Fort

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Bonaventura

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Der erste Hund in meinem Leben hieß Audi. Ein Foxterrier.
„Hab keine Angst, Audi beißt nicht“ spreche ich mir Mut zu. Immer spreche ich mir Mut zu, wenn wir über den Hof gehen. Ich gehe mit meiner Mutter durch die große Halle des Sägewerkes. Ich atme den frischen Geruch der geschnittenen Holzbalken. Ein Dach schützt sie vor Regen. Ich halte die Hand meiner Mutter. Da rennt Audi kläffend auf uns zu. Reißt sein Maul auf und bellt und bellt. Ich erschrecke mich wie immer, wenn ich ihn sehe. Aber ich spreche den tröstenden Satz und gehe tapfer an der Hand meiner Mutter weiter. Wir besuchen Tante Claire. Sie kommt aus Danzig. Mutter und Oma haben sie kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs auf ihrer Flucht aus Stettin kennengelernt. Sie ist meine Patentante.

Ich stehe in der Mitte des Kirchenschiffs. Mutter steht hinter mir. Die Orgel spielt. Heute soll ich getauft werden. Meine Oma hat mir erzählt, daß der Pastor Wasser auf meinen Kopf träufeln wird. Vor mir steht eine Frau, die ein Baby im Arm hält. Es schläft. Ich schabe mit meinem Schuh auf dem Fußboden. Eine silberfarbene Metallschiene läuft quer über den Teppich unter meinen Füßen. Ich schiebe die Schuhspitze an den Rand, dann darunter. Fest und fester. Ich ziehe den Schuh zurück, es geht nicht. Ich ziehe und ziehe, er sitzt fest. Mein Fuß schlüpft heraus. Ich bekomme Angst. Was soll ich machen? Ich muss nach vorn gehen. Ich schlüpfe wieder in den Schuh. Ziehe noch mal den Fuß zurück – da geht der Schuh ‚raus. Oh Gott, bin ich froh. Wir gehen etwas weiter nach vorn. Tante Claire und Mutter gehen hinter mir. Oma sitzt in der Bank. Dann winkt der Pastor mir langsam zu mit seiner Hand. Der weite Ärmel fällt zurück. Sein Arm ist so weiß unter dem schwarzen Stoff. Ich gehe ihm entgegen. Mutti und Tante Claire schieben mich zu ihm und ich gehe die Stufe hoch. Er führt mich an der Hand zu einem großen Stein, der oben offen ist. Daraus schöpft er Wasser mit einer silbernen Kanne und gießt etwas davon auf mein Haar. Dreimal. Dann sagt er zu mir „Ich taufe Dich auf den Namen Sabine“.
Dann gehe ich wieder mit Mutter und Tante Claire zu Oma in die Bank. Der Chor singt leise.

Heute wartet Tante Claire schon auf uns, hat Mutter gesagt. Wir gehen in ein großes Haus am Ende des Hofes. Eine Treppe führt nach oben. Mutter klopft an eine braune Tür und öffnet, als Tante Claire „herein“ ruft. Wir treten ein. Ich mag das Zimmer. Es ist groß. Ein riesiger langer Tisch steht in der Mitte. Er glänzt so schön. Ich sitze so gern auf den Stühlen, die an den Seiten stehen. Ich mag die Ledersitze, die Rückenlehnen, die auch mit Leder bezogen sind. Goldfarbene Nägel glänzen an den Rändern. Weit hinten im Zimmer steht ein Bett. Darin liegt Tante Claire. Sie trägt ein Wolltuch um die Schultern, es ist so rot wie ihre Lippen. „Wie geht es Dir heute?“ fragt Mutter sie, „Hast Du Fieber?“
Tante Claires Augen glänzen, sie lächelt mich an und sagt: “Komm zu mir, Sabine, hat Audi wieder so doll gebellt?“
Ich nicke.
„Er ist so ein netter Hund, er muß bellen, wenn Leute auf den Hof kommen, die nicht zur Familie gehören“ erklärt sie mir wie jedesmal.
Sie nimmt ein Buch von ihrem Nachttisch: “Das ist für dich, mein liebes Patenkind“.
Das Buch heißt „Die Fernsehzwillinge“. Diese Zwilling leben in London. Ich habe es mir lange gewünscht und freue mich sehr. „Oh, danke, Tante Claire“ sage ich und schaue es mir gleich an.
Tante Claire läutet mit einer kleinen Glocke. Lisbeth kommt herein.
„Bitte bringe Zitronenlimonade für meinen Besuch“ sagt Tante Claire und bald bringt Lisbeth einen Glaskrug mit Gläsern auf einem Tablett. Ein kleiner Tisch steht vor dem Bett und sie stellt das Tablett darauf. Wir trinken die kühle gelbe Flüssigkeit.
Ich gehe zu dem Tisch und setze mich auf einen der lederbezogenen Stühle. Ich schaue mir das Buch an und lese ein wenig darin.
Bald gehen wir wieder. Ich umarme Tante Claire.
Am nächsten morgen weckt mich Mutter.
„Sabine, Tante Claire ist in der Nacht von uns gegangen“.
„Du meinst gestorben, Mutter?“
„Ja, Sabine, gestorben.“
Ich muß weinen.
Ich habe nun keine Patentante mehr. Ich werde sie nicht mehr in dem schönen Zimmer besuchen. Sie wird mir keine Wunschbücher mehr schenken und mich trösten wegen Audi.
 

Pasta

Mitglied
Mit Liebe zum Detail

Die Geschichte ist mit Liebe zum Detail geschrieben und schafft dadurch Atmosphäre.

Der Anfang ist interessant, baut Spannung auf und zieht den Leser direkt in seinen Bann und ins Geschehen.

Sowohl diese Anfangsszene als auch die Szene in der Kirche sind sehr gut beschrieben, finde ich. Man sieht alles direkt vor sich und kann sich gut in die Ich-Erzählerin hineinversetzen - vor allem bei der Schuh-Episode in der Kirche!

Leider fehlt mir genau dieses Einfühlungsvermögen etwas am Ende, als Tante Claire gestorben ist. Vielleicht geht es etwas zu schnell oder abrupt zu Ende.

"Ich muss weinen" finde ich irgendwie platt. Es zerstört die Stimmung. Die Sätze danach finde ich wieder besser; sie sagen mehr über Sabines Gefühlswelt aus als "Ich muss weinen".

Auch dass Sabine sich mit den Worten "Oh, danke, Tante Claire" für das Buch bedankt, erinnert mich eher an den Stil von Schulaufsätzen. Vielleicht wäre ein "Danke, Tante Claire!" (rief ich erfreut... oder so ähnlich) natürlicher gewesen? Ich weiß es nicht, aber mir erscheint das "Oh, danke..." etwas gestelzt.

Das mindert aber den insgesamt sehr guten Gesamteindruck kaum!

Herzliche Grüße von

Pasta
 



 
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