Frau Helenes Papierkopf

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Alessa

Mitglied
Frau Helenes Papierkopf



Helene steigt die Treppe hinunter, in ihrer Hand hält sie ein Stück Papier. Das Licht im Hausflur macht sie nicht an, sie kennt sich hier aus, wie auswendig gelernt. Vor Adolf Schwalfenbergs Tür bleibt sie stehen und lauscht und hört nichts. Ihr nackter Fuß tastet nach den Schuhen. Sie passen ihr nicht, aber sie hebt sie auf und riecht an ihnen, wie jede Nacht.
Die Tür geht auf, Schwalfenberg steht im Dunkeln vor ihr. Er atmet hörbar, sie sagt, rote Milch, und lässt die Schuhe vor seine Füße fallen. Gehen Sie schlafen, Frau Helene, sagt Schwalfenberg. Helene geht an ihm vorbei, sie zählt die Schritte bis zur Küche und setzt sich auf einen Stuhl. Schwalfenberg folgt ihr und knipst das Licht an. Sie schreien, sagt sie und wackelt mit dem Kopf. Sie sind tot, sagt Schwalfenberg müde, schon lange. Butterblumen sind rot, antwortet sie und steht auf. Ich weiß, sagt der Alte leise und schiebt Helene zur Tür hinaus.

Helene ist noch nicht fertig, sie setzt ihren Abgang fort. Das Licht im Hausflur lässt sie aus und bleibt vor einer anderen Türe stehen. Ihr Fuß tastet, findet die Schuhe. Mit dem Papier in der Hand beugt sie sich hinunter und steckt es in den rechten Schuh. Sie drückt es bis in die Spitzen. Beruhigt wackelt sie mit dem Kopf und lehnt sich an den Türrahmen. Hier schnalzt sie mit der Zunge. Sie schnalzt, bis ihr der Mund trocken wird. Dann sagt sie den Stimmen heiser, die Milch schreit, wie jede Nacht. Schließlich hält sie sich die Ohren zu und stößt sich vom Holzrahmen ab. Bevor sie weiter geht, geht sie in die Knie, fummelt den Zettel aus dem Schuh und riecht an ihm. Lange bleibt sie so stehen.

Dann steigt sie hinunter in das Erdgeschoss und lauscht vor Frau Meyers Tür. Nichts, wie jede Nacht. Ihr Fuß tastet, findet einen Karton, sie stutzt und ihr Kopf hört auf zu wackeln. Nichts. Ihr Fuß tastet wie irrsinnig umher. Keine Schuhe. Helene jammert bis die Tür vor ihr aufgeht. Das Licht aus der Wohnung strahlt sie an und ist neu.

Frau Meyer steht nicht vor ihr. Nicht Frau Meyer. Jemand schreit sie an und sie schreit zurück.

Immer noch krampft sich Helenes Hand um das Papier. Der Arzt gibt nicht auf, er wendet Gewalt an. Schwalfenberg steht neben ihm und schüttelt den Kopf. Vorsichtig nimmt er Helenes Hand, streichelt über die Pergamenthaut und nimmt den Zettel an sich. Er geht die Stufen hinauf.

In seiner Wohnung angekommen, setzt er sich in die Küche und faltet das Papier auseinander:

Schreie Milch
auf diesem Feld
rote Milch
färbt Butterblumen
Milch
wie Stahl
im Körper
Milch schreit
schieß endlich.


Die Kühe sind tot, schon lange, murmelt er vor sich hin.
 

anbas

Mitglied
Hallo Alessa,

um diesen Text kreise ich nun schon seit einigen Tagen. Ich empfinde ihn als merkwürdig, verwirrend, fast schon verstörend und trotzdem/darum für wirklich gut.

Es ist aus meiner Sicht einer dieser Texte, die mehr mit "dem Bauch" und nicht so sehr vom Verstand gelesen werden wollen. Wenn ich ihn auf der Verstandesebene total verstehen wollte, würde ich zumindest scheitern und mit ihm nichts anfangen können. Doch wenn ich - so weit möglich - meinen Denkapparat ausschalte und nur zum Lesen nutze, entstehen Bilder und vor allem eine sehr dichte Athmosphäre, die mich jedenfalls packt.

Ja, es ist aus meiner Sicht ein guter Text, der auf keinen Fall unkommentiert bleiben sollte.

Liebe Grüße

Andreas
 

Alessa

Mitglied
Hallo Andreas,

vielen Dank, dass Du mir Deine Empfindungen, die beim Lesen aufkamen, mitteilst. Ich denke, es sind genau die Empfindungen, die der Text als höchste der Gefühle auslösen kann.

Mir ist auch bewusst, dass der kurze Text Verwirrung und Verstörung auslöst, weil er ja nur einige Momente im alltäglichen Ablauf dieser Frau Helene beschreibt. Der Leser erfährt nicht, was Jahrzehnte zuvor passiert ist. Er muss zusehen, als eine Kleinigkeit Verstörung auslöst, allein dadurch, dass sich etwas im Ablauf änderte.

Freut mich, dass Du den Text gut findest und dankeschön für die Bewertung.

Liebe Grüße
Alessa
 

Der Andere

Mitglied
huch, ich bin ja hier nur noch sporadisch unterwegs, meist auch auf stillen füßen, an dieser stelle lohnt sich aber ein kommentar: der ton, den du da triffst, hebt sich so wohltuend zermürbend von den meisten anderen texten ab, dass ich nicht stumm vorbeistolzieren kann. dabei ist es mir egal, ob meine vermutung, dass es sich nämlich um einen fall einer, vielleicht ja auch posttraumatischen schizophrenie handelt, hinfällig ist oder nicht. durch geschickte reduktion schaffst du auch unabhängig von etwaigen krankheiten eine dichte atmosphäre, in die hineingestürzt zu werden eine (nicht ohne widerpsruch bleibende) freude ist. ich glaube sogar, der text könnte noch dichter ausfallen. allein wenn ich daran denke, dass eventuell ja noch das ende gestrichen werden könnte, das gedicht schließlich, das so metatextuell daherkommt, braucht es hier ja gar nicht. auch die zeilen unmittelbar davor und danach. ein zettel, ein bloßer. das hätte gereicht. ich möchte mehr davon sehen.
 

Alessa

Mitglied
Hallo der Andere,


umso mehr fühlen sich Frau Helene und ich geehrt, dass Du bei uns nicht ohne Kommentar vorbeistolziert bist. Dankeschön.

"Wohltuend zermürbend"? Damit hast Du mir etwas zum Nachdenken gegeben.

Weißt Du was? Du hast Recht! Das Gedicht kann und muss weg. Der Text braucht ihn nicht (mehr).
Das Gedicht war die Mama. Frau Helene war das Kind. Irgendwann braucht das Kind die Mama nicht mehr.

Wenn ich darf, lösche ich das Gedicht. Die Zeilen danach sowieso. Die Zeilen davor ... da werde ich ein wenig unsicher, wo ich die Nabelschnur durchtrennen soll.

Bitte um Kommentar, wenn was durch den Schnitt unklarer wird.
Hm.

Danke!
 

Alessa

Mitglied
Frau Helenes Papierkopf



Helene steigt die Treppe hinunter, in ihrer Hand hält sie ein Stück Papier. Das Licht im Hausflur macht sie nicht an, sie kennt sich hier aus, wie auswendig gelernt. Vor Adolf Schwalfenbergs Tür bleibt sie stehen und lauscht und hört nichts. Ihr nackter Fuß tastet nach den Schuhen. Sie passen ihr nicht, aber sie hebt sie auf und riecht an ihnen, wie jede Nacht.
Die Tür geht auf, Schwalfenberg steht im Dunkeln vor ihr. Er atmet hörbar, sie sagt, rote Milch, und lässt die Schuhe vor seine Füße fallen. Gehen Sie schlafen, Frau Helene, sagt Schwalfenberg. Helene geht an ihm vorbei, sie zählt die Schritte bis zur Küche und setzt sich auf einen Stuhl. Schwalfenberg folgt ihr und knipst das Licht an. Sie schreien, sagt sie und wackelt mit dem Kopf. Sie sind tot, sagt Schwalfenberg müde, schon lange. Butterblumen sind rot, antwortet sie und steht auf. Ich weiß, sagt der Alte leise und schiebt Helene zur Tür hinaus.

Helene ist noch nicht fertig, sie setzt ihren Abgang fort. Das Licht im Hausflur lässt sie aus und bleibt vor einer anderen Türe stehen. Ihr Fuß tastet, findet die Schuhe. Mit dem Papier in der Hand beugt sie sich hinunter und steckt es in den rechten Schuh. Sie drückt es bis in die Spitzen. Beruhigt wackelt sie mit dem Kopf und lehnt sich an den Türrahmen. Hier schnalzt sie mit der Zunge. Sie schnalzt, bis ihr der Mund trocken wird. Dann sagt sie den Stimmen heiser, die Milch schreit, wie jede Nacht. Schließlich hält sie sich die Ohren zu und stößt sich vom Holzrahmen ab. Bevor sie weiter geht, geht sie in die Knie, fummelt den Zettel aus dem Schuh und riecht an ihm. Lange bleibt sie so stehen.

Dann steigt sie hinunter in das Erdgeschoss und lauscht vor Frau Meyers Tür. Nichts, wie jede Nacht. Ihr Fuß tastet, findet einen Karton, sie stutzt und ihr Kopf hört auf zu wackeln. Nichts. Ihr Fuß tastet wie irrsinnig umher. Keine Schuhe. Helene jammert bis die Tür vor ihr aufgeht. Das Licht aus der Wohnung strahlt sie an und ist neu.

Frau Meyer steht nicht vor ihr. Nicht Frau Meyer. Jemand schreit sie an und sie schreit zurück.

Immer noch krampft sich Helenes Hand um das Papier. Der Arzt gibt nicht auf, er wendet Gewalt an. Schwalfenberg steht neben ihm und schüttelt den Kopf. Vorsichtig nimmt er Helenes Hand, streichelt über die Pergamenthaut und nimmt den Zettel an sich. Er geht die Stufen hinauf.
 

Alessa

Mitglied
Frau Helenes Papierkopf



Helene steigt die Treppe hinunter, in ihrer Hand hält sie ein Stück Papier. Das Licht im Hausflur macht sie nicht an, sie kennt sich hier aus, wie auswendig gelernt. Vor Adolf Schwalfenbergs Tür bleibt sie stehen und lauscht und hört nichts. Ihr nackter Fuß tastet nach den Schuhen. Sie passen ihr nicht, aber sie hebt sie auf und riecht an ihnen, wie jede Nacht.
Die Tür geht auf, Schwalfenberg steht im Dunkeln vor ihr. Er atmet hörbar, sie sagt, rote Milch, und lässt die Schuhe vor seine Füße fallen. Gehen Sie schlafen, Frau Helene, sagt Schwalfenberg. Helene geht an ihm vorbei, sie zählt die Schritte bis zur Küche und setzt sich auf einen Stuhl. Schwalfenberg folgt ihr und knipst das Licht an. Sie schreien, sagt sie und wackelt mit dem Kopf. Sie sind tot, sagt Schwalfenberg müde, schon lange. Butterblumen sind rot, antwortet sie und steht auf. Ich weiß, sagt der Alte leise und schiebt Helene zur Tür hinaus.

Helene ist noch nicht fertig, sie setzt ihren Abgang fort. Das Licht im Hausflur lässt sie aus und bleibt vor einer anderen Türe stehen. Ihr Fuß tastet, findet die Schuhe. Mit dem Papier in der Hand beugt sie sich hinunter und steckt es in den rechten Schuh. Sie drückt es bis in die Spitzen. Beruhigt wackelt sie mit dem Kopf und lehnt sich an den Türrahmen. Hier schnalzt sie mit der Zunge. Sie schnalzt, bis ihr der Mund trocken wird. Dann sagt sie den Stimmen heiser, die Milch schreit, wie jede Nacht. Schließlich hält sie sich die Ohren zu und stößt sich vom Holzrahmen ab. Bevor sie weiter geht, geht sie in die Knie, fummelt den Zettel aus dem Schuh und riecht an ihm. Lange bleibt sie so stehen.

Dann steigt sie hinunter in das Erdgeschoss und lauscht vor Frau Meyers Tür. Nichts, wie jede Nacht. Ihr Fuß tastet, findet einen Karton, sie stutzt und ihr Kopf hört auf zu wackeln. Nichts. Ihr Fuß tastet wie irrsinnig umher. Keine Schuhe. Helene jammert bis die Tür vor ihr aufgeht. Das Licht aus der Wohnung strahlt sie an und ist neu.

Frau Meyer steht nicht vor ihr. Nicht Frau Meyer. Jemand schreit sie an und sie schreit zurück.

Immer noch krampft sich Helenes Hand um das Papier. Der Arzt gibt nicht auf, er wendet Gewalt an. Schwalfenberg steht neben ihm und schüttelt den Kopf. Vorsichtig nimmt er Helenes Hand, streichelt über die Pergamenthaut und nimmt den Zettel an sich.
 
U

USch

Gast
Hallo Alessa,
das ist für mich ein Supertext für den Bauch. In diese Richtung möchte ich meinen Schreibstil entwickeln.
Ein kleiner Änderungsvorschlag, wenn du magst:

Hier [red]schnalzt [/red]sie mit der Zunge. Sie [red]schnalzt[/red], bis ihr der Mund trocken wird.
Vorschlag:
Sie schnalzt mit der Zunge, bis ihr Mund trocken wird [blue]oder: nur noch Trockenheit spürt[/blue].
LG USch
 

Alessa

Mitglied
Hi USch,

danke fürs Lesen und Kommentieren. Und es freut mich, dass Dir der Schreibstil gefällt.

Ich schwanke noch. Bin mir unsicher, ob ich das so stehen lassen kann:
Hier schnalzt sie mit der Zunge. Sie schnalzt, bis [strike]ihr[/strike] der Mund trocken wird.
Denn Du hast ja Recht! Da aus dem Kontext hervor geht, dass es sich um ihren Mund handelt.
Ich glaube, ich habe das damals wegen des Leserhythmus' so geschrieben. Der Klang ist einfach anders. Ich weiß aber nicht, was schwerer wiegt: Der Klang oder Korrektheit?

Grübelnde Grüße :)
Alessa
 

Der Andere

Mitglied
ich bin immer wieder erstaunt, zu was kürzungen imstande sind: dieses ende ist tatsächlich deutlich ausdrucksstärker als das vorherige. zumal rätselhafter. offener auch. gefällt mir.
 
U

USch

Gast
Hallo Der Andere, hallo alessa,
das sehe ich auch so. Der Text hat noch gewonnen. Chapeau.
LG USch
 

Alessa

Mitglied
Hallo Der Andere,
hallo USch,

danke für Eure Kommentare. Sie rückmelden mir nochmals, dass es gut war, das Gedicht-Ende heraus zu nehmen. Ich bin auch froh, dass ich mich von dem "Ballast" getrennt habe.

Liebe Grüße
Alessa
 



 
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