Fensterputzen

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anbas

Mitglied
Fensterputzen
(Überarbeitete Fassung)

Clara hat einen eingewachsenen Zehennagel.

Ihr Sohn hat Probleme mit der Prostata, und ihre Tochter bekommt bald das vierte Kind vom dritten Mann.

Jetzt war ich wieder über das Neuste aus Claras Leben informiert - und außer mir auch die gesamte Nachbarschaft. Ich war gerade beim Fensterputzen, als Clara - sie wohnte übrigens auf der anderen Straßenseite genau gegenüber meiner Wohnung - als Clara also ihr Fenster öffnete und zu mir herüberrief: „Hey, Andreas! Lange nicht gesehen, was!“

„Stimmt, ich hab dich auch lange nicht gesehen“, antwortete ich.

„Wie geht’s dir?“, hallte es von der anderen Straßenseite herüber.

„Danke gut, und dir?“ - Ich hatte nicht vor, genauer ins Detail zu gehen, Clara dagegen schon.

Ihr „Mir geht’s 'Danke', man lebt und stirbt ja dann doch irgendwann“, war nämlich nur der Anfang ihres in aller Ausführlichkeit folgenden Tagesreports. Neben der Sache mit dem Zehennagel, den Prostata-Problemen und des erwarteten Nachwuchses gab es noch weitere Neuigkeiten. So erfuhren die Nachbarn und ich, dass außer ihrem Zehennagel Clara auch noch ihre schlecht angepasste Zahnprothese plagte - ja, ja, die Gesundheitsreform ..., ihr Diabetes ihr Sorgen bereitete - war schon Thema beim letzten Klönschnack, und sie seit einigen Tagen eine heftige Magen-Darm-Verstimmung hatte - Gott sei Dank wollte sie nicht näher ins Detail gehen. Aus dem Tagesreport entwickelte sich langsam ein Jahresrückblick - wir hatten uns wirklich sehr lange nicht mehr gesehen.

So plötzlich, wie sie das Gespräch begonnen hatte, beendete sie es auch.

„Na, dann mach mal gut Platz für neuen Dreck!“, rief sie mir noch über die Straße zu bevor sie ihr Fenster schloss.

Ich blieb zurück und begann über den Sinn und Unsinn des Fensterputzens im Speziellen und dem des Saubermachens im Allgemeinen nachzudenken.

„Platz für neuen Dreck schaffen“, hatte Clara gesagt. Aus diesen wenigen Worten entstand für mich eine wahre Prüfung - hatte ich mich doch wie immer nur mühsam zu meiner heutigen Fensterputzaktion aufraffen können. Sollte das ganze Putzen also von vornherein sinnlos sein? Ist ein Leben ohne Putzen möglich? Wie könnte das aussehen? Warum mache ich das Ganze überhaupt? - Vielleicht, damit Mutti stolz auf mich sein kann, wenn sie mich besuchen kommt - „Guck mal Mutti! Ich habe alle Fenster ganz alleine geputzt, und Tante Clara hat mir dabei zugesehen...“ - Nein, Schluss jetzt mit diesen trüben Gedanken! „Ich mache sauber! - Ja, ich will!“

Ich putzte mehr oder weniger munter weiter. Es war ein so schöner warmer Frühlingstag, den ich auf gar keinen Fall nur mit Hausarbeit verbringen wollte. Die Chancen dafür standen gar nicht schlecht. Es war Samstag, ich war vor elf Uhr aufgestanden und hatte gestern schon die Einkäufe fürs Wochenende erledigt. Außerdem wollte Gabi nachher vorbeikommen und mit mir Spazieren gehen - vorausgesetzt, dass ich bis dahin die Spuren lustvollen Herumschlampens in meiner Wohnung beseitigt hätte. Ich hasse es, auf diese Art und Weise erpresst zu werden.

Unter mir tauchte der Schnacker vom Nebenhaus auf. Er kam vom Einkauf und legte vor unserem Hauseingang erst einmal seine obligatorische Pause ein. Diesmal holte er sich allerdings nicht wie sonst seine Dose Bier aus der Einkaufstüte hervor, sondern starrte zu mir in den ersten Stock herauf.

„Pass bloß auf, dass du nicht abstürzt!“, rief er mir mit heiserer Stimme zu. „Die meisten Unfälle passieren nämlich beim Fensterputzen!“

Na danke, gerade hatte ich mich zum Weitermachen motivieren können, da wurde ich erneut mit der Sinnlosigkeit meines Tuns konfrontiert.
Wenn ich es schon sehr schwer nachvollziehen konnte, dass manche Menschen dazu bereit sind, für ihre eigene Schönheit zu leiden, wie extrem dämlich wäre es dann, für eine schöne Wohnung zu sterben? Meine Gedanken wurden deutlich existenzieller. Dennoch gelang es mir, mutig weiterzuputzen.

„Wenn du nicht mehr weißt, ob es Tag oder Nacht ist, dann wird es Zeit zum Fensterputzen“, tönte es nun wieder von unten nach oben.

Ich biss die Zähne zusammen. Gott sei Dank schien diesmal nicht das sonst übliche Angebot zu kommen, auch noch bei ihm die Fenster zu putzen, wenn ich bei mir fertig wäre. Den Spruch hätte ich jetzt nämlich überhaupt nicht gebrauchen können.

Darum rief ich ihm schnell zu: „Ich hatte in letzter Zeit ständig das Gefühl, wir hätten dichten Nebel, wenn ich aus dem Fenster geguckt habe“. - Ich hatte die Hoffnung, dass er durch einen Spruch meinerseits auch gar nicht mehr auf die Idee kommen würde, mir diesen Standardspruch an den Kopf zu schmeißen.

„Als ich das letzte Mal Fenster geputzt habe, habe ich erst gesehen, dass auf der anderen Straßenseite Häuser sind!“, toppte er meinen Spruch, packte seine Einkaufstüte und machte sich bedächtig auf den Heimweg.

Ich putzte weiter. Das Wetter schien immer schöner und mein Handeln immer unsinniger zu werden. Böse, höchst chauvinistische Sprüche durchkreisten meinen Kopf. Nein, zumindest für diesen Teil der Hausarbeit bin ich nicht geboren worden. Doch jetzt musste ich da durch.

„Wenn du hier fertig bist, kannst du ja bei mir weitermachen“, erklang es plötzlich hinter mir.

Obwohl ich die ganze Zeit am Fenster zugange gewesen war, hatte ich Gabi nicht kommen sehen. Auch das Aufschließen der Tür hatte ich nicht bemerkt. Nun stand sie breit grinsend da und knallte mir diesen Spruch aller Sprüche um die Ohren. Ausgerechnet meine geliebte Gabi musste mir mitten in einer akuten Sinnkrise das antun.

Für einen Moment war ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich reagierte motorisch. Der Lappen traf Gabi mitten im Gesicht. Es war ein nasser, dreckiger Lappen. Gabi war eine sehr attraktive, schöne Frau - und sie gehörte zu den Menschen, die dazu bereit sind, stundenlang für ihre Schönheit zu leiden. Mein Lappenwurf war ein Make-up ruinierender Volltreffer gewesen. Nun drohte mir doch noch ein Sturz aus dem Fenster - aber das ist eine andere Geschichte.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
eine

nette kleine schmunzelgeschichte. fehlt nur noch, dass er am schluss freiwillig aus dem fenster springt, weil er seiner freundin das make up versaut hat.
lg
 

anbas

Mitglied
upps, ich dachte, ich hätte Euch schon längst geantwortet!

Aber jetzt: Danke für Eure Rückmeldungen!

Ich denke auch, dass es eine Schmunzelgeschichte ist - und da beginnt nach meinem Verständnis der Humor. Ich mag gerade den leisen, nicht sofort wahrnehmbaren Humor des Alltags. Aber es ist sicherlich eine Geschichte, die auch in eine andere Rubrik passen würde (in einem anderen Forum habe ich sie versuchsweise in die Rubrik 'Alltag' gestellt). Es paßt beides, finde ich.

Gruß Andreas
 



 
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