Amal blickte aus dem Fenster, während sie die Blätter des Gummibaumes abstaubte. Den Lappen hatte sie in Olivenöl getränkt, sie liebte den Duft und der Pflanze schien es nicht zu schaden. Das glänzende Grün des Laubwerkes ließ sie immer an Fruchtbarkeit denken. Amal war früher nicht schwermütig gewesen, nie hätte sie gedacht, dass der Umzug nach Deutschland sie so verändern könnte. Eine dicke Schicht Staub schien sich auf ihre Seele gelegt zu haben, eingedrungen durch die Augen, die Nase, die Ohren. Wenn Amal aus dem Fenster sah, trennte nur ein schmaler Hof sie von dem düsteren Nachbarhaus. Um den Himmel zu sehen, musste sie dicht an die Scheiben treten und den Kopf in den Nacken legen. Sie verstand nicht wie Menschen in einem Land leben konnten, ohne ihm ihre Düfte zu geben. Hier roch sie im Sommer höchstens den Gestank der Mülltonnen den die Wärme aufsteigen ließ. Zu ihrer Beschämung merkte sie, dass sie selbst diese faulige Ausdünstung genoss, in dieser Welt, die ihre Nase so sehnsüchtig nach den heimatlichen Gerüchen machte. Wie kochten sie hier nur ihr Essen ohne das es roch; selten konnte sie einen würzigen oder fettigen Hauch davon einatmen. Amal hätte die Düfte ihrer Heimat nicht beschreiben können, sie begannen bei Gewürzen, schlossen den Gestank der Zweitaktmotoren, der Esel, den Männerschweiß, den Urin und den Geruch der staubigen Erde mit ein. Aus allen Häusern strömte dort der Duft der Speisen die zubereitet wurden. Amals Ohren waren den Lärm von Stimmen gewöhnt, Schreie und Lachen von Kindern, Rufe der Händler und die lauten Gespräche der Frauen, unterlegt von Hundegebell, knatternden Mopeds und Radiomusik.
Hier in diesem Land gab es wenig zu hören, der Straßenverkehr floss so gleichmäßig wie Stille, wenn Menschen bei geöffneten Fenstern sprachen, versuchten sie zu flüstern. Selbst die Kinder sollten leise sein. Amals Ohren wurden bald so traurig wie ihre Augen und ihre Nase.
Ihre größte Freude war ihr Balkon, ein Garagendach, das sie von der Küche aus betreten konnte. Hier pflanzte sie Blumen und Kräuter und hier war jetzt im Sommer auch die Voliere mit den Kanarienvögeln. Leider gediehen die Pflanzen kaum, ihnen fehlte die Sonne, die nur in der Mittagszeit ein Stunde ihre Strahlen über das Dach wandern ließ. Manchmal verschob Amal die schweren Blumentöpfe, um dem Sonnenlicht so lange wie möglich zu folgen. Trotzdem blieben die Pflanzen kümmerlich. Das einzige was hier gedieh war Efeu und dunkles Moos, mit ihrem düsteren Grün schienen sie eher an den Tod zu gemahnen, denn an das Leben.
Amal lebte seit fünf Jahren in Deutschland, sie war Amir, ihrem Mann hierher gefolgt.
Manchmal dachte Amal an die ersten Jahre ihrer Ehe zurück, als sie heiratete war sie ein Mädchen von achtzehn gewesen. Sie war damals glücklich, einem so bedeutenden Mann wie Amir zu gefallen. Er war ein hoher Offizier und suchte eine junge Frau, um noch eine Familie zu gründen. Amir war damals dreißig Jahre älter als sie, er hatte sein Leben bis dahin der Befreiung des palästinensischen Volkes gewidmet. Amal gebar ihm zwei Söhne, Harith und Murad. Diese ersten sieben Ehejahre war die schönste Zeit in Amals Leben gewesen, ihre Mutter und ihre beiden Schwestern besuchten sie häufig, sie hatten keine Geldsorgen und alles schien unter ihren Händen zu gedeihen. Das Haus duftete immer nach Essen, die Kinder waren selten krank und in ihrem kleinen Garten wuchs das Gemüse besser, als bei allen Nachbarn. Gerne hätte sie noch mehr Kinder bekommen, aber Amir schien seine Kraft verbraucht zu haben, nie rührte er sie nach der Geburt von Murad mehr an. So blieb es bei den beiden Söhnen, obwohl sie so gerne noch eine Tochter gehabt hätte.
Als Murad fünf war, beschloss Amir zu seinem Bruder nach Deutschland zu ziehen, dieser betrieb eine gut gehende Spedition und war selbstverständlich bereit, seinen älteren Bruder in das Geschäft aufzunehmen. So war dann auch Amal hierher gekommen, wie jede Frau dem Manne folgen muss. Inzwischen war Harith zwölf und Murad zehn, sie schienen hier nichts zu vermissen, hatten ihre Heimat schon lange vergessen, wie Amal wehmütig bemerkte.
Ihre Söhne waren zwar nicht wie deutsche Kinder, dazu erzog sie Amir zu streng, aber ihnen fehlten auch die Ernsthaftigkeit und der Glaube, den in ihrer Heimat jedes Kind hat.
Amal versuchte immer wieder zu verstehen, was ihre beiden Söhne hier so anders werden ließ, auch sie und ihre Geschwister hatten als Kinder gelacht, sie hatten gespielt und sich Geschichten ausgedacht, aber es war ihnen immer bewusst, dass sie mit einer Aufgabe geboren worden waren. Amal hätte selbst heute diese Aufgabe nicht genau benennen können, der Befreiungskrieg war es sicher nicht alleine - obwohl er wichtig war - dafür hatte er zu viel Leid über sie alle gebracht und insgeheim waren viele von ihnen seiner müde.
Es war wohl eher so, in ihrer Heimat wäre Amal nie auf den Gedanken gekommen, ihr Leben könne sinnlos sein.
Anfangs hatte Amal viel geweint, heute hatte ihre Trauer ihren ganzen Körper ergriffen. Manchmal, wenn sie das Essen bereitete schienen es ihr, als weinen ihre Hände, die das Gemüse putzten und wenn sie in der Badewanne saß, sah sie die Trauer in den schweren Brüsten, den dicken Beinen und dem dichten Schamhaar, das von den Oberschenkeln bis zum Bauch reichte. Ihr Körper hatte die verlorene Hoffnung eines gestrandeten Wales.
Amal hielt noch den öligen Lappen in der Hand, als sie Harith und Murad im Hausflur rufen hörte. Lächelnd öffnete sie die Wohnungstür um sie einzulassen, achtlos stürmten die beiden Jungen an ihr vorbei, ließen die Schulranzen fallen und liefen in die Küche um zu sehen, was es zu Essen gäbe. Etwas würden sie noch warten müssen, bis ihr Vater nachhause kam. Amir kam jeden Mittag zum Essen, obwohl sein Bruder ihn immer wieder einlud bei sich zu essen. Aber Amir schätzte die Kochkunst seiner Schwägerin nicht besonders; sein Bruder hatte eine Deutsche geheiratet. Gila hatte sich zwar sehr gut angepasst, dass musste selbst Amir ihr zugestehen, aber richtig fand er diese Ehe trotzdem nicht. Er liebte seine drei Neffen, die beiden Nichten und seinen Bruder, seine Schwägerin nahm er in Kauf, um den Familienfrieden nicht zu gefährden.
Amal war Gila noch immer dankbar, weil sie ihr im ersten Jahr in diesem kalten Land sehr geholfen hat. Sie hat sie gelehrt wo sie einkaufen konnte, sie hatte ihr die wichtigsten Worte immer wieder vorgesagt, bis sie in Amals ungeübtem Gedächtnis verhaftet waren. Gila hatte sie auch überredet einen Deutschkurs zu besuchen und sie sogar begleitet, weil Amal nicht gewagt hatte, alleine dorthin zu gehen. Trotzdem blieben sich die beiden Frauen fremd, Amal fühlte Dankbarkeit für ihre Schwägerin, aber keine Liebe. Dabei hatte sie mit sich um diese Liebe gerungen, verzweifelt versucht, sie bei sich zu erzwingen – allein vergebens, es blieb bei einer respektvollen Verbundenheit.
Harith, der ältere, öffnete die Klappe des Backofens, stocherte mit einer Gabel im Gittermuster des Teigs, unter dem sich ein Lammauflauf verbarg. Erst als Amal ihn das dritte Mal gebeten hatte die Herdtür zu schließen, ging er widerwillig mit Murad auf den Balkon, um dort auf die Ankunft seines Vaters zu warten. Die Brüder setzten sich dort auf eine kleine Bank, verbanden ihre Gameboys und begannen, gegeneinander zu spielen.
Amal wusste, dass sie nur noch wenig Einfluss auf Harith hatte, er würde herrisch wie sein Vater werden. Der Unterschied war, Amir hatte Respekt vor seiner Frau, er liebte sie und behandelte sie immer mit Achtung, Harith belächelte seine Mutter und gehorchte ihr nur, wenn der Vater zuhause war.
Amal musste sich immer überwinden, Harith um etwas zu bitten, meist tat er es doch nicht und sie sank noch tiefer in seiner Achtung, weil sie ihn nicht zwingen konnte.
Amir unterdrückte jedes Widerwort mit unerbittlicher Strenge und harten Schlägen, aber das konnte sie nicht. Sie war zu stolzer Sanftmut erzogen worden, nie hätte sie ihren zwölfjährigen Sohn schlagen können. Jetzt haderte sie ihn zu bitten, ihr zwei Flaschen Wasser aus dem Geschäft zu holen. Sie hatte sie heute Morgen vergessen einzukaufen und jeden Augenblick würde Amir Nachhause kommen, sie musste rasch den Tisch decken und den Salat zubereiten. Als Amal ihren Sohn bat, diese Besorgung schnell für sie zu machen, verzog er sein Gesicht,
„Gleich, wir müssen noch das Spiel zu Ende spielen… außerdem kann auch Murad gehen. Wir werden darum wetten..“
Amal zögerte einen Augenblick, sah Harith bekümmert an, dann verschwand sie wieder in der Küche.
Während sie den Tisch deckte hörte sie ihre Kanarienvögel aufgeregt zwitschern - hoffentlich machten die Jungen sich nicht wieder einen Spaß daraus, sie mit Stöcken durch den Käfig zu jagen. Als das Vogelgeschrei immer lauter wurde, stürzte Amal nach draußen.
Die Tür des Vogelkäfigs war geschlossen, auf dem Boden davor lagen ihre Gartenschere und zwei gelbe Federbündel. Am anderen Ende des Balkons stand Harith und hielt etwas in der erhobenen Hand, während er seinem Bruder zurief,
„Ein Vogel ohne Flügel kann doch fliegen!.. Die Wette habe ich gewonnen.“
Dann warf er seinem Bruder etwas zu. Murad wich dem flaumigen, gelben Körper aus, er landete vor Amals Füßen. Sie konnte den Aufschrei nicht unterdrücken, als sie den halbtoten Vogel sah, der sich in grauenhafter Furcht vor ihr auf dem Boden wand. Er streckte sein Köpfchen nach oben, war verzweifelt bemüht sich wieder aufzurichten, schien sich mit den winzigen Krallen an der Luft festhalten zu wollen. Dabei schrie er so qualvoll, wie sie noch nie einen Vogel hatte schreien hören.
Amal hob das zappelnde Vögelchen auf, barg es in der dunklen Höhlung ihrer Hände bis es etwas ruhiger wurde. Dann packte sie es schnell an Beinen und Schwanzfedern und schlug seinen Kopf auf den Rand eines Blumentopfes. Der Kanarienvogel war sofort tot. Ohne sich noch einmal nach ihren Söhnen umzusehen ging Amal in die Küche zurück und ließ den kleinen Körper in den Mülleimer fallen. Dann setzte sie sich auf den Diwan im Wohnzimmer und starrte auf ihre Handflächen. Winzige Blutspuren zeigten die Stellen, an denen die Flügelstümpfe sie berührt hatten. Sie beugte sich über ihre Hände, so unendlich klein waren die Spuren - ohne es zu merken, begann sie zu weinen.
Hier in diesem Land gab es wenig zu hören, der Straßenverkehr floss so gleichmäßig wie Stille, wenn Menschen bei geöffneten Fenstern sprachen, versuchten sie zu flüstern. Selbst die Kinder sollten leise sein. Amals Ohren wurden bald so traurig wie ihre Augen und ihre Nase.
Ihre größte Freude war ihr Balkon, ein Garagendach, das sie von der Küche aus betreten konnte. Hier pflanzte sie Blumen und Kräuter und hier war jetzt im Sommer auch die Voliere mit den Kanarienvögeln. Leider gediehen die Pflanzen kaum, ihnen fehlte die Sonne, die nur in der Mittagszeit ein Stunde ihre Strahlen über das Dach wandern ließ. Manchmal verschob Amal die schweren Blumentöpfe, um dem Sonnenlicht so lange wie möglich zu folgen. Trotzdem blieben die Pflanzen kümmerlich. Das einzige was hier gedieh war Efeu und dunkles Moos, mit ihrem düsteren Grün schienen sie eher an den Tod zu gemahnen, denn an das Leben.
Amal lebte seit fünf Jahren in Deutschland, sie war Amir, ihrem Mann hierher gefolgt.
Manchmal dachte Amal an die ersten Jahre ihrer Ehe zurück, als sie heiratete war sie ein Mädchen von achtzehn gewesen. Sie war damals glücklich, einem so bedeutenden Mann wie Amir zu gefallen. Er war ein hoher Offizier und suchte eine junge Frau, um noch eine Familie zu gründen. Amir war damals dreißig Jahre älter als sie, er hatte sein Leben bis dahin der Befreiung des palästinensischen Volkes gewidmet. Amal gebar ihm zwei Söhne, Harith und Murad. Diese ersten sieben Ehejahre war die schönste Zeit in Amals Leben gewesen, ihre Mutter und ihre beiden Schwestern besuchten sie häufig, sie hatten keine Geldsorgen und alles schien unter ihren Händen zu gedeihen. Das Haus duftete immer nach Essen, die Kinder waren selten krank und in ihrem kleinen Garten wuchs das Gemüse besser, als bei allen Nachbarn. Gerne hätte sie noch mehr Kinder bekommen, aber Amir schien seine Kraft verbraucht zu haben, nie rührte er sie nach der Geburt von Murad mehr an. So blieb es bei den beiden Söhnen, obwohl sie so gerne noch eine Tochter gehabt hätte.
Als Murad fünf war, beschloss Amir zu seinem Bruder nach Deutschland zu ziehen, dieser betrieb eine gut gehende Spedition und war selbstverständlich bereit, seinen älteren Bruder in das Geschäft aufzunehmen. So war dann auch Amal hierher gekommen, wie jede Frau dem Manne folgen muss. Inzwischen war Harith zwölf und Murad zehn, sie schienen hier nichts zu vermissen, hatten ihre Heimat schon lange vergessen, wie Amal wehmütig bemerkte.
Ihre Söhne waren zwar nicht wie deutsche Kinder, dazu erzog sie Amir zu streng, aber ihnen fehlten auch die Ernsthaftigkeit und der Glaube, den in ihrer Heimat jedes Kind hat.
Amal versuchte immer wieder zu verstehen, was ihre beiden Söhne hier so anders werden ließ, auch sie und ihre Geschwister hatten als Kinder gelacht, sie hatten gespielt und sich Geschichten ausgedacht, aber es war ihnen immer bewusst, dass sie mit einer Aufgabe geboren worden waren. Amal hätte selbst heute diese Aufgabe nicht genau benennen können, der Befreiungskrieg war es sicher nicht alleine - obwohl er wichtig war - dafür hatte er zu viel Leid über sie alle gebracht und insgeheim waren viele von ihnen seiner müde.
Es war wohl eher so, in ihrer Heimat wäre Amal nie auf den Gedanken gekommen, ihr Leben könne sinnlos sein.
Anfangs hatte Amal viel geweint, heute hatte ihre Trauer ihren ganzen Körper ergriffen. Manchmal, wenn sie das Essen bereitete schienen es ihr, als weinen ihre Hände, die das Gemüse putzten und wenn sie in der Badewanne saß, sah sie die Trauer in den schweren Brüsten, den dicken Beinen und dem dichten Schamhaar, das von den Oberschenkeln bis zum Bauch reichte. Ihr Körper hatte die verlorene Hoffnung eines gestrandeten Wales.
Amal hielt noch den öligen Lappen in der Hand, als sie Harith und Murad im Hausflur rufen hörte. Lächelnd öffnete sie die Wohnungstür um sie einzulassen, achtlos stürmten die beiden Jungen an ihr vorbei, ließen die Schulranzen fallen und liefen in die Küche um zu sehen, was es zu Essen gäbe. Etwas würden sie noch warten müssen, bis ihr Vater nachhause kam. Amir kam jeden Mittag zum Essen, obwohl sein Bruder ihn immer wieder einlud bei sich zu essen. Aber Amir schätzte die Kochkunst seiner Schwägerin nicht besonders; sein Bruder hatte eine Deutsche geheiratet. Gila hatte sich zwar sehr gut angepasst, dass musste selbst Amir ihr zugestehen, aber richtig fand er diese Ehe trotzdem nicht. Er liebte seine drei Neffen, die beiden Nichten und seinen Bruder, seine Schwägerin nahm er in Kauf, um den Familienfrieden nicht zu gefährden.
Amal war Gila noch immer dankbar, weil sie ihr im ersten Jahr in diesem kalten Land sehr geholfen hat. Sie hat sie gelehrt wo sie einkaufen konnte, sie hatte ihr die wichtigsten Worte immer wieder vorgesagt, bis sie in Amals ungeübtem Gedächtnis verhaftet waren. Gila hatte sie auch überredet einen Deutschkurs zu besuchen und sie sogar begleitet, weil Amal nicht gewagt hatte, alleine dorthin zu gehen. Trotzdem blieben sich die beiden Frauen fremd, Amal fühlte Dankbarkeit für ihre Schwägerin, aber keine Liebe. Dabei hatte sie mit sich um diese Liebe gerungen, verzweifelt versucht, sie bei sich zu erzwingen – allein vergebens, es blieb bei einer respektvollen Verbundenheit.
Harith, der ältere, öffnete die Klappe des Backofens, stocherte mit einer Gabel im Gittermuster des Teigs, unter dem sich ein Lammauflauf verbarg. Erst als Amal ihn das dritte Mal gebeten hatte die Herdtür zu schließen, ging er widerwillig mit Murad auf den Balkon, um dort auf die Ankunft seines Vaters zu warten. Die Brüder setzten sich dort auf eine kleine Bank, verbanden ihre Gameboys und begannen, gegeneinander zu spielen.
Amal wusste, dass sie nur noch wenig Einfluss auf Harith hatte, er würde herrisch wie sein Vater werden. Der Unterschied war, Amir hatte Respekt vor seiner Frau, er liebte sie und behandelte sie immer mit Achtung, Harith belächelte seine Mutter und gehorchte ihr nur, wenn der Vater zuhause war.
Amal musste sich immer überwinden, Harith um etwas zu bitten, meist tat er es doch nicht und sie sank noch tiefer in seiner Achtung, weil sie ihn nicht zwingen konnte.
Amir unterdrückte jedes Widerwort mit unerbittlicher Strenge und harten Schlägen, aber das konnte sie nicht. Sie war zu stolzer Sanftmut erzogen worden, nie hätte sie ihren zwölfjährigen Sohn schlagen können. Jetzt haderte sie ihn zu bitten, ihr zwei Flaschen Wasser aus dem Geschäft zu holen. Sie hatte sie heute Morgen vergessen einzukaufen und jeden Augenblick würde Amir Nachhause kommen, sie musste rasch den Tisch decken und den Salat zubereiten. Als Amal ihren Sohn bat, diese Besorgung schnell für sie zu machen, verzog er sein Gesicht,
„Gleich, wir müssen noch das Spiel zu Ende spielen… außerdem kann auch Murad gehen. Wir werden darum wetten..“
Amal zögerte einen Augenblick, sah Harith bekümmert an, dann verschwand sie wieder in der Küche.
Während sie den Tisch deckte hörte sie ihre Kanarienvögel aufgeregt zwitschern - hoffentlich machten die Jungen sich nicht wieder einen Spaß daraus, sie mit Stöcken durch den Käfig zu jagen. Als das Vogelgeschrei immer lauter wurde, stürzte Amal nach draußen.
Die Tür des Vogelkäfigs war geschlossen, auf dem Boden davor lagen ihre Gartenschere und zwei gelbe Federbündel. Am anderen Ende des Balkons stand Harith und hielt etwas in der erhobenen Hand, während er seinem Bruder zurief,
„Ein Vogel ohne Flügel kann doch fliegen!.. Die Wette habe ich gewonnen.“
Dann warf er seinem Bruder etwas zu. Murad wich dem flaumigen, gelben Körper aus, er landete vor Amals Füßen. Sie konnte den Aufschrei nicht unterdrücken, als sie den halbtoten Vogel sah, der sich in grauenhafter Furcht vor ihr auf dem Boden wand. Er streckte sein Köpfchen nach oben, war verzweifelt bemüht sich wieder aufzurichten, schien sich mit den winzigen Krallen an der Luft festhalten zu wollen. Dabei schrie er so qualvoll, wie sie noch nie einen Vogel hatte schreien hören.
Amal hob das zappelnde Vögelchen auf, barg es in der dunklen Höhlung ihrer Hände bis es etwas ruhiger wurde. Dann packte sie es schnell an Beinen und Schwanzfedern und schlug seinen Kopf auf den Rand eines Blumentopfes. Der Kanarienvogel war sofort tot. Ohne sich noch einmal nach ihren Söhnen umzusehen ging Amal in die Küche zurück und ließ den kleinen Körper in den Mülleimer fallen. Dann setzte sie sich auf den Diwan im Wohnzimmer und starrte auf ihre Handflächen. Winzige Blutspuren zeigten die Stellen, an denen die Flügelstümpfe sie berührt hatten. Sie beugte sich über ihre Hände, so unendlich klein waren die Spuren - ohne es zu merken, begann sie zu weinen.