Filmschnitt

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Frieda

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Filmschnitt

"Verdammt nochmal, warum funktioniert das blöde Ding denn nicht?", wütend warf Pekka den Schraubenzieher in die Ecke. Seine nagelneue Super-Wunder-Videoschnittkarte war offiziell noch gar nicht auf dem Markt, aber dank einiger uralter Kontakte aus seiner Studienzeit in Helsinki war er sogar recht günstig an sie herangekommen. Endlich konnte er bequem die vielen Urlaubsfilme aufarbeiten, er hatte es seiner Frau schon so lange versprochen. Der Einbau der Karte war kein Problem gewesen, nicht für Pekka, den Computer-Freak. Beim Hochfahren hatte sein Maschinchen auch brav die neue Karte erkannt, aber jedes Mal wenn er versuchte, seinen digitalen Camcorder anzuschließen, stürzte das System kommentarlos ab und ließ sich nicht mehr starten. Dreimal hatte er die Karte schon aus- und wieder eingebaut, dreimal die zugehörige Software installiert, ohne Erfolg. "Keine Panik", sagte er zu sich selbst, "das muß nicht an der Karte liegen, vielleicht ist nur das Kabel kaputt." Ärgerlich kroch er zum vierten Mal unter den Schreibtisch. Hervorziehen wollte er den PC nicht, dann hätte er die viel zu kurzen Kabel von Lautsprecher und Bildschirm gleich mit herausgerissen.

"Mann bin ich blöd!" Pekka traute seinen Augen nicht, das Kabel für den Camcorder war überhaupt nicht angeschlossen. Eigentlich war er sich sicher gewesen, daß er es eingesteckt hatte. "Das gibt's doch nicht, das muß rausgerutscht sein. Meine Güte, ich bin doch kein Anfänger!" Dort unten im Dunkeln konnte er auf Anhieb den Anschluß für das Kabel nicht finden. Also: noch einmal herauskrabbeln, kräftig den Kopf am Schreibtisch stoßen, laut fluchen, Taschenlampe suchen, samt Taschenlampe und schmerzendem Kopf wieder unter den Schreibtisch kriechen und dann ... Was war das jetzt wieder? Er sah jede Menge bunter Anschlüsse auf der Rückseite des Computers, aber nicht die FireWire-Schnittstelle für sein Camcorder-Kabel. Hier hätte sie sein müssen, neben den Audio- und Video-Eingängen. Aber außer einem kleinen, sternförmigen Loch war dort nichts zu sehen. "Was soll das denn für ein Anschluß sein? Oh Scheiße, das ist doch keine genormte Schnittstelle", brummte er vor sich hin. Allmählich wurde ihm ganz dusselig im Kopf. Uah, ich sollte mal wieder eine Nacht durchschlafen, dachte er.

So langsam zweifelte Pekka an seinem Verstand. "Sirpa, komm doch mal, hast du sowas schon mal gesehen?" Sirpa und er kannten sich schon seit einer Ewigkeit. Sie waren miteinander aufgewachsen, hatten zusammen studiert, ihre Gegenwart war für ihn so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Auch als er schon bald nach ihrer Hochzeit wieder mehr Zeit am Computer verbrachte als mit seiner jungen Frau, beklagte sie sich nie. Erst in letzter Zeit gab es ab und zu Streit deswegen. Anfangs war Pekka verwundert und sogar etwas beunruhigt. Dann aber machte er es sich zur Gewohnheit, sie einfach nicht zu beachten, wenn sie wieder mal in streitbarer Stimmung war.
"Was soll der Quatsch, glaubst du, ich krieche zu dir unter den Schreibtisch? Komm lieber mit ins Bett, es ist schon spät. Pekka, hörst du nicht? Morgen kommst du wieder nicht aus den Federn!"
Als er nicht antwortete, rauschte Sirpa wütend ab ins Schlafzimmer. Sie erschien nur noch einmal, um ihm sein Bettzeug vor die Füße zu knallen. "Dann schlaf doch mit deinem Computer, Blödmann!"
Anschließend lag Sirpa noch lange wach, Wut und Enttäuschung ließen sie nicht zur Ruhe kommen. So hatte sie sich die Ehe nicht vorgestellt. Aber morgen würde sie ihn zur Rede stellen. Morgen mußte er sich entscheiden, entweder sie oder der Computer.

Als Sirpa erwachte, dämmerte es bereits. Auch das noch, verschlafen! "He Pekka, aufstehen, es ist schon halb sieben." Erst als sie das leere Bett sah, fiel ihr ein, daß sie ihn ja selbst ausquartiert hatte. Schlecht gelaunt schlurfte sie in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. "Sag bloß, der hockt noch am Computer." Die Tür zum Arbeitszimmer stand einen Spalt offen, sie konnte sehen, daß drinnen Licht brannte. Jetzt hörte sie auch quäkende Geräusche so wie aus einem Computerlautsprecher.
"Also jetzt reicht es! Du bist wohl vollkommen übergeschnappt! Spielst die ganze Nacht an diesem Scheißding. Wieso hast du mich nicht wenigstens geweckt, jetzt komme ich zu spät zur Arbeit!" Außer sich vor Wut stürmte sie ins Arbeitszimmer. Aber - da war niemand, Pekka war nicht da. Sein PC war noch an, und tatsächlich lief dort eins von seinen Computerspielen. Wahrscheinlich hatte er es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht, aber seine blöde Rappelkiste hätte er wenigstens vorher ausschalten können. Merkwürdig war nur, daß das Bettzeug noch genau so am Boden lag, wie sie es am Abend zuvor hingeworfen hatte. "Der wird doch nicht ..." Sirpa rannte weiter ins Wohnzimmer, niemand da, im Bad auch nicht, Pekka war nirgends zu finden. "So eine Gemeinheit", heulte sie. "Haut einfach ab und sagt keinen Ton. Na warte, Freundchen, das wird dir noch leid tun, ich lösche dir alle Programme, ich schlage deinen Computer kurz und klein."

"Ssssirpaa!"
Was war das? Sirpa stand stocksteif und horchte. Es schien vom Computer zu kommen, oder? Sie trat näher und setzte sich auf Pekkas Bürostuhl. Nein, es war kein Computerspiel, was dort ablief, es war der Film von ihrer Hochzeitreise. Also hatte er es doch endlich wahr gemacht und den alten Film bearbeitet. Pekka ... , sie fühlte sich um 10 Jahre zurückversetzt. Mit dem Betrachten der Bilder kamen die alten Zeiten wieder, die Gefühle von damals. Die Flitterwochen hatten sie in dem winzigen Landhaus seiner Eltern am Inari-See verbracht. Vier wundervolle Wochen mitten in der Wildnis ohne Strom und fließendes Wasser, es gab keine anderen Menschen, nur sie beide. Pekka, der alte Technik-Freak, hatte die witzige Idee, die Kamera und ein Stativ mitzunehmen und alles "für die Nachwelt" festzuhalten. Aber er war nie dazu gekommen, den Film zu bearbeiten, und so hatten sie ihn sich nicht mehr angesehen. Sirpa merkte nicht, wie ihr beim Betrachten der alten Bilder die Tränen herunterliefen. Sie tauchte ein in die Vergangenheit, sah Pekka und sich beim Sonnenbaden, Pekka beim Holzsammeln, Pekka beim Angeln. Nackt stand er fast bis zu den Hüften im Wasser. "Paß auf, daß dich nicht die Fische beißen", rief eine helle Frauenstimme. Das war meine, dachte sie traurig.
Jetzt pfefferte Pekka die Angel ins Wasser und stürmte auf das Ufer zu. Sie sah sich selbst lachend durch das flache Wasser laufen. Bald hatte er sie eingeholt, aber die Bilder dazu konnte sie nur mit ihrem inneren Auge sehen. Die Kamera gab nur die rhythmisch sich ausbreitenden Wellen wieder, Pekkas Stimme war zu hören, dunkler als sonst, und ihre eigene, die in seine hineinklang.
Sirpa saß auf ihrem Bürostuhl und fühlte schmerzhaft wie sehr sie ihn noch liebte, wie sehr sie ihn jetzt vermißte.

Filmschnitt!
Sirpa schien es, als blickte sie in einen dunklen Kanal, nur wenig Licht schien durch eine kleine, sternförmige Öffnung. Die Öffnung verdunkelte sich, als Pekkas verärgertes Gesicht darin auftauchte. Er sah sie an, und sein Ärger verwandelte sich in Staunen und Neugier. "Träum ich denn? Sirpa?", hörte sie ihn fragen.
Fimschnitt!
Wieder das Häuschen am Inari-See, Pekka lief am Ufer auf und ab, er schien etwas zu suchen. Merkwürdig, sie konnte sich an diese Szene nicht erinnern. Und noch etwas erschient ihr seltsam, er war plötzlich fülliger geworden und sein Haar zeigte einige graue Stellen. Jetzt sah er voll in die Kamera, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Er rannte auf den Betrachter zu, schien nach vorn aus dem Bild herauslaufen zu wollen, aber irgend etwas hielt ihn auf. Mit beiden Fäusten schlug er gegen das unsichtbare Hindernis, mehrmals nahm er Anlauf und sprang dagegen, und jedesmal wurde er zurückgeschleudert.
"Was soll denn der Zirkus!", Sirpa spürte schon wieder Wut in sich aufsteigen. "Warum muß er unseren schönen alten Film mit seinen billigen Spielchen versauen." Entschlossen markierte sie den entsprechenden Filmabschnitt, um ihn zu löschen.
"Sirpa, nein! NEIN!"
Sie hörte den verzweifelten Schrei im selben Moment als sie auf die Delete-Taste drückte.

[strike]"Pekka, was ist? Was machst du da auf dem Fußboden? Schläfst du?" Pekka schreckte hoch und stieß prompt wieder mit dem Kopf an. Stöhnend wälzte er sich unter dem Schreibtisch hervor. Er sah Sirpa schlaftrunken an der Tür stehen und zu ihm rüberschauen.
"Au, mein armer Schädel!" Benommen richtete er sich auf. Sein Computer summte monoton vor sich hin, auf dem Bildschirm blinkte die Meldung "avi file succesfully exported". Vorsichtig blickte er zu seiner Frau hinüber. Hatten sie sich nicht gestritten? Oder hatte er das geträumt? Pekka war sich nicht sicher. Er fragte sich, ob sie wohl das Bettzeug wieder aufgesammelt hatte, es lag jedenfalls nicht mehr am Boden. War sie noch sauer? Nein, es schien nicht so, da sollte sich einer mit den Frauen auskennen. Er seufzte vor Erleichterung als Sirpa fürsorglich einen Arm um ihn legte und ihn ins Schlafzimmer führte. "Komm ins Bett, du bist ja vollkommen überarbeitet."[/strike]
 

Frieda

Mitglied
Hallo flammarion,

dein Vorschlag hat was. Das würde die Geschichte ganz schön verändern, da muß ich noch eine Weile drüber nachdenken. Aber reizen tut es mich schon, ich neige ja immer ein bißchen zu solchen Alles-wird-gut-Geschichten. Auf jeden Fall schon mal vielen Dank für den Denkanstoß.

Liebe Grüße
von Frieda
 

Frieda

Mitglied
jaaa

... ich habe es getan. Böse, böse die Geschichte, das hätte ich mich alleine wahrscheinlich nicht getraut. Gefällt mir aber. Ich mag's ja kaum zugeben, aber sie ist wirklich jetzt besser.

Liebe Grüße
von Frieda
 

Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Frieda,

einfach Klasse - deine Geschichte! Bin wahnsinnig enttäuscht, weil es nichts zu meckern gibt. Nicht mal stilistische Schnitzer. Ein Märchen - und voll aus dem echten Leben.
Ich fand auch die erste Version recht hübsch. Aber die zweite ist natürlich überraschender.
So, und nun schleiche ich mich aus dem Arbeitszimmer. Ich brauche zwar keine Wunder-Schnittkarte, aber man weiß ja nie. Es gibt bei mir nämlich auch jemanden, der gern an der DEL-Taste spielt.

Gruß Ralph
 

Frieda

Mitglied
Hallo Ralph,

danke erstmal für den Applaus. Am Anfang konnte ich mich schwer von dem letzten Absatz trennen, muß aber zugeben, daß es so besser ist.
Na dann paß mal schön auf, daß du nicht zwischen die Tasten gerätst. Auf meiner Del-Taste steht zwar "Entf", sie ist aber genau so gefährlich.

Liebe Grüße
von Frieda
 

Frieda

Mitglied
Hallo Nico,

das ist wirklich Geschmackssache, denke ich. Da kann man mal sehen, wie das Weglassen eines einzigen Absatzes die Geschichte total verändern kann. Mich würde mal interessieren, warum du die erste Version besser findest.

Liebe Grüße
von Frieda
 
L

Lee

Gast
Hallo Frieda,

nette Twilight Zone Atmo.

Den markierten Satz würde ich streichen. Der ist überflüssig....

LG, Lee
Ursprünglich veröffentlicht von Frieda
Filmschnitt



"Mann bin ich blöd!" Pekka traute seinen Augen nicht, das Kabel für den Camcorder war überhaupt nicht angeschlossen. [red]Das muß ich tatsächlich vergessen haben, dachte er.[/red] Dabei war er sich sicher gewesen, daß er es eingesteckt hatte.
 

Frieda

Mitglied
Hallo Lee,

danke für deine Rückmeldung. Ich fand den Satz eigentlich nicht überflüssig, aber trotzdem irgendwie unpassend und habe an der Stelle noch etwas herumgebastelt.

Liebe Grüße
von Frieda
 



 
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