Fixierte Tage

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Holomino

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Fixierte Tage

Wenn ich heute Tagebuch schreiben würde, ich denke ich hätte nicht viel zu berichten. Wenn ich schon seit längerem Tagebuch führen würde, hätte ich jetzt eine Sammlung leerer Seiten, akribisch versehen mit dem Datum vergangener Tage. Vielleicht hätte ich dadurch endlich einen Beweis, dass diese Tage wirklich gewesen sind. Vielleicht hätte ich auch Belanglosigkeiten hineingeschrieben. Aber wahrscheinlich hätte ich nur neben das Datum einen Haken gemacht. Dieser Tag ist abgehakt!
Ach, was würde ich schreiben. Vielleicht so etwas wie:

Heute habe ich mich verliebt.

Das wäre glorreich. So etwas würde ich später dann auch selber gerne wieder lesen. Oder ich könnte es meinen Nachkommen zeigen. "Guck mal, an dem Tag habe ich Deine Mutter kennengelernt. Den Tag habe ich in meinem Tagebuch mit einem Satz versehen und damit unsterblich gemacht."
Aber was würde ich sagen, wenn der Nachwuchs dann anfängt zu blättern und all die anderen leeren Seiten sieht. Es müssten mehr solche Sätze darin stehen:

Hurra, ich werde Vater

Gut, gibt bei drei Kindern auch drei Seiten und damit drei unsterbliche Tage...
...auf fünf Jahre verteilt.

Ich verdiene jetzt mehr Geld und kann meinen Kindern eine elektrische Duplo-Eisenbahn kaufen

Das hat wirklich unsterbliche Stunden in meinem Leben bedeutet. Allerdings weniger, weil ich meine Kinder damit besonders glücklich gemacht habe, sondern weil ich selbst abends heimlich im Wohnzimmer dem einsamen aber erfindungsreichen Lokführerdasein frönte. Also, darf ich das überhaupt in ein Tagebuch schreiben? Sollte dort nicht wahrheitsgemäß stehen:

Heute habe ich mir von meinem sauer verdienten Geld eine Duplo-Eisenbahn gekauft. Die Kinder dürfen auch damit spielen.

Mein Gott, darf man so was schreiben? Was sollen die Kinder denken? Was für ein pädagogischer Supergau. OK, neue Idee, wie wäre es mit:

Heute habe ich das Rauchen aufgegeben

Kann ich so etwas überhaupt zeitnah schreiben? Müsste ich da vielleicht am nächsten Tag notieren:

Heute habe ich das Rauchen neu für mich entdeckt

Hmmm, schön positiv formuliert.
Es ist nicht so ganz einfach. Bleiben neben den Lügen und Beschönigungen realistisch gesehen doch nur die Belanglosigkeiten, die täglichen kleinen Peinlichkeiten, die minimalen Tiefs und Hochs und als Würze vielleicht noch eine Prise des Humors, den ich hoffe, mir über diese Durststrecke meines Lebens bewahrt zu haben. Also könnte ich schreiben:

Heute morgen bin ich um 6 Uhr mit einem starken Übelkeitsgefühl aufgewacht. Kein Wunder, gestern habe ich ungesund gelebt:
Pizza mit Lachs und Schafskäse verfeinert, zwei Bier, anschließend eine Flasche 'Batida de Coco', dazu Zigaretten und Fernsehen.
Nach zwei Tassen Tee und einer längst überfälligen Dusche (der Duft war nicht 'animalisch' sondern 'bestialisch') habe ich mich heute morgen zur Arbeit getrollt.
Mein Arbeitsergebnis bestand darin, zwei von mir programmierten Softwarefehlern eigenständig den Garaus zu machen, einige unbedeutende Anpassungen in einer Dokumentation vorzunehmen und mir eine Stunde die Beine bei meinem Projektleiter in den Bauch zu stehen, um mir eine Bestätigung für einen unausweichlich kommenden Arbeitsschritt geben zu lassen und ihm gegenüber meine Kommunikationsbereitschaft und Diensteifrigkeit zu bekunden, so dass er nicht seinem Vorgesetzen eingestehen muss, dass er nicht die Bohne eine Ahnung hat, was ich denn so den ganzen Tag treibe.
Als ich abends nach Hause kam, stellte ich fest, das Frau und Kinder einen weiteren Tag ohne telefonische Rückmeldung im Urlaub (Dänemark, Legoland, nein, wir haben keine Ehekrise, ich habe einfach keinen Urlaub bekommen, weil meine Arbeit so immens wichtig für die Firma ist) verbracht haben.
Viel Vergnügen!
Nach zehnminütiger Recherche hakte ich das heutige Fernsehprogramm ab. So bin ich nun hier gestrandet und schreibe in mein imaginäres und wahrscheinlich fortsetzungsloses Tagebuch.


Gestrandet! Das passt!
Was würde ich morgen schreiben? Der Tag wird nach der heutigen Planung ähnlich aussehen: Aufstehen, Arbeit, was Essen und abends stranden. Keine Vorgaben, keine Initiative und bloß kein Stress.
Und übermorgen? Als Highlight könnte ich notieren, dass die Familie aus dem Urlaub zurückgekehrt ist.
Am Wochenende wäre dann zu schreiben, dass Wochenende ist.
Würde ich am Sonntag schreiben? Oder hätte mein Tagebuch dann frei?
Die nächste Woche könnte ich mit dem täglichen Kleinkrieg füllen. Eine sinnlose Aneinanderreihung von mehr oder weniger geglückten Situationen. Umstände, die ich weder geplant noch erhofft habe. Komik, über die ich in dem Augenblick, in dem sie entstand, bis zum Abwinken lachen konnte, die mir später aber nur noch einen schalen Geschmack der verketteten Abstrusitäten meines Lebens vermittelt. Genauso gut könnte man ein Videoband aufnehmen. Mein persönliches "Big Brother". Das Spiel des Lebens. Wer guckt eigentlich so einen Scheiß? - Mein Gott!

Als Techniker würde ich sagen: "Eine gigantische Menge Datenmüll"

Als Mensch sage ich: "Wen interessiert's? - mich nicht"

Als Ich sage ich: "Nein Tagebuch, Du sollst es nicht sein, meine Botschaft, meine Idee, mein Leben. Du sollst nicht sein, was ich schreibe, denn Du wärest ja die Realität. Du wärest nicht meine Träume, meine Kreativität, mein Ich. Du wärest nur die verkrustete Hülle von mir. Du wärest das Andenken an den Menschen, den ich so hasse, die böse Erinnerung an die Tage ohne Lebensberechtigung. Du wärest das, was ich bin und nicht das, was ich sein will. So viel verschenkte Zeit, schwarz auf weiß fixiert, bis ich Dich verbrenne und damit die Tage vernichte, die ich vergessen will."
 
N

nobody

Gast
Wer guckt eigentlich so einen Scheiß? - Mein Gott!
Meiner wahrscheinlich auch ...

Leider funktioniert meine Bewertungsstrichmaschine wieder einmal nicht. Wenn sie wieder geht, werde ich mich zwischen 9 und 10 entscheiden müssen.

LG Franz
 
M

mirami

Gast
hallo holomino,

großartig dein text. spannend und sehr amüsant. ich kam aus dem grinsen nicht mehr raus. wahrscheinlich denken die meisten männer so über’s tagebuchschreiben. ich glaube männertagebücher im allgemeinen wären ohnehin sehr langweilig. ;-) das liegt nicht daran, dass männer etwa weniger erleben sondern daran, dass sie ganz eigenartige prioritäten haben was hineinzuschreiben wäre. siehe:

„Pizza mit Lachs und Schafskäse verfeinert, zwei Bier, ...“

oder das hier war auch sehr lustig:

“Mein Arbeitsergebnis bestand darin, zwei von mir programmierten Softwarefehlern eigenständig den Garaus zu machen, einige unbedeutende Anpassungen in einer Dokumentation vorzunehmen...“

obwohl, wenn ich’s mir genau überlege, wären die gar nicht langweilig. endlich bekämen wir frauen mal schwarz auf weiß zu lesen, was in euch tatsächlich vorgeht und was euch so wirklich bewegt im leben. das würde vieles erklären, sinnlose diskussionen ersparen und das miteinander vielleicht einfacher machen. was aber wenn ihr unsere tagebücher lesen würdet? wir würden euch ja noch unverständlicher und am ende hätten wir noch den beweis, dass frauen und männer sich überhaupt nicht verstehen können! :)

ganz herzlich gelacht habe ich über den satz:

Als Techniker würde ich sagen: "Eine gigantische Menge Datenmüll"
Als Mensch sage ich: "Wen interessiert's? - mich nicht"


da wird dir wohl jeder recht geben, ob männlich oder weiblich, der im nachhinein eigene alte aufzeichnungen liest. ich jedenfalls halte es da mit adenauers: "was interessiert mich mein geschwätz von gestern" :D


in jedem fall waren das hier die lustigten potentiellen tagebucheinträge und gedanken über das tagebuchschreiben an sich, die ich je gelesen habe.


liebe grüße
mirami
 

Phalcalla

Mitglied
Im ersten Moment finde ich den Text eigentlich sehr amüsant zum lesen. Man kommt auch zeitenweise ins Schmunzeln.

Aber ist es denn wirklich so schlimm, wenn ein Mann Tagebuch schreibt, und kann ein Leben wirklich nur aus leeren Tagebuchseiten bestehen?

Natürlich gibt es im Leben oft "leere Seiten" aber deshalb muss man das Tagebuch nicht aufgeben.
Ich fände es eine schöne Vorstellung, dass eines Tages einmal meine Kinder mein TAgebuch lesen, und sagen "hey, an dem tag hast du Papa/MAma kennen gelernt. Ist das toll." Und wenn auch das Kommentar von meinen Kindern nur "ist das kitschig so wie ihr euch kennen gelrnt habt." sein sollte, ich fände es schön meine Kinder oder auch mich selbst wieder an die schönen Dinge in meinem LEben zu erinnern. Was auch sehr gut dabei hilft die "leeren SEiten" zu überbrücken.
 

Holomino

Mitglied
Puhhh,

danke auch.

Wobei ich nicht unbedingt sagen wollte, dass ich oder die Männer im allgemeinen Tagebuchhasser sind.
Mir (nur zum Verständnis, Mirami, Phalcalla) scheint es jedoch nicht so erstrebenswert. Es liegt weniger am Medium, sondern am Inhalt. Das ist mein sehr persönliches Fazit.

Gruß Holomino
 



 
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