Fragment

Chrissie

Mitglied
Die erste Nacht

Ich gehe in einen Club, hole mir ein Bier und wandere ziellos durch die Räume. Die Tanzfläche ist zu leer und ich nicht in der Laune heute, den Affen für andere zu machen. Der Tatsache Tribut zollend, zehn Mark Eintritt bezahlt zu haben verharre ich, obschon ich lieber gehen möchte. Ein alles in allem trostloser Abend. So trostlos wie mein Leben momentan. So verfahren und glücklos wie meine derzeitige Beziehung.
Meine Wanderungen fortsetzend, neue Biere ordernd, die Tanzfläche und der ganze Laden mir immer noch zu leer, um mich verstecken zu können hinter anderen Menschen und absolut keine Lust vorhanden, mich dergestalt zu produzieren, dass alle Anwesenden mein eigenes Selbst focussieren.

Plötzlich dieser Blick. Wärme durchdringt mich und macht mich fast ein wenig verlegen. Hatte ich dieses Gefühl nicht schon abgelegt unter „Es war einmal...“? Ach, egal. Stelle mich daneben und sage etwas unendlich kluges über die Musik. Wir lachen. Ein tiefer Blick aus beidseitig nachtdunklen Augen. Ouverture für das, was kommen wird. Nachgesang auf alles, was je war. Wir einigen uns still, ohne davon zu sprechen.
Ich berühre dich nicht. Du berührst mich nicht. Nicht mit Händen. Das hat noch Zeit. Erst berühren sich unsere Seelen. Tief und innig. Verschmelzen, ohne dass unsere Hirne dessen gewahr werden. Die halten wir schön beschäftigt mit Verbalismen. Eine wundervolle, selbstverständliche Ruhe breitet sich aus. Es muß nichts, aber auch gar nichts getan werden. Alles entsteht aus sich selbst. Wir wandern zusammen durch diese Nacht. Ohne Angst. Redend. Über nichts besonderes, aber sehr vertraut.
Selbstverständlich nehme ich dich mit in meine Wohnung. Ohne Angst. Und, fast das Schönste, ohne Absicht. Wir reden und rauchen uns in den Sonnenaufgang.
Ich berühre dich nicht. Du berührst mich nicht. Nicht mit Händen. Unsere Seelen unterdessen sind bereits fest verschmolzen. In Karmaliebe. Du gehst, ohne mich jemals wieder zu verlassen. Es ist noch zu früh für Körperliches. Einzig wichtig ist: wir haben uns gefunden.
Wiedergefunden.

Die zweite Nacht, der erste Kuß

Die Freiheit hat mich wieder und nach nichts anderem steht mir der Sinn, als zu dir zu laufen und dir zu berichten. Drei Wochen haben wir nur via E-Mail kommuniziert. Meine letzte quälerische Beziehung hat sich endlich selbst beendet und ich will nichts anderes, als dir ins Gesicht zu berichten. Will dich sehen, nur sehen.
So sei es denn und ich suche dich heim. So weiblich wie lange nicht mehr fühle ich mich, nicht nur, weil ich einen Rock trage. Wir sitzen in der warmen Junisonne und berichten. Viel hast auch du mir zu sagen, doch deine Augen sprechen Bände im Vergleich zu deinen Lippen. Die Nähe wird größer, greifbarer, körperlicher. Immer noch berühren wir uns nicht. (Von meiner schüchternen Hand an Deiner Brust zur Begrüßung mal abgesehen. Eine zurückgehaltene Umarmung. Impulsiv wollte ich dich, gerade angekommen, umhalsen und bremste, schon im Ausholen, den Schwung meiner Arme, so dass meine rechte Hand nur schüchtern über deine Brust strich. Du hieltest die Luft an.) Körperliches ist nicht das, was uns vordringlich interessiert. Wir haben beide schon so viele Sexualpartner gehabt, dass dies nicht mehr das Besondere sein kann. Nicht so. Nicht dieses Mal.
Und doch wird die Nähe immer größer, die Anziehung zerrt an allen Zellen meiner Haut, es ist schier nicht mehr auszuhalten.
Es ist Nacht geworden und wir gehen von der Terrasse ins Zimmer. Sitzen nun neben einander auf deinem Sofa. Links von dir sitzend spüre ich ein magnetisches Kribbeln an meiner rechten Seite. Ich möchte dich küssen und zwinge mich, es nicht zu tun, wohl wissend, dass du auf keinen Fall den ersten Schritt machen wirst. Es schmerzt mich und gleichermaßen genieße ich diesen Schmerz. Den freiwilligen Verzicht als Akt der Schöpfung einer neuen Art der Liebe. Einmal nicht meinem geilen Leib zu folgen. Zum ersten Mal nicht. Unsere Gesichter sind sich inzwischen so nah, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Kleine Funken springen. Deine Augen sind so tief, so traurig. So ängstlich. Wir reden. Ich habe keine Ahnung mehr, wovon. Das einzige, was ich erinnere ist, dass mir mit einem Schlag alles egal ist, dass ich nur noch deine Wärme fühle und deine tiefe innere Einsamkeit, die der meinen so ähnelt. Ich seufze ein wenig und nehme dann dein Gesicht in beide Hände und drücke meinen Mund auf deinen. Deine Lippen sind voll und weich und ausgehungert. Bereitwillig lässt du mich in die feuchte Höhlung, in der deine Zunge zitternd auf mich wartet. Die Zeit bleibt stehen und die Welt besteht nur noch aus diesem Kuss. Ich löse mich von dir, um in deine Augen zu sehen. Angst und Liebe schimmern gleichermaßen in ihnen. Wir küssen uns wieder und wieder und ich will es nicht enden lassen. Will nicht fortgehen und dich ungeküsst zurücklassen.
Meine einzige Bitte, die du sofort erhörst ist, dass es beim Küssen bleiben soll heute Nacht. Und so bleibe ich und wir schlafen züchtig bekleidet, doch küssend ein.
Nun wissen auch unsere Gehirne, dass wir uns lieben.

Der erste Morgen und seine Folgen

Der Morgen beginnt mit einem Lächeln, das sich im Halbschlaf auf mein Gesicht zaubert, weil ich spüre, dass du mich ansiehst. Auf eine Art ansiehst, die als einzige solch ein Lächeln auslösen kann. Ein Lächeln, dass ich nur wenige Male schenken konnte. Bisher.
Seit zwei Stunden liegst du wach und beobachtest meinen Schlaf. Ich schlafe gut in deinem Bett, geborgen. Noch nicht ganz wach, schenke ich dir mein Lächeln und du mir deinen Kuss. Dein Kuss ist der süßeste meines Lebens. In deinem Kuß kann ich mich auflösen und flöge davon, klammerte ich mich nicht geradezu an dich dabei.
Mir ist so warm und weich in deinen Armen, vor Äonen habe ich mich letztmals so warm und weich gefühlt – als ich meine neugeborene Tochter zum ersten Mal in meinen Armen hielt. Dieses tiefe, unerschütterliche Wissen: „Wir gehören zusammen.“. Ein Wissen, das jeglicher intellektueller Grundlage entbehrt, da es tief in der Seele sich gründet.
Wir sind uns einig, bewusst den Akt der Penetration hinaus zu zögern, nichts zu überstürzen und jedes Mü, das wir uns weiter aneinander wagen, zu genießen. Wir haben so viel Zeit, den Rest unserer Leben. Und obwohl ich nicht aufhören kann, mich ganz fest an dich zu drücken, so dicht, dass kein Haar mehr zwischen uns passt, reicht mir das in dem Moment auch schon aus. Seltsam, sonst bin ich ganz anders. Es ist, als wäre mein Panzer, den ich mir in all den Jahren habe wachsen lassen, Schicht um Schicht um Schicht, mit einem Mal aufgebrochen und von mir abgefallen, dem Gesetz der Schwerkraft folgend und gleichzeitig mich von aller Schwere befreiend, die mich zwang, ihn anzulegen. Du hast mich den Schlüssel zu meinem Herzen wieder finden lassen, doch ich wollte ihn gar nicht behalten und habe ihn dir bereitwillig überlassen. Was immer du bei mir finden magst, es gehört dir. Ich schenke dir mein Herz, meine Liebe, mein Vertrauen, meine Angst, meine innere Einsamkeit, meine Traurigkeit, meine Freude, meinen Zorn, mein Versagen, meine Kunstfertigkeit – und meine Lust, die schenke ich dir auch noch. Ein bisschen später, nicht gleich.
Du bist der Mann meiner Jungmädchenträume, von dem ich, saturiert und abgeklärt wie der Mensch des Westens sich mit Mitte dreißig sieht, mir sicher war, er existiere gar nicht. In dir trägst du die gleiche Traurigkeit und tiefe Einsamkeit wie ich, nur kannst du sie nicht so perfekt verbergen. Ich bin eindeutig der bessere Schauspieler von uns beiden und ich bin überglücklich, dass es nicht anders herum ist. Denn wäre dem so, hättest du mich den Schlüssel meines Herzens nicht wieder finden lassen und dann gäbe es nichts, was ich dir schenken könnte außer intellektuellem Austausch und vielleicht, wenn du das wolltest, sexueller Ekstase von der traurigen Art. Doch du bist nun mal der schlechtere Schauspieler und ich habe Dir mein wiedergefundenes Herz geschenkt und nun glühe ich vor Liebe, weil Du mein Innerstes erkennst und verstehst; als erster Mann in meinem Leben. Ich öffne mich dir ganz weit, bis ich beginne zu fließen.
Ach ja, die Arbeit ruft mittels eines piepsenden Weckers. Es ist ja Dienstag. Ein Tag des Dienstes. Du meinst, vor ein paar Jahren hättest du jetzt blau gemacht und ich, wäre ich schneller gewesen als du, hätte genau das selbe gesagt. Wir lachen. Also gehen wir ins Bad und duschen uns die Nacht von den Leibern, einzeln, nach einander, um das Geheimnis der Nacktheit noch zu wahren.
Du fährst mich auf dem Weg zur Arbeit nach Hause und ich finde es sehr seltsam, morgens um Sieben in die Wohnung zu gehen. Irgendwie die falsche Richtung. Meine Tochter ist todkrank und ich war nicht da. Hat die ganze Nacht gekotzt und jetzt Fieber. O je, wenn ich einmal egoistisch bin, dann gibt’s gleich eine mittelprächtige Katastrophe...
Aber ich bereue es nicht, keine Sekunde, mein Glück gepackt zu haben und lasse es unter Garantie nicht mehr los.
Ich mache mich fertig und fahre ins Büro. Komisch alles, heute. Doch da lacht mir mein Mailprogramm ins Gesicht, dieses freundlichste Ikon von allen. Seit Ewigkeiten kein Gedicht mehr geschrieben, aber Dir kann ich:

morgens, 8 uhr

ich bin noch nicht ganz wach
heute morgen
weil ich's nicht sein will
lieber weiterträume

mag nichts zu tun haben
mit klingelnden telefonen
und piepsenden computern
und leuten, oje

also schalte ich kurz mal um
auf eine andere wahrscheinlichkeit
und kuschel immer noch mit dir
unter einer decke

Irgendwann holt mich dann das Tagesgeschäft doch ein und ich muss wohl oder übel aufhören zu träumen. Dennoch bleibt das Lächeln auf meinem Gesicht.
Ich lebe wieder. Weil ich dich liebe. Und das macht alles, was kommen mag, unendlich leichter.

Der Rest der Woche und die Belohnung

Es war C., der Schluss gemacht hatte. Bevor ich dich zu unserer zweiten Nacht besuchte. Nun denkt er, er könne alles mit einem „War ja nicht so gemeint...“ wieder rückgängig machen. Dass offensichtlich ein anderer Mann mit im Spiel ist, gibt ihm kurzfristig noch mehr Elan. Er tut Dinge, die er sonst nie für mich getan hat, füllt meinen Kühlschrank, bringt mir rote Rosen ins Büro, putzt meine Wohnung. Das macht es nicht leichter für ihn, was ich ihm sage, immer wieder: „Vorbei ist vorbei.“

Du und ich, wir schreiben uns tagsüber mehrere E-Mails, von Büro zu Büro. Ab und zu ruft einer den anderen an, wenn die Sehnsucht nach dem Klang der geliebten Stimme zu groß wird. Deine Stimme lässt mir kleine Schauer über die Haut laufen, wenn sie diesen gewissen Subbass annimmt. Immer, wenn du von Liebe sprichst. Geht mir direkt in den Bauch. Sozusagen das Gegenteil von Ultraschall.

Es dauert alles so lange. C. wohnt immer noch bei mir, klar, so schnell findet der keine andere Bleibe. Am Donnerstag die Abschlussfeier wegen meiner beendeten Fortbildung. Du kommst. Ich stehe vor der Pizzeria, wo wir essen wollen und du kommst über die Straße. Zum ersten Mal Gelegenheit, dich von fern zu betrachten. Meine Güte, bist du gut aussehend! Da ich bisher fast nur damit befasst war, in dein Inneres zu kriechen, habe ich mir das Äußere noch nicht so genau angesehen. Es kann doch einfach nicht wahr sein, dass alles so zusammen stimmt!
(Jedes Gefühl von Glück wird von Zweifeln getrübt. Der Fluch der Zivilisation?)
Das Essen schnell absolvierend beschließen wir, noch ein wenig zu laufen, draußen am mystischen Ort der alten Kelten. Natürlich verlaufen wir uns ein wenig, aber das macht nichts – durch fast mannshohes Gras bahnen wir uns schließlich doch unseren Weg zu unserem Ziel – der alte Kraftplatz oben auf dem Hügel, umrundet von uralten Eichen.
Der Himmel über uns ist so weit wie unsere Herzen. Die Nacht breitet einen Schleier nach dem anderen über den Tag und sät ihre Sterne. Mit jedem Aufblinken steigt meine Begierde nach Dir, bis sie mich fast sprengt.
Ich liebe Dich. Ich will dich. Ich lass‘ dich nie mehr los.
Und so umklammere ich dich und du mich nachts auf diesem mystischen Hügel und ich gebe dir mein Treuegelöbnis, ganz freiwillig. Auch wenn wir diese Nacht getrennt beenden, so bleibt doch ein Teil von jedem von uns stets beim Anderen.

Der Freitag ist ein wahrer Freutag. Ganz geplant und arrangiert bis Sonntag Auszeit genommen vom Rest meines Lebens, um endlich ohne Zeiteisen dir meine Lebenszeit zu schenken. Befreit und entspannt. Ich sinke in deine Arme, wo ich Halt finde und tausende wohlriechende Pheromone.
Wir legen uns ins Bett, weiter mit dem Vorhaben, nicht zu penetrieren, offenbaren uns aber den größten Teil unserer Nacktheit und verlassen bald die Ebene der bereits erlebten Zartheit, um in tiefere Gefilde der Lust vorzudringen. Den ersten Orgasmus verschaffst du mir mit Mund und Händen und ich singe wie eine brünftige Hirschin das Lied meiner Lust an dir. Dann liegen wir nebeneinander und du siehst mich fragend an, als meine Hände beginnen, über deinen Körper zu wandern. Immer noch hast du deinen Slip an und ich will endlich deinen Schwanz kennen lernen. Vorsichtig schnüffle ich am Gummibund und werde schier ohnmächtig vor Wonne. Ich befreie den kleinen Lustspender und eine Wolke von Moschus dringt ein in mein Gehirn und macht mich trunken. Oh, ich mag ihn, den Lumpen. Ich bin ganz zart zu ihm, was ihm sehr gefällt. Und wie du mir, so verschaffe ich dir den ersten Orgasmus mit Mund und Händen. Und finde es schön, dass du Laut gibst dabei. Und finde es höchst angenehm, wie du schmeckst.
Wir spielen die ganze Nacht mit einander. Dann schlafen wir. Wachen auf und spielen weiter. Um elf hast du eine Verabredung zum Badminton – das gibt mir Zeit, noch ein wenig zu schlafen. Du kommst mit Frühstück zurück und ich bin froh, an Nahrungsaufnahme erinnert zu werden. Wir essen mit dem Tisch zwischen uns, damit wenigstens ein wenig in unseren Mägen ist, bevor wir wieder unsere Hände und Münder nicht von einander lassen können. Weiter gilt die Abmachung: keine Penetration. Nein, inzwischen haben wir gewettet – der, der verliert, muss den anderen verführen. So gibt es im Grunde nur Gewinner bei unserem Spiel. Trotzdem will ich nicht nachgeben.

Nach dem Frühstück sehen wir uns an – es ist inzwischen Mittag – und beschließen, wieder ins Bett zu fallen. Auch wenn draußen die Sonne lockt – wir schließen die Rolläden und spielen Regentag. Es werden noch so viele sonnige Tage folgen, auf den einen kommt es nicht an. Wieder im Bett, werden peu à peu unsere Liebkosungen immer wilder. Du treibst mich in den Wahnsinn, spielst meinen Körper wie ein vertrautes Instrument. Eine Woche, nur eine Woche durchgehalten, egal, ich will dich. Du wirst es nicht sein, der nachgibt, ich weiß; also tu‘ ich es, weil aller Stolz von mir abfällt in deinen Armen, komm zu mir, ich ergebe mich. „Scheiß drauf, ich hab‘ verloren und es ist mir so egal – ich will dich ficken!“ Darauf hast du nur gewartet, dass ich mich ergebe, dass ich nachgebe, dass ich mich dir hingebe.
Du dringst in mich ein und es ist, als ob zwei lange getrennte Teile einer Form endlich wieder zusammen gepasst würden. Ich werfe meinen Verstand von mir und mutiere zu dem kleinen geilen Tier, das tief in mir geschlummert hat. Bis sein Bändiger kam, um es zu wecken und zu zähmen. Ich verliere meine Sprache, ich liefere mich dir aus, ich öffne dir mein Innerstes, mein Geheimnis, meine dunkle Blume, ja, stoss‘ deine Liebe in mich hinein so fest du kannst, imprägniere mich mit deiner Leidenschaft; nie wieder wird ein anderer Mann dies dürfen, besitze mich, ich gehöre dir von diesem Moment an bis ans Ende der Zeit... wir lösen uns auf, vermischen uns und treiben eine Weile in unserer eigenen Zwischenwelt.

Wieder zurück, sehe ich dich an, einsamer alter Wolf, und sage dir, dass du nun nie mehr einsam sein wirst. Weil ich dich nie mehr verlassen werde. Nie mehr. Denn du bist mein Mann und ich dein Weib.
 



 
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