Fern unter Menschen

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jimKaktus

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Es ist normalerweise halb sieben, wenn ich am Potsdamer Platz aussteige. Heute bin ich spät dran. Ich konnte einfach nicht aufstehen. Das heißt, ich konnte mich nicht überwinden, nicht an einem so kalten, regnerischen Oktobertag, wie er als ich aufwachte im Zimmer stand. Umso mehr beeile ich mich, aus dem U-Bahnhof schliddernd, die Straße zu überqueren. Ein Auto hupt.

Ich mache flinke Füße und springe über die große Pfütze auf die Bordsteinkante - zu kurz. Ich rutsche ab und falle hin. Mein Schienbein kracht auf die Kante. Das Auto fährt durch die Pfütze und taucht mich in dreckiges Wasser. Es war ein BMW, was sonst. Er hat die Ampel noch gekriegt.

Wütend schreie ich auf, ein angeschossener Tiger. Niemand da, mir aufzuhelfen, keine Passanten. Ich bin ganz braun vom Sand der Baustelle, dem Straßenaufriss, den sie erst kürzlich beseitigt haben. Um nicht noch nässer zu werden (wenn das geht), ziehe ich mich nun ganz auf den Gehsteig und robbe zum Bauzaun, wo ich mich aufsetzen kann. Mein Bein schwillt. Der Knochen ist durch. An der Stelle dringt Blut durch den Hosenstoff. Ich beiße die Zähne zusammen und verfolge den Autoverkehr, der immer erst bei der Ampel, fünfzig Meter weiter, zum Stehen kommt. Es lenkt mich vom Schmerz ab. Mein Puls rast. Ich versuche ruhig zu atmen und die Muskeln zu entspannen, die sich im ganzen Körper verkrampft haben.

Ich hätte den anderen Ausgang nehmen sollen. Das bedeutet keinen Umweg, und man muss die Straße nicht überqueren, man unter-quert sie. Unter mir rumpelt es: Die nächste Bahn. Mir egal, ich bleibe erst mal sitzen. Eine Minute später entströmen Menschen den Ausgängen auf beiden Seiten der Straße. Drüben bewegen sie sich von mir weg. Diesseits kommen sie in meine Richtung.

Sie scheinen sich nach einer höheren Choreographie zu richten oder nach dem Rechtsfahrgebot. Der Grund: je nachdem in welche Richtung man will, ist es kürzer den einen oder den anderen Ausgang zu nehmen. Ich stelle auch fest, dass ich jemand bin, der nicht grundsätzlich den U-Bahnausgang nimmt, der mich zur "richtigen" Straßenseite führt, wo ich hin will. Ich verhalte mich unökonomisch.

Den Gedanken lasse ich fallen, denn jetzt kommen sie. Die U-Bahn-Leute kommen auf mich zu. Nicht wundern, mein Bein ist gebrochen. Mir ist, als müsste ich lachen. Aber ein paar aufmunternde Worte könnte ich jetzt gut gebrauchen. Ich würde sagen: "Nicht so schlimm" und würde aufstehen wie Bruce Willis, wenn er mal wieder verprügelt wurde. Jedoch am liebsten würde ich heulen und sie alle umarmen, dass sie kommen mich zu retten, und gleich so viele. Aber ich bleibe gefasst und sehe der ersten Person, es ist eine Frau, ins Gesicht. Sie dreht sich weg mit ihrem Regenschirm. Ich versuche Blickkontakt aufzunehmen, niemand schaut her. Alle sind damit beschäftigt, nicht nass zu werden, sich Taschen und Zeitungen über den Kopf zu halten und mit der anderen Hand fröstelnd den offenen Mantel oder Anorak bis unters Kinn zu ziehen.

Ich sage: "Entschuldigung ..." Die Menge, etwa dreißig Leute, geht stumm weiter. Ich bin ratlos. Warum hilft mir keiner auf? Hätte ich Hilfe brüllen sollen? Mit den Armen rudern? Ein Nachzügler nähert sich. Er blickt der Gruppe nach und bleibt vor mir stehen. Ich lächle ihn an. Er trägt einen vor Nässe glänzenden Anorak mit der Kapuze tief ins Gesicht gezogen, enge Karottenjeans und billige Sportschuhe im Achtziger-Jahre-Stil.

"Gib mir deinen Mantel", sagt er.

"Was -?"

"Gib mir deinen Mantel."

Er tritt gegen meinen Oberschenkel. Ohne Fragen zu stellen ziehe ich den Mantel aus, dankbar dass er mir nicht gegen den Unterschenkel getreten hat. Der Typ rollt den Mantel zu einem Bündel und verschwindet in die Richtung, aus der er gekommen ist.

"Moment! Warten Sie! Kommen Sie zurück! Sie haben mein Telefon! Ich brauche mein Telefon!" Mein Kopf rotiert auf der Suche nach Hilfe. Nirgends mehr Menschen, nur Autos. Ich blöder Hund! In dem Mantel war außerdem noch mein Portemonnaie mit fünfzig Euro, Personalausweis, Firmenausweis, Führerschein, Kreditkarten. Vor Schreck hab ich ihm mehr gegeben, als er haben wollte.

Ich blicke ihm nach, er geht zur U-Bahn. Dann spuckt der Ausgang einen neuen Schwall Leute aus. Einen Moment lang scheint der Kapuzenmann vor einer Wand zu stehen, die ihn vor sich her schieben wird, zurück zu mir. Ich möchte rufen: "Haltet den Dieb! Er hat meinen Mantel! Er hat mein Handy mit den ganzen Telefonnummern!" (Er hat sogar zwei Karten für das Grönemeyer-Konzert am Freitag.) Ich komme nicht dazu. Die Menge nimmt ihn auf, er taucht in sie ein. Rufen ist zwecklos. Es sind gut dreißig Meter. Ich sammle mich so gut es geht für den Leutezug, der mich gleich passieren wird.


"Hallo Sie! Ich brauche dringend Hilfe.""Das brauchen wir alle", antwortet ein Mann, der mit seinem selbstbewussten geraden Gang nicht hilfebedürftig aussah. Sie gehen weiter, gingen einfach weiter.

"Junge Frau, kann ich bitte mal ihr Handy benutzen. Ich lade sie dafür zum Essen ein."

"Könnte einer von Ihnen mir mal zehn Sekunden zuhören?"

"Sie sehen aus wie jemand, der jemand, der in Not ist - nicht einfach seinem Schicksal ... äh, hallo?!"

"Könnte einer von Ihnen mir mal zehn Sekunden zuhören? Zehn Sekunden!"

Könnte es sein, dass ...?

"Entschuldigung, ich will sie bestimmt nicht anbetteln." - "Dann lass es."

Die halten mich wohl -

"Hallo! Könnten Sie nicht einem in Not geratenen - Ich wurde ausgeraubt und hab mir das Bein gebrochen! Ich brauche einen Krankenwagen!!"

Was ich auch sagte, es war für sie das Gesabbel eines Penners. Sie gingen weiter. Weil alle weiter gingen. Sie hingen mit unsichtbaren Ketten zusammen und konnten daher nicht stehen bleiben. Das begriff ich schließlich und schwieg. Ich überlegte, wie ich sie dennoch auf mich aufmerksam machen könnte. Ich war ratlos; ratlos, zornig und in meinem Stolz gekränkt.

Der Regen hörte auf. Am Nachmittag zeigte sich sogar die Sonne. Ich sann über verschiedene Dinge nach und hatte viel Zeit, mir den Platz, wo ich saß, genau anzusehen. Da war das Haus gegenüber oder sein Rohbau, glatter Stahlbeton, einen Halbkreis um mich bildend. Die Front war voller rechteckiger Fenster, fünf Stockwerke hoch. Das Ganze sah irgendwie amerikanisch aus, keine Ahnung warum. Ich wusste auch nicht, was für ein Haus das werden würde, wem es gehörte oder wer dort einzog. Wenn man immer dasselbe Haus vor der Nase hat, möchte man plötzlich alles darüber wissen.

Das hinter mir war schon bezugsfertig oder befand sich im Innenausbau. Der Bauzaun stand jedenfalls noch. Und dahinter grünte ebenfalls eine Freifläche, ehe das Haus anfing, das weiß war und oben so eine Art Penthouse hatte. Bauarbeiter entdeckte ich keine. Und dabei hatte ich immer das Gefühl gehabt, auf einer Baustelle zu arbeiten, auf der größten Baustelle Europas, wie es stolz hieß. Noch immer ragten hier mehr als dreißig Kräne in den Himmel. Der Himmel spiegelte sich in der Pfütze rechts neben mir. Manchmal unterbrach ich mein Sinnen und Schauen um mich selbst darin anzuschauen. Und manchmal machte ich einen wenig überzeugten Versuch, Hilfe zu bekommen und hatte es dabei meist mit ausländischen Touristen zu tun, die mich nicht verstanden.

Ich sah mir auch die Leute an, die vorbeigingen. Dies schien mir nun das Merkmal zu sein, das "Leute" kennzeichnete: sie gehen vorbei mit ihren Leutebeinen, wandelnde Klischees. Und ich saß an der Seite und war auch ein Klischee. Allerdings war ich mein Klischee nicht wirklich. Ich war kein Penner. Oder redete ich mir das ein? So wie Alkoholiker bestreiten, ein Problem mit Alkohol zu haben? Andere Penner halten sich vielleicht auch nicht für Penner, sondern für die Berufe, für die Unternehmer und Doktoren, die sie mal gewesen sind.

Mein Spiegelbild verändert sich, immer mehr, je öfter ich es ansehe. Meine Haare sind ganz durcheinander. Das ist keine Frisur mehr. Das ist kein Jackett mehr. Bald sind es die Augen, stumpfe Augen, bald Bartstoppeln - und ich sehe, was die Leute sehen. Ich sehe einen Penner.

Wie lange dauert es eigentlich, bis sie einen für tot erklären? Bis meine geschiedene Frau meine Wohnung auflöst? Es wird Abend und die Leute rennen an mir vorbei, um ihre Bahn zu kriegen oder gähnen, um zu zeigen, dass sie fleißig waren oder sind in Gedanken. Sie wollen keinen Stress, nicht mehr denken, keine Leute mehr sehen, nicht mehr freundlich sein. Sie alle sagen: "Sprich mich bloß nicht an!" Jemand wirft einen Euro vor mich hin.

"Danke!" rufe ich sarkastisch. Der Mann bleibt stehen und kuckt ungläubig. Er wird nie wieder einem Penner etwas geben. Er schüttelt den Kopf und geht weiter. Aber nun weiß ich, wie ich die Leute auf mich aufmerksam machen kann. Ich muss ihre Erwartungen gegenüber Pennern durchkreuzen, damit sie merken, ich bin keiner. Ein Einfall lässt mich auflachen. Ich werde rufen "Geld zu verschenken!" und mit einem Schein wedeln. Ich vergaß, dass mein Geld im Mantel war.

Es ist ein nie gekanntes Gefühl, kein Geld bei mir zu haben. Ich könnte mir nicht mal ein Taxi nehmen, wenn ich es denn zum Halten brächte. Was gab es außer Geld noch, das einen Nichtpenner klar von einem Penner unterschied? Nur saubere Kleidung.

Ein Taxi, das war wohl meine einzige Chance. Der Fahrer müsste mich zu meiner Frau (Ex-Frau) bringen, die würde ihn bezahlen. Ich musste es versuchen. Nicht gleich, später. Noch drückte ich mich vor den Schmerzen.

Es begann zu dämmern. Bald wäre es zu dunkel. Ich zog, ehe ich noch mal lange drüber nachdenken konnte, mein gesundes Bein an, die Arme griffen in den Zaun und so hievte ich ich mich hoch. Der Bruch schmerzte bei jeder Bewegung. Das Schlimmste kam jetzt. Ich hüpfte zur Straße und die Erschütterungen, so sehr ich versuchte sie auszugleichen, gingen auch ins linke Bein. Meine Schreie hallten von dem Haus drüben wieder. Und wenn sie zu mir zurückkamen, brach schon der nächste aus meiner Kehle. Ein Auto ließ ich noch vorbei, dann sprang ich auf die Fahrbahn. Ich sank nieder und drehte mich auf den Rücken.

Es war immer derselbe Ablauf. Das Auto bremste. Dann näherte es sich behutsam. Manchmal Hupen. Gehupt wurde auf jeden Fall hinter ihm und sie überholten. Man wollte nach Hause. Als letztes fuhr das Auto, das gebremst hatte. Oft hörte ich noch: "Mach dich von der Straße, Mann. Säufer!" - oder Vergleichbares. Dass ich verletzt sein könnte, darauf kam niemand. Andere hätten doch sonst längst geholfen oder würden es bald tun!

Ich werde hier liegen bleiben. So lautete mein Vorsatz. Es war nur eine Frage der Zeit, bis entweder die Polizei mich aufgabelte, was gut wäre, oder jemand mich überfahren würde, was nicht gut wäre. Ich lag etwa eine Viertelstunde. Dann nahm ich erneut alle Nervenkraft zusammen und kämpfte mich zurück auf den Bürgersteig. Denn sterben wollte ich nicht. Immerhin lag ich nun zwei Meter von der ersten Stelle entfernt. Ich hatte mich ein Stück zur U-Bahn hin bewegt. Die Leute stiegen nun teilweise über mich drüber. Das nervte. Ich setzte mich wieder an den Zaun.

Diese Rückkehr, so wurde mir klar, bedeutete, dass ich mich arrangiert hatte. So wie die Leute sich mit mir abfanden, wenn sie über mich rüber stiegen. Vielleicht grüßen sie mich morgen schon. Es ist ihnen zuzutrauen.

Nein, sterben wollte ich nicht. Ich hatte doch, abgesehen von meiner momentanen Lage, ein wunderbares Leben. Das war doch alles noch da und gar nicht so weit weg. Es würde sich was ergeben, wie ich ins Krankenhaus käme. Ganz sicher.

*​

Drei Tage saß ich an dem Bauzaun. Die erste Nacht habe ich geweint. Ich lernte zu akzeptieren. Als nächstes wollte ich verstehen. Ja, die Leute sind hart. Andererseits kann ich es ihnen nicht verdenken. Ich bin halt keiner von ihnen. Wen kümmern, sagen wir, hungrige Ratten? Es gibt zu viele und sie bringen keinen Nutzen. Empfanden die Leute auch Mitleid? Schuld? Wie war das, als ich in ihrer Rolle war. Ich weiß es nicht mehr. Damals war ich ein Anderer als jetzt.

Ein Arbeitskollege erkannte mich schließlich und ich kam ins Krankenhaus. Nun bin ich hier und empfange süßfreundlichen Besuch. Die "Leute" haben mich ganz selbstverständlich wieder unter sich aufgenommen.
 

anemone

Mitglied
hallo JimKaktus,

So kann es gehen. Ich habe deine trotz allem humorige Geschichte gerne gelesen. Erinnere mich daran, wie es meinem Sohn ergangen ist, als er mit etwa 8 Jahren
angefahren wurde und wie eine streunende Katze nach Hause kam. "Fahrerflucht!" konstatierte der Arzt. Der Fahrer hatte den Jungen nur ausgeschimpft und gefragt: Alles in Ordnung? Vor lauter Schreck, da es sein Fehler war,
unachtsam die Straße zu überqueren, spürte er die Verletzung nicht.
Bei deinem Text ist es ähnlich.

lG
 



 
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