Frank W. – Nachtschichten: Die Dinge sind anders, als sie scheinen. (neugefasst)

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Walther

Mitglied
Frank W. – Nachtschichten: Die Dinge sind anders, als sie scheinen. (Remix)

Eine Episode


Als Frank W. ins Krankenhaus gerollt wird, erwacht er kurz. Er sieht lauter aufgeregte Gesichter, Menschen, die wie wild gestikulieren, und hört wie durch Watte irgendwelche Rufe, die etwas mit ihm zu tun haben müssen. Alles klingt wie schallgedämpft. Die Gestalten verschwimmen an ihren Rändern. Sein linker Arm hängt am Tropf und schmerzt dumpf. Er will ungläubig den Kopf schütteln und den Oberkörper anheben. Dabei rutscht er zurück in das Schwarz der Ohnmacht.

Nach einer gewissen Zeit sieht er kurz Halogenlichtstäbe über sich vorbeihuschen. Einige von ihnen sind defekt. Wie viel Zeit vergangen ist, weiß er nicht. Wieder verliert er das Bewusstsein. Irgendwann darauf erwacht er kurz in einem dunklen Zimmer und vernimmt akustisch Herztöne. Das Licht der Apparate leuchtet blau, grün und gelb. Rasch sackt er erneut weg.

Als er schließlich die Augen richtig aufschlägt, befindet er sich ganz woanders als in der letzten Wachphase. Es scheint ein gleißendes Weiß um ihn, und er sagt zu sich: Das ist es nun, das ist der Übergang, jetzt geht es zu Ende. Er lächelt einerseits zustimmend und andererseits ungläubig. Und er denkt an Hänschen, seinen Sohn. Er wird dabei traurig, so tieftraurig, dass ihm eine Träne die Wange hinunterläuft. Er fühlt, wie in seiner Nase die salzige Tränenflüssigkeit einschießt und sowohl nach hinten in den Rachen als auch nach vorne in die Nasenlöcher sickert. Er muss hart und schmerzhaft schlucken und schließt erschöpft die Augen wieder.

Wie er die Hand anhebt, um sich die Feuchtigkeit abzuwischen, stellt er auf einmal fest, dass er an keinen Tropf mehr angeseilt ist. Er fragt sich, wo dieser geblieben ist, weil er kein Pflaster spürt, es müsste doch eigentlich da sein. Er tastet sich mit geschlossenen Augen ab. Ist er solange weg gewesen, ohne Bewusstsein? Ein leichter Husten würgt ihn, so dass er sich aufsetzt, nach einem Taschentuch vergeblich suchend, die Hand schließlich vor den Mund hält. Jetzt erst macht er die Augen auf und will sie schon wieder ungläubig schließen. Er reibt sie sich, reißt sie anschließend ganz weit auf. „Wo bin ich hier eigentlich!“ entfährt es ihm halblaut.

Er sitzt auf einer Liege mitten in einem kartesischen Raum. Als er an sich hinuntersieht, bemerkt er Kleidung, die er an sich noch nie gesehen hat, nicht nur das, er kann sich nicht erinnern, solche Textilien jemals gesehen zu haben. Er ist perplex und spürt eine seltsame Angst in sich aufsteigen. Über der Tür beginnen plötzlich Lichter rot aufzuflackern. Kurz darauf öffnet sie sich, und ein Mann mittleren Alters in einer weißen Dienstuniform tritt ein. „Guten Tag!“ sagt er. „Herr W., gut, dass Sie aus dem Heilschlaf endlich erwacht sind. Wir waren schon in Sorge, der Unfall hätte letale bzw. irreparable Folgen gehabt. Wie fühlen Sie sich?“

„Steif und müde“, sagt Frank W. darauf wahrheitsgemäß. Er versucht sich zu erheben und sinkt matt wieder auf die Liege zurück. „Sagen Sie mal, wo bin ich hier eigentlich? Ich sollte doch im Kreiskrankenhaus in Reutlingen sein. Und wer sind Sie?“ Er fühlt sich leer und müde und völlig von der Rolle.

Der Arzt schaut ihn interessiert und leicht erschrocken an. „Was meinen Sie mit „Kreiskrankenhaus“?“ kommt als Antwort von ihm. „Nach einem Zusammenbruch kommt man doch dorthin, oder etwa nicht?“ Frank W. wird langsam ungeduldig. Er will endlich aufstehen, schwingt seine Beine heraus und will sich erheben. Ihm wird schwindelig, und er sinkt zurück. Erst beim zweiten Versuch gelingt es ihm, aufzustehen und nach dem Verlassen der Liege ein paar Schritte zu gehen. Als seine Knie einknicken, ist der Mann da und fängt ihn auf. „Nanana, nur nicht übertreiben, Herr W.!“ sagt der Mann. Er geht mit ihm hinüber zu einer Sitzecke mit weißen Stühlen und einem weißen Tisch, ihn dabei stützend.

„Wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“ Der andere Mann setzt sich ungerührt in den zweiten Stuhl, der 90 Grad gedreht zum Tisch steht, den barschen Ton der überraschend scharf gestellten Frage gleichsam ignorierend.

„Ich bin Ihr medizinischer Betreuer, Dr. Schimanowski, habe die Ehre.“ Der Arzt legt ihm seine rechte Hand aufs Knie. „Erinnern Sie sich nicht an mich?“ Frank W. schüttelt den Kopf. Er fühlt sich plötzlich wieder ausgelaugt und schlapp.

„Verstehe, aha, teilweise Amnesie. Das kann bei diesen schweren Verletzungen vorkommen“, meint der Doktor, fast ein wenig beschwichtigend. „Wie kommen Sie auf Zusammenbruch, Herr W.? Sie sind im Einsatz verunglückt, wissen Sie das nicht mehr?“

„Welcher Unfall? Welcher Einsatz? Wovon reden Sie hier eigentlich? Ich dachte, ich hätte einen Kreislaufzusammenbruch gehabt, und daher wäre ich jetzt hier!“ gibt Frank W. ungläubig und aufgebracht zurück.

„Stimmt, es gab Komplikationen, Sie hatten in der Tat einen Kreislaufzusammenbruch“, antwortet Dr. Schimanowski. Frank W. weiß einfach nicht, was er davon halten soll. Und so richtig verstanden, wie er in dieses merkwürdige Zimmer gekommen ist, hat er auch nicht. „Wo bin ich hier eigentlich? Können Sie mir sagen, was hier los ist?“

Der Doktor schaut ihn zunehmend interessiert an. Was hinter seinen klugen Augen vorgeht, hätte Frank W. gerade nur zu gerne gewusst. Man sollte gelegentlich Gedankenlesen können, denkt er bei sich.

„Ich lasse Ihnen etwas zu trinken bringen und benachrichtige Ihr Team. Ich habe leider zu tun.“ Der Arzt steht auf, geht zur Tür, die sich automatisch wie von Geisterhand öffnet und geräuschlos in die Wand gleitet. Bevor er den Raum verlässt, grüßt er winkend mit der rechter Hand. „Bis bald!“ Frank W. winkt unwillkürlich zurück. Und sagt erneut halblaut zu sich: „Wo, verdammt noch mal, bin ich hier bloß gelandet!“

Nach einer Weile, er muss kurz eingenickt sein, kommt eine junge Frau in einer ihm völlig fremden Schwesterntracht zur Tür hinein. „Ich habe Ihnen einen Energietrunk mitgebracht, damit Sie rasch wieder zu Kräften kommen“, sagt sie, als sie das Trinkbehältnis auf dem Tisch abstellt. „Bleiben Sie ruhig sitzen!“ meint sie, wendet sich wieder zu Tür, die sich lautlos öffnet.

„Guten Tag und vielen Dank! Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier bin?“ fragt Frank W. Sie schaut ihn freundlich an und wendet sich ab. Wieder dieses Winken mit der rechten Hand zum Abschied. Seltsam, dieser Brauch!

Das Getränk schmeckt wie eine Mischung unterschiedlichster Früchte, besonders meint er Erdbeeren und Litschis herauszuspüren. Er fühlt sich erfrischt und kräftiger, steht erneut auf und geht auf die Tür zu, die sich wie von Zauberhand öffnet, weil er ein natürliches Bedürfnis verspürt. Als er gerade den Gedanken: ‚Wo ist denn hier das Klo!’ in seinem Gehirn zu Ende formuliert hat, sagt eine freundliche Stimme in seinem Kopf: ;Dreh Dich einfach um, und Du wirst findet, was Du suchst.’ Er tut automatisch wie ihm geheißen. In der Wand rechts neben der Liege hat sich wie aus dem Nichts eine Kabine geöffnet.

Frank W. bleibt staunend stehen, als er das in den Augenwinkeln sieht. ‚Also wieder zurück ins Zimmer und rein in die Kabine, ich bin verwirrt und beeindruckt’, murmelt er kaum hörbar

Erst jetzt erkennt er feine Linien in der weißen Wand des Raumes. Er geht in die Kabine und findet dort eine komplette Nasszelle mit allen Schikanen vor, auch einigen, mit denen er nichts anfangen kann. Nach der Verrichtung geht er wieder in den Raum zurück und formuliert lautlos, ohne dabei groß nachzudenken: ‚Es könnte etwas fröhlicher sein, das Licht gedämpfter, ein paar Bilder, Bücher, Fernseher, Stereo.’ Wie von Geisterhand beginnt sich der Raum genau so zu verändern, wie er sich das vorgestellt hat.

Frank W. steht wie von Geisterhand gerührt. Er verspürt den Drang, sich selbst erst am Ohr zu ziehen und danach in die Backe zu kneifen. Kaum ist die Hand am Ohr, als wieder die Tür durch das Blinken diesmal grüner Leuchtdiode anzeigt, dass gleich jemand eintreten wird. Mit einem „Hallo, Frank!“ kommt ein drahtiger junger Mann durch die Tür, zur Begrüßung mit der rechten Hand winkend. ‚Die lautlos gestellte Frage, wer das denn sei’, beantwortet sich in seinem Gehirn mit, dass das Karl sei, die Folgefrage: ‚Karl Wer?’ mit ‚Karl Müller!’. ‚Was geschieht hier mit mir?’ will Frank W. danach fragen, als dieser Gedanke mit einem „Wie geht es Dir?“ von seinem Gast unterbrochen wird.

„Ich weiß nicht so recht, ich muss mich erst zurechtfinden.“ Die vielen Fragen unterdrückt er, weil er nicht noch mehr Verunsicherung über seinen Geisteszustand aufkommen lassen will. Frank W. schaut an sich hinunter und entdeckt, dass sie beide die gleiche Uniform tragen, in einem freundlichhellen Graublau, das mit einem weißen Streifen verziert ist. Auf seiner Schulter ist ein Abzeichen, das er nicht einordnen kann, auf der von Karl auch. „Wie viel Uhr haben wir jetzt?“ Frank W. vermisst seinen schweizer Chronometer. „3 Uhr 30!“ sagt Karl da. „Ich habe heute Nachtschicht. Sag mal, was machst Du denn mit der Hand an Deinem rechten Ohr!“ Frank W. zuckt zusammen, lässt schnell das Ohr los, versucht die Hand zu versorgen und geht verlegen hinüber zur Sitzgruppe.

Nicht erst seit diesem Moment hat er den Eindruck, dass er sich völlig neben sich befindet. Um den Gast nicht stehen zu lassen, nimmt er schließlich die rechte Hand, um Karl Müller mit einer raumgreifenden Geste zum Sitzen einzuladen. Er lässt sich nieder und versucht, sich seine totale Verwirrung nicht anmerken zu lassen.

Karl Müller setzt sich wie selbstverständlich zu ihm. „Dr. Schimanowski sagte, dass es Dir nach dem langen Heilschlaf körperlich überraschend gut geht. Allerdings würde Dir die Erinnerung an das Unglück völlig fehlen.“ Er schaut ihn dabei mit einem sympathischen Bedauern offen an.

Frank W. nickt mit dem Kopf, schaut an sich hinunter und bemerkt erst jetzt, dass von seinem Wohlstandsbau und seinem leichten Ziehen in der rechten Hüfte nichts geblieben ist, beides ist wie weggezaubert. „Du siehst fast wieder hergestellt aus“, stellt sein Gegenüber freundlich und erleichtert fest. „Die Medizin bekommt heute Dinge zuwege, die man sich kaum erklären kann, nicht wahr?“

Das Gefühl, in einer Nebenwirklichkeit zu sein, beschleicht Frank W. immer stärker. Er ist er selbst und es doch nicht. „Richtig gemütlich hast Du’s hier. Sieht fast aus wie in Deiner Wohnung. Seitdem wir unsere Helferleins mit unseren Gedanken steuern können, ist das Leben doch viel bequemer geworden.“ Karl Müller lächelt. „Was ein Glück, dass wir in der Sondereinheit die modernsten Einrichtungen haben, die die Technik heute hergibt. Aber ich will Dich nicht länger stören.“ Er steht auf und winkt zum Abschied. „Claudia schaut morgen gegen 11 Uhr bei Dir herein. Jetzt solltest Du noch ein wenig schlafen.“

Als Karl der Raum verlassen hat, spürt Frank W., wie ausgepowert er doch ist. Die Spannung fällt von ihm ab. Er nimmt seinen Kopf in die Hände und sitzt dort eine Weile bewegungslos. Fast verzweifelt sucht er nach einer logischen Erklärung für seine Lage. Er streicht sich durch die Haare und schüttelt den Kopf. ‚Was ist nur mit mir geschehen? Wie konnte ich hierher kommen? Wer bin ich? Wo bin ich? Ist das ein Traum? Was ist die Wirklichkeit?’

Er lehnt sich zurück, und die Augen fallen ihm vor lauter Anstrengung zu. Einige Zeit später fährt er hoch und hat wahnsinnigen Durst. Wie aus dem Nichts öffnet sich der Tisch und bringt ein Glas mit kohlesäurearmem Wasser hervor, genau das, was er jetzt nur zu gerne getrunken hätte. Und als ob es nicht gäbe, über das man sich wundern müsste, nimmt er zielstrebig das Glas auf und trinkt es in einem Zug. Nachdem er es abgestellt hat, verschwindet es, um erneut gefüllt zu erscheinen. Alles geschieht geräuschlos.

Er begibt sich zu seiner Liege, schwingt die Beine hoch und legt seinen Kopf auf seine Hände. Kaum hat er die Augen geschlossen, als er nach und nach in die Schwärze des Schlafes gleitet. Der Raum hatte sich in dieser Zeit von selbst nach und nach verdunkelt.

Mit einem Mal, irgendwann später, schreckt er schweißgebadet auf und befindet sich wieder im Krankenhaus, in dem Zimmer, in das sie ihn gerollt hatten, die Apparate summen, der Herzschlag aus dem Monitor macht beruhigend „Tuttututut!“ Der linke Arm ist angeseilt, der Tropf perlt seine Flüssigkeit, die über den Kanäle in seine Adern träufelt. Er bewegt gerade seinen Kopf, als die Nachtschwester hereinkommt. „Sie sind ja wach“, sagt sie mit freundlicher Stimme. „Sie haben Glück gehabt, kein Infarkt, nur ein Warnschuss, Herr W.“ Dann reicht sie ihm etwas zu trinken, warmen Tee. Er setzt sich mühsam auf und trinkt hastig, so hastig, dass er sich fast verschluckt.

Die Macht der Erinnerung des gerade Erlebten überschwemmt ihn wie eine große Welle, und er atmet tief durch. Die Krankenschwester sieht ihn besorgt an. „Wie geht es Ihnen?“ fragt sie ruhig. Er will antworten, doch es gelingt ihm nur ein Krächzen, so trocken ist sein Mund schon wieder. Sie gibt ihm jetzt ein Glas mit Stillem Wasser, und er trinkt es mit großen Schlucken in einem Zug aus. „Langsam, langsam, nicht so eilig“, sagt sie begütigend.

„Sie müssen sich ausruhen“, stellt sie geschäftsmäßig dann. „Soll ich Ihnen ein Schlafmittel geben?“ Frank W. schüttelt den Kopf, will fragen, wo er ist, weil sich seine Gedanken erst langsam sortieren. „Sollen wir jemanden anrufen?“ fragt die Schwester. Er schüttelt den Kopf. „Danke“, sagt er mit schwacher Stimme. „Danke für alles.“ Dann sinkt er wieder in das Kissen zurück, und bald sind die ruhigen Atemzüge eines Schlafenden zu hören. Die Uhr zeigt 3 Uhr 33.

So langsam vergeht manchmal die Zeit. Und soviel kann auf einmal und gleichzeitig geschehen. Es geht etwas um ihn, in ihm und mit ihm vor. Sein Dasein scheint sich aufzuspalten. Er träumt von verschiedenen Welten und Zeitsprüngen. Von Situationen, die sich überlagern. Von Universen, die sich überlagern und verbinden. Und ahnt dabei nicht, wie nahe er im Traum an der Wahrheit ist.
 



 
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