Frage ohne Antwort

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Raniero

Textablader
Frage ohne Antwort

Seit einigen Tagen stand ich regelrecht neben mir, wusste nichts so recht mit mir anzufangen. Irgendwie, so verspürte ich den dringenden Wunsch, musste Abhilfe geschaffen werden, unverzüglich; so konnte es nicht weitergehen.
Ich erinnerte mich daran, dass die Philosophen der Antike, diese großen Wahrheits- und Weisheitssucher, immer dann, wenn sie in eine geistige Sackgasse geraten waren, wenn sie keine Antworten auf ihre bohrenden Fragen fanden, ein solches Dilemma zu lösen pflegten, indem sie sich kurzzeitig unter das ganz gewöhnliche Volk mischten. Dort, bei den einfachen Menschen, die in rechtschaffener und mühsamer körperlicher Arbeit ihrem täglichen Broterwerb nachgingen, erhofften sie dann die Impulse, die Denkanstöße zu finden, welche sie unter ihresgleichen, in ihrer erhabenen Geisteswelt, vergeblich suchten.
Dieses Beispiel mir zu Herzen nehmend, verließ ich abends das eheliche Wohngemach und unternahm einen ausgedehnten Spaziergang, um ein wenig frische Luft zu genießen und unter Leute zu kommen.
An einer Eckkneipe angelangt, verspürte ich plötzlich ein unwiderstehliches Durstgefühl, so gab ich mir einen Ruck und trat ein. Gerade hatte ich Platz genommen, an einem kleinen Tisch unweit der Theke, als ich von dort ein lautes Geschrei vernahm: „Komm da weg, Arthur, verdammt noch mal; bin ich hier der Wirt oder du?“ rief ein Mann mittleren Alters mit einer Lederschürze einem jungen Mann mit einer Nickelbrille zu, der sich hinter der Theke am Zapfhahn zu schaffen machte.
Wie elektrisiert sprang ich von meinem Stuhl auf. Das war es, genau das, wonach ich seit Tagen suchte. Hier gab es offensichtlich einen Zeitgenossen, der sich mit dem gleichen Problem herumschlug wie ich.
„Bin ich hier der Wirt oder du?, ließ ich diese existenzielle Frage leise auf der Zunge zergehen; diese Frage sprach den Kern des Sachverhaltes unmittelbar und in aller Deutlichkeit an. Hier war ein Mann auf der gleichen Suche wie ich, bei der Findung zu sich selbst; ich hatte einen Leidensgenossen gefunden!
Hocherfreut trat ich auf den Suchenden in der Lederschürze, der sich mittlerweile hinter den Tresen begeben hatte, zu. Der zuvor von ihm Gescholtene mit Namen Arthur saß inzwischen auf einem Barhocker vor der Theke, in einer Reihe trinkfreudiger fröhlicher Männer.
„Hören Sie, werter Herr“, sprach ich den Mann in der Lederschürze an, „ich wurde soeben unfreiwillig Ohrenzeuge Ihres Seelenschmerzes, offensichtlich befinden Sie sich auf der Suche nach Ihrem ich. Aus diesem Grunde sehe ich mich überglücklich, in Ihnen einen gleichsam Fühlenden anzutreffen. Ich bitte Sie herzlich, lassen Sie uns diesen Weg gemeinsam gehen, denn auch ich bin auf der Suche nach mir selbst!“
Der so Angesprochene blickte mit äußerstem Erstaunen zuerst mich, dann die Tresengäste an. Einige von diesen verzogen ihre Mundwinkel zu einem Grinsen, auch Artur lächelte spöttisch.
„Was ist denn das für ein Knabe?“ fragte der Lederbeschürzte die Männer an der Theke, „wisst ihr, was der von mir will?“
Ich war ein wenig irritiert, dass er nicht mit mir, sondern mit den anderen sprach, doch ich ließ nicht locker.
„Liebster Freund“, sprach ich ihn erneut an, „es lag beileibe nicht in meiner Absicht, Ihnen zu nahe zu treten, glauben Sie mir. Ich wollte doch nur zum Ausdruck bringen, dass ich mich Ihnen gerne anschließen möchte, auf Ihrer Suche! Ich helfe Ihnen, sich selbst zu finden und festzustellen, ob Sie der Wirt hier sind, und Sie helfen mir, herauszufinden, wer ich bin.“
Nun ballte der Mann seine rechte Hand zur Faust und hielt mir diese unter die Nase. Er schrie: „Siehst du das hier, du Komiker? Das ist meine Faust; und wenn meine Faust dein Kinn berührt, dann weißt du garantiert nicht mehr, wer du bist, aber dafür weißt du dann genau, wer ich bin!“
Die Männer an der Theke begannen bei diesen Worten lauthals zu lachen.
„Aber ich will Ihnen doch nur helfen, Suchender!“ flehte ich den Wirt an.
„Jetzt ist Schluss!“ schrie dieser mit zornesrotem Gesicht, im selben Augenblick verspürte ich einen stechenden Schmerz an meiner linken Gesichtshälfte und begann, zu taumeln.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich draußen vor der Kneipe auf dem Gehweg.
Langsam erhob ich mich und trottete schleppenden Schrittes nach hause.
Behutsam öffnete ich die Schlafzimmertür und hörte die regelmäßigen Atemzüge meiner besseren Hälfte.
Ich legte mich neben sie und versuchte, Schlaf zu finden; allein, es gelang mir nicht.
Mein Gesicht schmerzte, meine Füße taten weh, und zu allem Überfluss begann mein Weib auch noch zu schnarchen.


Ich stöhnte innerlich auf und nahm mir fest vor, am nächsten Tag die Suche fortzusetzen, nach meinem ich; irgendwo musste es doch zu finden sein.
 



 
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