Floßschifffahrt oder: Die Vertreibung aus dem Paradies

Das Publikum schnattert durcheinander, man unterhält sich mit den Sitznachbarn – sofern es Verwandte, Bekannte oder Freunde sind – oder blickt stumm in das Programmheft. Doch es ist leer, gibt nichts wieder, kündet weder vom spielenden Orchester samt Dirigenten noch von den zu spielenden Stücken. Man weiß nicht, ob der Dirigent bereits vor seinem Orchester wartet, bereitsteht, den Einsatz zu geben, man weiß nicht, ob es ein gewaltiger, wuchtiger Auftakt sein wird, der unmittelbar nach dem Zucken des ersten Mannes den Saal erfüllen wird oder ob lediglich ein Hauch von einem Ton beginnt, das Auditorium zu erobern.
Eine gespannte Stille legt sich über die Anwesenden wie ein Teppich der gerade ausgerollt wird und das Schwarz der Ungewissheit weicht einem ebenso mysteriösen, undurchdringlich grauen Nebel. Es ist still. Kein Vogel zwitschert oder kräht, kein Wind lässt irgendwelche Blätter rauschen, die ein Hintergrundgeräusch bilden könnten und auch der See ruht still und starr, keine Welle schlägt an das kleinsteinige Ufer und läuft geräuschvoll auf dem Kies aus. Die Stille füllt die Ferne, das weite Nichts.
Dann, ganz unvermittelt und plötzlich entrinnt ein Ton einem fernen Grab, ganz tief klingt er und ein leichter Windhauch lässt diesen Laut mit dem sich langsam bewegenden Nebel herüber wehen. Auf den Grundton folgt die Terz, die Quint – und aus dem Nebel schält sich eine Gestalt. Menschlich zwar, aber trotz ihrer offensichtlichen Jugend scheint dieses Wesen die besten jahre schon hinter sich gehabt zu haben. Der Humanoide steht still, während der Akkord in Moll sich im Streicherapparat immer weiter aufbaut und schließlich in der ersten Violine seine fahl glänzende Höhe findet.
Ein Englischhorn beugt den Akkord und lässt etwas Neues entstehen, eine kleine Bewegung, die ein Loch in die Nebelwand reißt. Seine Kleidung ist klamm, feucht vom Dunst und Nebel, seine Schuhe nass und verdreckt vom Moder, durch den er orientierungslos gestapft ist.
Aus den Tiefen ertönen die Celli, schleichen sich in die Höhe, fragend, unwissend, ebenso wie die unterkühlte Gestalt.
Die Geigen in ihren strahlend reinen Höhen, sie klingen, als wüssten sie die Antwort, doch Luca, gefallen, dieses vollkommen verlorene Wesen, welches in der verwirrenden Ödnis umher tapert, sieht nicht einmal den Hauch einer Antwort durch die Nebelschwaden wehen. Nur Fragen tun sich ihm auf, jede Nebelwand, die er durchdringt, bringt neue Fragen mit sich mit; danach wehen sie fort, die leichteren Wolken, als wären sie nie so gedankenschwer gewesen.
Sie fragen ihn, warum er diesen Brief aufhob, der gestern Nachmittag, als er von der Schule kam, sie fragen ihn, warum er den Brief öffnete, der eindeutig an ihn adressiert war, aber trotz allem keinen Rückschluss auf seinen Absender zuließ – es gab keine Angabe über den Absender und seine Anschrift war auf ein selbstklebendes Etikett gedruckt worden –, sie fragen ihn, warum trotz aller Bedenken seine Neugier gesiegt hatte und ihn zu dem im Brief angegebenen Ort geführt hatte, obgleich der Briefumschlag nichts als diesen unstillbaren Wunsch nach einem Treffen beinhaltet hatte, einzig verziert mit der handschriftlichen Wiederholung dieses Begehrs, sie fragen ihn, warum er sein Gegenüber so verfluchte und ihn wutentbrannt kaltschnäuzig stehen ließ, um im Nebel von der gespaltenen Buche zu verschwinden.
Warum?, schreit Luca in den Nebel, der sogleich diesen zürnenden Laut verschluckt, Warum tut er mir das an?
Seine Beine verdrehen sich nach innen, sein Oberkörper fällt in sich zusammen und er vergräbt das Gesicht in seinen kräftigen großen Händen. Warum konntest du nicht schweigen?, vernimmt der Dunst Lucas Ausrufe, die mehr wie ein Klagelied klingen. Warum nur, du Idiot?, heult er hinter seinen Händen.
Er läuft weiter, will nicht stehen und denken, will das Warum nicht hören, will auch von den Fragen nicht mehr bedrängt werden. Kein Warum und kein Darum, kein Ja, kein Nein, kein einziger Gedanke soll ihn wieder aufwühlen, wie es das Gespräch – das faktisch ein Monolog gewesen war – gerade getan hatte.
Luca schritt weiter, stolperte und taumelte, schwankte von links nach rechts, ratschte an stacheligen Brombeersträuchern vorbei, doch spürte er die feinen, vielzähligen Risse ob der Taubheit seiner Haut nicht, denn er war heute irrsinnigerweise – und es war nicht wenig, was ihm an diesem Tag irrsinnig erschien – in T-Shirt und kurzer Hose aus dem Haus gegangen und blieb schließlich vollkommen außer Atem im nebligen Nichts neben einem Pfahl stehen, an dem jemand vor vielen Jahren einen Briefkasten samt Zeitungsrohr montiert hatte.
Luca?, hörte er eine fragende Stimme. Luca?, hallte es durch die Nebelbänke von hinter ihm – zu nah hinter ihm, wie es Luca empfand. Er lief weiter durch den oberflächlich angefrorenen Morast; so schnell wie es ihm nur möglich war, ging er seinen Weg, vom dem er nicht wusste, ob er ihn aus dieser ihn auf sich selbst stellenden, mit sich selbst konfrontierenden Situation herausführen könnte.
Es war sein Wunsch, von Gereon fort zu gelangen, doch er wollte auch nicht allein seinen ihn aufwühlenden Gedanken ausgeliefert sein. Die Gerüchte, die verbreitet wurden,, hatte Gereon mit leiser Stimme gesagt, was sie sagen, ist wahr.
Luca hatte geschluckt und war ruckartig aufgestanden. Luca?, hatte er ihn gefragt und Luca hatte die Angst und Enttäuschung in der Stimme gehört. Dann war er hastig gegangen, hatte Gereon unter der alten Buche sitzen lassen.
Auch zwanzig Minuten weiter, hier in der nebligen, baumarmen Abgeschiedenheit, spürte er noch immer diese Angst, die er aus Gereon gehört hatte, potenziert durch eine Angst, die mit jedem Schritt und jeder Minute, die er fort von Gereon kam, aus seiner eigenen verdrängten Erinnerung genährt wurde.

Im Alter von unschuldigen zehn Jahren war er auf die Gesamtschule gekommen, auf eigenen Wunsch trotz Empfehlung für das Gymnasium und mit Unterstützung seiner Eltern. Seine Mutter war Gymnasiallehrerin, sein Vater Pädagoge an einer Förderschule und bereits in diesen frühen Jahren war er von der aufklärerischen Idee eben dieser Schule angetan, die bewusst die Überbleibsel der Ständegesellschaft ebenso wie den konsequenten Frontalunterricht aufgegeben hatte und stattdessen den Schwerpunkt der schulischen Arbeit auf die Begleitung der Entwicklung junger Persönlichkeiten gelegt hatte, viel Wert auf musische Bildung legte und bestrebt war, die Schüler zum Humanismus anzuleiten. Wenn es nach seinen Ansichten und Überzeugungen gegangen wäre, hätte er ab der fünfen Klasse die private Waldorfschule im Nachbarort besucht, was ihm jedoch als viertes von fünf schulpflichtigen Kindern und Enkel zweier pflegebedürftiger Großväter verwehrt blieb.
Seine erste Amtshandlung als Schüler der Sekundarstufe I, noch bevor er endlich seinen Schülerausweis beantragt hatte, war ein Eintrag in die Teilnehmerliste zur Ruder-AG. Danach konnte er ruhigen Gewissens zum Sekretariat gehen.
Er hatte schnell die Techniken des Ruderns begriffen und verinnerlicht und beherrschte sie nach wenigen Wochen bereits gut genug, um vom großen, stabilen Achter und Vierer auf einen Einer umzuwechseln. Nach einem halben Jahr hatten ihn seine Eltern beim Ruderverein angemeldet, wo man den „Kleinen“ zwar freundlich, aber ein wenig skeptisch als Jüngsten aufnahm. Sein Trainingseifer und seine Schlagfertigkeit hätte sie warnen müssen, so aber zeichnete Luca sich zur Überraschung aller als Nachwuchshoffnung und großes Talent aus und gewann neben zwei Freunden auch eine Vielzahl an Wettbewerben für seine Schule und den Verein.
Die lokale Presse nahm ihren neuen Helden dankbar zur Kenntnis und polierte ihn zum beliebten Vorzeigesportler, der überall gerne gesehen wurden – außer in der Schule. Er nahm regelmäßig am Unterricht teil und zeigte in manchen Fächern ein ähnliches Talent wie beim Rudern, in allen aber den gleichen Eifer.
Dass die Gesamtschule ihr selbst gestecktes Ziel, ihr Ideal noch nicht erreicht hatte, spürte er fast schon regelmäßig am eigenen Leib. Mochten ihm seine sportlichen Erfolge die Anerkennung und Wertschätzung beim Publikum und den Sportjournalisten sichern, so waren sie für Luca nicht zuträglich, was die Schließung von Freundschaften betraf, im Gegenteil: wollte man einen durchschnittliche Anzahl an Freundschaften pro Jugendlichem festlegen, so hätte Luca diesen Wert deutlich unterschritten.
Rückblickend wollte er nicht sagen, es hätte einen Bruch gegeben. Sicher, es hatte sich einiges geändert, je älter er wurde. Mit jedem Tag ging ihm die dummschwätzende Art seiner Klassenkameraden mehr auf den Senkel. Jeden Tag hasste er ihr inhaltsarmes Geschwafel über Stars und Sternchen mehr, zumal sie darüber hinaus aus seiner Erfahrung zu mehr kaum fähig waren. Mit jedem Tag, an dem er mehr unbegründete Meinungen zu Filmen, Musik und Mode aus ihrem unüberhörbaren Geschnatter vernahm, nahm er das, was aus ihren Mündern kam, weniger ernst.
Mit einer Ausnahme.
Es war eine unbedachte Äußerung, die ihn traf, wie es nur ein unbedachte, dahergesagte Vokal- und Konsonantenfolge hätte tun können.
Er galt auch in der Schule gemeinhin als schlagfertig und wenn ihn jemand angriff, wusste er sich verbal zur Wehr zu setzen, obgleich er auch in einem physischen Schlagabtausch nicht unterlegen hätten. Doch auch wenn ihn jemand attackierte, kam es auch vor, dass er schwieg und tat, als hätte er nichts gehört. Er war untouchable, er erschien ihnen seltsam, wenn er ihre unbedachten Äußerungen nicht einmal zu ignorieren schien, obwohl er – was von Oberflächlichkeiten nicht erkannt wurde – einzig schwieg, um sein Bewusstsein vor ihren Worten zu verschließen, weil er einzig schwieg, um ihre Münder totzuschweigen.
Er war untouchable, er erschien ihnen seltsam, während er immer öfter schwieg, um seine Tarnung nicht auffliegen zu lassen, so lange sie die Zusammenhänge nicht erkannten.

Luca verfluchte sein Vergehen, Gereons Bitte erfüllt zu haben. Er konnte Gereon nicht wegen seines Mutes, den er, Luca, nie gehabt hatte, die Pest an den Hals wünschen. Er wünschte nur, diesen Tag und all seine Zusammenhänge vergessen zu können, er wünschte sich nur den Frieden zurück, den er bis gestern noch gehabt hatte und lief wankend vor seiner Erinnerung davon, hoffend, dass das Gummiband, welches ihn und seine Erinnerung seit Jahren verband, sich dehnte und, spröde geworden, risse.
Luca?, hallte es durch die diesige Luft, und eine feste Schnur umschloss Luca und seine Erinnerungen, band ihn und sie aneinander, nahm ihm die Luft zum Atmen.
Er stolperte abrupt, fiel und bleib liegen, ohne diesen spontan stattfindenden, kausal bedingten Vorgang bewusst wahrzunehmen. Wo der raue Asphalt seine Haut aufriss, pochte nur dumpfe Wärme, Luca hatte die lang ersehnte Straße erreicht und gab sich der von ihr ausgehenden Wärme hin, ließ die Augen geschlossen und verweilte im dunkelroten Niemandsland, bis ihn die Erinnerung eingeholt hatte, was nur wenige Sekunden dauerte. Kaum waren die Filmsequenzen in seine Wahrnehmung zurückgekehrt, durchfuhr seinen Körper ein stechender, eisiger Schmerz, der die Wärme verdrängte. Er krümmte sich zusammen und ballte die Fäuste, versuchte die Erinnerungen zu bekämpfen, trat die Bilder der Internetseiten fort, die sich ihm offenbart hatten, wich den heran eilenden Worten aus, die – sofern sie bewusst gesagt worden waren – stets einen negativen Unterton hatten und schob all die Bekannten und Verwandten von sich, bis seine Kräfte nachließen und er schließlich in seinen Bewegungen erlahmte und entkräftet auf dem Rücken liegen blieb, sodass die Schürfwunden von der von oben herab sinkenden Nässe benetzt wurden.
Luca nahm nicht wahr, wie Gereon immerfort nach ihm rief, er hörte nicht die heran nahenden Schritte, er sah nicht, wie sich Gereons Gestalt über ihm beugte und er spürte auch nicht, wie Gereon ihn sanft rüttelte und ihm leicht ins Gesicht schlug,um ihn aus der vermeintlichen Bewusstlosigkeit zu erwecken. Er lag regungslos auf dem Boden und sein Bewusstsein verweilte in der Ferne. Luca konnte es keinem seiner fünf Sinne zuordnen, aber er wusste, dass Gereon sich gerade über ihn beugte, um seinem erstaunlich ruhig gehenden Atem zu lauschen. Zu gerne wäre er in der Ferne geblieben, zu gerne wäre er an dem Ort geblieben, wo Menschen Menschen sein durften ohne vorverurteilt zu werden, doch ein unstillbarer, undefinierbarer Drang zog ihn fort aus dem Paradies, holte ihn zurück in das heuer gräulich nasse Leben und zwang ihn die Augen zu öffnen.
Kaum einen Daumen breit über Lucas Nasenspitze begann Gereons wettergegerbtes, nasses Gesicht und Luca musste einfach in seine Augen sehen, von denen ein strahlend grünes Leuchten ausging. Gereon musste geweint haben; Luca sah es ohne irgendwelche Indizien für diese Feststellung nennen zu können. Ein kleiner Tropfen löste sich von Gereons Auge, legte in Zeitlupe die kurze Strecke von knapp zehn Zentimetern zurück und bettete sich sanft unter Lucas Auge nieder, und plötzlich erkannte Luca, was ihn aus dem Paradies gelockt hatte.
Das Leben kehrte in ihn zurück mit aller Kraft, die es hatte. Er gab Gereon einen kleinen Kuss und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. Gereon setzte ein Bein auf und erhob sich. Er reichte Luca seine Hand, half ihm auf die Beine und zog ihn an sich heran.
Lass uns das Leben zum Paradies machen!, fordert er Luca auf und geht mit ihm Hand in Hand die Straße entlang gen Menschheit.
 



 
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