hatte und ihre knubbeligen dicken Kniee unter Röcken hervorlugen ließ, die so ganz anders gemustert waren, als Mamas Kittel und wenn sie lachte, so laut und gackernd, hörte sie sich an wie Tante Hilde. Dieses Unikum kleidete uns nun anlässlich deines Geburtstags ganz ähnlich ein, wie sich selbst: in Sachen, aus denen wir längst - wenigstens der Länge nach – herausgewachsen waren. In die Breite wuchsen wir „Spargel-Janes“ eh nie so richtig.
Mama, noch blass nach der Geburt, sah seltsam entrückt aus, mit dir hinter der antiseptischen Glasscheibe. Ob sie unser Zustand verunsicherte oder Papas oder sie sich schämte, wieder keinen Jungen geschafft zu haben, weiß ich nicht. Jedenfalls durften wir dir, nach ein paar Tagen - deine Kastanienhaare und die großen großen Augen bestaunend - dich winzige Gestalt auf einem klein karierten lila Kopfkissen, auf der Rückbank und unseren Knien in Papas Wirtschaftswunder Mercedes haltend, endlich Namen geben, Namen, die wir in schwierigen Einigungsverhandlungen zuvor aus unseren Lesebüchern gekungelt hatten: Doris und Helga.

Jahre später hättest du uns für die „Helga“ am liebsten verhauen, wären wir nicht soviel größer gewesen. Aber sag ehrlich, was konnten wir schon dafür, dass Jaqueline damals noch nicht modern war und Evelyn zu extravagant? Oft bliebst du mit Mutti allein; später allein mit Mutti und deinem Dackel, den der Nachbar bei der Jagd noch später und beiläufig erschoss, obwohl du sogar das Jagdhornblasen eine Zeit lang geübt hattest, als du noch zu jung warst, zu wissen, warum sie sich so amüsierten, wenn es hieß: Doris, blas mal tüchtig! - Hahaha. - Süßigkeiten brachten sie dir mit, in sämtlichen Variationen. Beizeiten hatte Milky Way und & Co. dir die Taille weggepolstert. Ein Getränkehändler brachte sie plastiktütenweise. Er lieferte Bierkästen nach Hause und ein paar Flaschen Fanta, die wir nicht trinken sollten, weil Mama gesunden Saft von den Beeren aus ihrem Garten machte.
Ein faszinierendes Gerät war dieser Entsafter: katheterisierend entließ er farbige Säfte in Flaschen, die einst Hochprozentiges geborgen hatten. So schaffte sie es, immerhin die Gefäße vom Schnaps zu entwöhnen. Papa mochte es nicht, wenn sie Unkraut jätete, besonders wenn Graf Balleström von der Bank im Anmarsch war oder der schicke Sichelschmidt mit seiner hoch toupierten Gattin, die tatsächlich meinten, ihr Sohn sähe aus wie Roy Black, und darauf ausgesprochen stolz waren. Und die Mädels: alle hinter ihm her.
Die Welt rief Papa zu Tagungen in ihre Metropolen (er schwärmt noch heute von der Haute Couture, die er uns mitbringselte) oder zur Jagd in die Steiermark. Die dort gehandelten Dirndl, frisch für uns Töchter ins Ruhrgebiet portiert, mussten einmal – bevor wir aus den noch jungfräulichen Trachten hinauszuwachsen drohten – zur Schule angezogen werden, als gerade die coole Hippiezeit begann. „Pass auf, dass du nicht über deine Schürze stolperst“, bekam ich von einem fast schon Langhaarigen aus der übernächst höheren Klasse zu hören und schämte mich in den Grund und Boden des ganzen Schulhofs. Du dagegen hattest prima Gestricktes; Mama verarbeitete ihren Kummer mit klappernden Nadeln in wollige Pullover, wenn sie nicht Fasan oder Taube rupfte, Kaninchen ausnahm oder die Buchführung machte. Eigentlich fühlten wir uns immer am wohlsten, wenn er nicht da war. Dann gab es Pfannkuchen oder Kartoffelpuffer. Das Gerede von seinen Besuchen bei der Dorfschönheit machte Mutter zu schaffen. So fuhr sie oft mit dir allein in Urlaub, was mich fast eifersüchtig machte; als sie nämlich mal nur mit mir – lange vor deiner Zeit – in die DDR gefahren war, hatte ich mir prompt die Masern eingehandelt und musste das Bett hüten. Künstlerpech.
Du warst eindeutig Mamas Liebling. Immer da, wenn sie so traurig war. Manchmal meine ich, es hat ein wenig auf dich abgefärbt. So wie Papas Einsamkeit, die er vorzugsweise mit ein paar Promille Alkohol zu viel im Blut verdünnte. Er ließ seine leicht schwer gewordene Zunge gern an der langen Leine laufen. Seine Hunde nahmen meist schnell Reißaus, wenn sie Gelegenheit dazu hatten - so wie wir Kinder. War ich froh, als die Volljährigkeit auf 18 gesenkt wurde! Drei Jahre länger - nicht auszudenken.

Heute, da wir alle in eigenen Schneckenhäusern wohnen, wissen wir ja, warum er so unbeholfen dicke Backen macht: er beschwört nur seine Geister. Wenn sie schwatzen, er sei Schuld, nicht die Waffe in der kaum pubertären Hand abgedrückt zu haben, damals im Krieg, auf der Flucht, als er zusah, wie die Soldaten über Mutter und Schwester herfielen - sein Vater wehrlos festgehalten – dann schreit er heute noch im schweißnassen Bett: „Die Russen kommen.“ Ich werde ihm hin und wieder sagen, dass wir alle mit dem Leben davongekommen sind, weil er damals nicht geschossen hat …
Zum Geburtstag hast du dir neue Fenster einbauen lassen? Gratuliere, kleine Schwester! Mensch ist das lange her. Mehr als ein halbes Leben. Wie hast du gelacht, als ich "fliegender Fisch" mit dir spielte. Weißt du noch, wie das ging? Ich lag auf dem Sofa und balancierte dich auf meinen Füssen, die Beine hoch gestreckt, die kleinen Hände mit meinen haltend, flogst du rauf und runter und wolltest nie mehr damit aufhören. Im Winter übten wir zwei auf Schlittschuhen Pirouetten drehen. Der kleine Tümpel der alten Bäuerin mit ihrem gefährlich kläffenden Rehpinscher war dafür gerade groß genug. Wir fühlten uns wie Eisprinzessinnen, auch wenn die abschraubbaren Kufen nie lange an den Stiefeln hielten. Später wohnten wir übereinander im selben Haus zur Miete, kochten Brokolisuppe, sahen uns immer noch die "Puppenkiste" an und gingen - verwegenerweise Sonntagabends - zum Tanzen in den "Keller".

Manchmal frage ich mich: hab ich das wirklich alles mit dir erlebt? So weit weg kommt es mir vor - wie du, am anderen Ende der Welt. Sieh mal, ich zwinkre euch zu - dir und Blue. Fast scheint mir, ich spüre seine feuchte Nase an deinem Bein, Liebes.



11. Mai 2006
(nachträglich überarbeitet)
(zweite Überarbeitung 1.07.2006)
 



 
Oben Unten