Fragmente einer Reiseerinnerung

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Ashva

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Fragmente einer Reiseerinnerung

Auf dem Weg bleibe ich fasziniert bei einem Steinbruch stehen;
der sich mir bietende Anblick versetzt mich schlagartig in das Jahr Null. Schweißglänzende, elastische Männerkörper graben sich mit Pickeln in die Tiefe, brechen das Gestein, behauen zentnerschwere Quader. Hier wird weißer Marmor gebrochen.
Der Klang der Pickel erzeugt eine Musik, die von den Wänden widerhallt. Tief ausgehöhlt ist der Steinbruch in Jahrhunderten. Ungläubig starre ich in den Abgrund. Zwei Männer wuchten Körbe mit Gesteinsbrocken auf die Köpfe von Frauen, die sich vor dem harten Druck mit einem Bastring schützen. Mit wiegenden Hüften in aufrechter Haltung steigen sie bedächtig auf einer steingehauenen Treppe aus der Tiefe … Sklaverei; so meine westlich geprägten Gedanken.
Wie mein indischer Freund mir beiläufig mitteilt, werden die Frauen nicht nach Stunden bezahlt, sondern nach der Anzahl der Körbe, die sie befördern. Ein paar Rupien für jeden Korb.
Ich sehe ein Elend, von dem nichts zu sehen ist. Schönheit, Anmut, Lachen und Singen machen den Zauber dieses Platzes aus.
Wie mögen diese Menschen ihr Schicksal empfinden?
Wachen sie niemals auf? Was werden sie noch ertragen, bis sie sich auflehnen? Werden sie nie zweifeln an dem Glauben, dass diese Armut ihr Karma ist und ungeduldig auf ein besseres Leben hoffen - nach der Wiedergeburt?

Gleichzeitig weiß ich, dass Bescheidenheit, Demut und Einfachheit die Menschlichkeit am Leben hält. Armut hat ein starkes Herz. Im Reichtum erstickt es ...


Eine kurze Fahrt am Meer entlang, dann sehen wir den Tempel. Es ist ein zierlicher,
im frischen Weiß erstrahlender Rundbau, der in einem Gärtchen steht. Der Eingang befindet sich zwischen zwei Säulen.
Angenehm kühl ist es im Innern und voller Licht. Die Sonne fällt durch die offene Kuppel, durch die Vögel wie Noten schwirren. Eine Frau mit wildem, rotem Harr begrüßt uns. Sie ist Mitte dreißig. Recht fremdartig sieht sie aus mit ihrem schwarzen Tuch, das um Oberkörper und Hüfte gewickelt ist. Gesicht, Schultern, Arme und Beine sind mit Asche eingerieben.
In Sack und Asche gehen, geht mir durch den Kopf. Ungewöhnlich helle Augen, kaum noch Blau zu nennen, leuchten aus der Schwärze.
Sie ist flink, sehr geschäftig. Matten werden ausgerollt, Teller und Näpfe aufgestellt. Aus der Küchenecke ziehen angenehme Dämpfe. Ich setze mich auf die breite Treppe, die zu einem Podest führt, auf dem ein gewaltiges Bett prunkt.
Felle, Kissen, bunte Decken geben ihm königliches Gepräge. Ein Kontrast - der Steintisch, in dessen Vertiefung sich die Asche häuft.

Knaben stürmen in den Tempel. Im Nu werden ihre kleinen Hände mit Süßigkeiten gefüllt. Sie machen sich nützlich, helfen kochen, spülen, fegen und Gemüse schneiden. Die Frau wirbelt mit einer stürmischen Energie durch die Halle. Sie verströmt Vitalität, Gesundheit an Leib und Seele. Sie scherzt und lacht mit den Kindern, gibt ihnen schnelle Anweisungen, die sie gern befolgen.
Eine Schar alter Männer erscheint. Der Rat der Weisen. Still hocken sie sich nieder, sind bald verhüllt vom Rauch ihrer Pfeifen. Aus einer großen Kanne wird ihnen der Tee eingegossen.
Die Frau scheint nicht nur Priesterin zu sein, sondern auch Beraterin des Dorfes.
Pilger treffen ein, werden zum Essen aufgefordert. Auch uns winkt sie einladend zu. Mein indischer Freud lässt sich nicht lange bitten. Ich bleibe sitzen, um das friedliche Bild zu genießen.
Mein Blick fällt auf den Satz "Buddha is alive“, den sie mit Asche an die Tempelwand geschrieben hat.
Vögel flattern durch die Sonnenstrahlen, brechen das Licht, lassen die Schrift zittern - ja, Buddha lebt.
Der Geruch des Tabaks, die feinen Düfte des Essens, das Lachen der Kinder, ihr fröhliches Geplapper, das Saugen an den Pfeifen, das Schlürfen des Tees, selbst das Schweigen der Pilger sind Ausdruck des Lebens dieser Frau.
Ich schaue in den Garten. Unter einem jungen Baum, der in einer rosa Blütenfülle strotzt, liegt ein schneeweißes Kalb. An den Stamm gebunden mit einem lindgrünen Schal, ist es ein Kontrast zum sichtbar dunkleren Grün des Ozeans. Der Anblick ist von so atemberaubender Schönheit, dass es mir das Herz schmerzhaft weitet.

Endlich hat die Frau Zeit. Sie setzt sich neben mich, lacht mich mit kräftigen Zähnen an, als ich sie auf ihre Geschäftigkeit anspreche.
"Ja, ich liebe die Fülle meines Tages".
Der Frage nach der Herkunft weicht sie zunächst aus.
"Ist das nicht unwichtig? Ich lebe hier."
Ich erfahre, dass sie seit fünfzehn Jahren in verschiedenen Buddhistenklöstern gelebt hat, und aus Schweden kam.
"Jetzt habe ich mein Eigenes"
lächelte sie verschmitzt.
Ich bin beeindruckt. Diese Frau ist mit sich und der Welt im Einklang. Sie ist im Fluss. Ist ein intensiver Teil des Ganzen. Ihre Vitalität wirkt stimulierend auf die Trägheit des indischen Gleichmuts.
Spontan lege ich meine Hand auf ihr aschiges Knie, ihre geschwärzten Finger bedecken warm die meinen...
 

Val Sidal

Mitglied
Deine ruhige, den Sinnen zugewandte Prosa gefällt mir gut.
Wenige, zurückhaltend eingeworfene Sätze markieren deine Perspektive auf das Erlebte. Nach meinem Geschmack würde es aber der Erzählung gut tun, wenn du zeigen würdest, was das Erlebte mit dem Reisenden macht. Das bleibt verschleiert. Obwohl gerade das das Besondere wäre.
 



 
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