Freitach wird jebadet

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Wipfel

Mitglied
Freitach wird jebadet

Sonntag in den Sommerferien.
Der Physiklehrer Karsten Briem wachte auf, ohne dass der Wecker geklingelt hätte. Dafür läuteten an diesem Morgen schon zum dritten Mal irgendwelche Glocken. Berlin eben. Er rieb sich die Augen, schlüpfte in seine Pantoffeln und hing für Augenblicke Traumfetzen nach. Ach was, dachte er, Träume sind Schäume. Heute ist ein freier Tag, der nach Gestaltung verlangt. „Denn was wäre die Freiheit wert“, wiederholte er nun laut einen seiner selbstverfassten Leitsätze, „würde sie nicht von ihrer Schwester begleitet, der Disziplin.“

Etwas später stand er geduscht und rasiert in der Küche, ein frisches Hemd hatte er sich herausgesucht, diesmal ein grüngelbgestreiftes, passend zur Jahreszeit. Karsten Briem bereitete sich das Frühstück, heute mit dem berühmten Briemschen Frühstücksei.
Tatsächlich hatte er vor Jahren einen Aufsatz darüber verfasst, wie es jedermann gelingen könnte, das perfekte Frühstücksei zu kochen, immer und an jedem Ort der Welt. Das Geheimnis liege in der gleichzeitigen Beachtung der Höhe des Kochortes über dem Meeresspiegel und dem eigentlichen Ei-Gewicht. Die daraus resultierende Kochzeit hatte er für drei verschiedene Geschmacksstufen in einer übersichtlichen Tabelle erfasst und versucht, diese an Frauenzeitschriften zu verkaufen – doch eine nach der anderen hatte abgelehnt.

Es blieb ihm ein Rätsel, wie seine Arbeit schließlich nach England gelangen konnte, dort jedenfalls titelte auf einmal eine Zeitschrift auf Seite eins: „Der Fritz lehrt uns das Eierkochen!"
Immerhin gab es ein anständiges Honorar in englischen Pfund, etwas später dann doch noch einen kleinen Bericht in der deutschen Presse mit dem Abdruck der Tabelle.

Das alles war inzwischen Jahre her, jetzt galt es, das Ei zu wiegen und danach die perfekte Kochzeit auf dem Sekundenwecker einzustellen. 6 Minuten, 7 Sekunden. Der Tisch war gedeckt, die Toastscheibe im Toaster, es war also noch Zeit. Zeit, die man nutzen konnte - wie jeden Sonntag.

Karsten Briem ging in sein Arbeitszimmer, schaltete den alten Rechner an – der brauchte zum Hochfahren 2 Minuten und 30 Sekunden -, nahm den schon am Vorabend zurecht gelegten Zettel vom Schreibtisch, dazu einen Stift, schaute auf seine Uhr und ging mit großen Schritten zur Wohnungstür. Im Vorbeigehen griff er nach dem Schlüssel und lief die Treppe hinab, in den Keller. Hier öffnete er die Blechtür des Zählerschranks, und notierte die sechs Ziffern vor und die eine nach dem Komma, die Zählerscheibe drehte sich nur langsam, die Welt schien in bester Ordnung. Er hörte das Quietschen der Haustür, sah wieder auf die Uhr. Dann ein Poltern. Jetzt also kommt sie erst nach Hause, dachte der Lehrer, ach von mir aus, soll sie doch. Wir waren alle einmal jung. Er schloss den Schrank und stieg die Treppe hinauf.

„Guten Morgen, Fräulein Schubert“, grüßte er höflich die Person, die in einem kurzen dunkelblauen Kleid auf der Treppe saß und in ihrer Handtasche offensichtlich nach dem Schlüssel suchte. Er mochte sie, irgendwie.

„Det mit det Frollein is aba nu ooch schon’n paa Jährchen vorbei“, lallte sie ihm nach. „Nenn Se mir eenfach Lola!“

„Lola?“
Der Lehrer blieb kurz stehen. „Aber so heißen Sie nicht. Ihr Name ist doch Karin, Karin Schubert!“

„Aba Lola passt bessa zu mia! Fin’n Se nich ooch?“

Karsten Briem murmelte ein: „Na, wenn Sie meinen…“, und schloss gleich darauf hinter sich die Wohnungstür.

2 Minuten 50 Sekunden waren vergangen, noch also war Zeit, den Zählerstand in die Excel-Tabelle einzutragen. Der Lehrer stutzte, das konnte nicht sein! Der Verbrauch lag um 4230 Watt höher, als in der Vorwoche. Wie denn, wann denn, dachte er nach. Ich habe doch nichts außer der Reihe getan?! Ein Ablesefehler, analysierte er blitzschnell, es kann nur ein Ablesefehler sein, na klar, was sonst! Er schnellte hoch und eilte in die Küche, noch 1 Minute und 38 Sekunden. Das schaffe ich, wetten? Er riss die Wohnungstür auf – die neue Lola suchte weiter nach ihrem Schlüssel -, rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab, riss den Zählerschrank auf und glaubte seinen Augen nicht: Die Zahlen vor dem Komma stimmten! Im gleichen Augenblick hörte er eine Wohnungstür zuknallen.

„Mein Schlüssel!“, rief er erschrocken und eilte zurück.
„Rums!“, griente die Frau über beide Wangen, „die wär nu ma zu, wa?“
Breitbeinig und immer wieder nach Gleichgewicht suchend, lehnte sie am Geländer.

„Fräulein Schubert! Waren Sie das?“

„Icke? Erlauben Se mal! Ick kann noch nich ma eener Flieeje wat zuleide tun. Icke doch nich!“

„Scheiße!“, entfuhr es dem Physiklehrer, der damit drei Sachen gleichzeitig meinte: die vor sich hin kochenden Eier, den erhöhten Stromverbrauch und die zugeschlagene Wohnungstür. In diesem Moment hörten sie die Sekundenuhr bimmeln. Eiersalat, dachte er, optimistisch gesehen wird das allenfalls noch Eiersalat.

„Fräulein Schubert“, überlegte Karsten Briem laut, „ich habe Ihnen doch vor einiger Zeit meinen Schlüssel anvertraut. Genau für solche Fälle!“

„Kann sein“, murmelte sie müde und setzte sich auf die Treppe zurück.

„Würden Sie mir ihn schnell bringen? Ich habe einen Topf auf dem Herd.“

„Nee!“

„Was heißt hier ‚nee’!?“

„Ick find ja noch nich ma meenen!“, nuschelte sie und reichte ihm die Handtasche. „Hier! Vielleicht ham Se ja mehr Jlück wie icke.“

„Als ich“, verbesserte der Lehrer, „es heißt: als ich!“. Er setzte sich neben die Frau und begann in ihrer Handtasche zu kramen, wunderte sich über die vielen, seiner Meinung nach überflüssigen Dinge, die zusammen ein bizarres Konglomerat ergaben.

„Ist er das hier?“

„Juuuut!“, strahlte die Frau. „Nu müssen Se nur noch de Türe uffschließen und mir ins Bette trajen. Det schaff ick nämlich irgendwie nich.“

„Aber Fräulein Schubert! Sie sind ja betrunken!“

„Ja nu machen Se schon, oder soll ick hier Wurzeln schlajen?“

„Tür aufschließen: ja. Ins Bett schleppen: nein!“

„Und ausziehen müssen Se mir och noch, und zwar janz, oder soll ick etwa in meene Klamotten schlafen? Det könn Se nu ooch wieder nich wolln, oda?“

Karsten Briem schloss ihre Wohnungstür auf, machte im Flur Licht und schaute oberflächlich, ob er seinen Schlüssel irgendwo entdecken könnte.

„Also, wo ist er?“

„Sag ick, wenn Se mir zujedeckt ham. Und een Jutenachtkuss will ick ooch, da besteht meene Persönlichkeit druff… Aber wehe Se varjreifen sich an mir, det will ick nich, det nu jleich jar nich.“
Eine Weile ging er im Hausflur auf und ab, schaute immer wieder in die offene Wohnung. Hatte er eine Wahl?

„Das ist Erpressung, Lola“, raunzte er und hob sie, nachdem er sich nochmals versichert hatte, dass keine anderen Hausbewohner in Sichtweite waren, auf seine Arme.

„Weeß ick doch, aber warum soll ick dir nich een bisschen ausnützen, wo de doch schon ma da bist?“

Er fand das Schlafzimmer, stieß mit dem Fuß die angelehnte Tür auf und legte die Frau auf das Bett, schob ein Kopfkissen zurecht und fragte erneut nach dem Schlüssel.

„Erst mich ausziehen“, flüsterte sie. „Wat schenierste dir denn, haste noch nie ne nackte Frau jesehn? Keene Angst, jebadet hab ick letzten Freitach, da bin ick ja ordentlich, wat det betrifft.“
Lola kicherte und Karsten Briem überlegte, wann er zum letzten Mal eine nackte Frau gesehen hatte.

„Noch nie eine so schöne“, murmelte er, als er ihr Kleid abstreifte. Seine Hände zitterten, als sie ihr Becken hob und er ihren Slip auszog. Dann die Strümpfe. Sie drehte sich zur Seite, er öffnete den BH und entblößte ihre Brüste.

„Noch nie eine so schöne“, flüsterte er in ihr Ohr. „Und wo ist jetzt der Schlüssel?"

„Mir is schlecht“, stöhnte Lola. „Kannste aus'm Bad ’n Eima bring’?“

Der Physiklehrer deckte die Frau zu, ging ins Bad, fand den Eimer und wollte, wie es früher seine Mutter getan hatte, etwas warmes Wasser in den Eimer lassen. Merkwürdig, auch nach einiger Zeit des Wartens blieb das Wasser kalt.
Den Eimer stellte er neben das Bett, fragte:
„Warum wird das Wasser nicht warm?“

„Durchlauferhitza is kaputt“, murmelte Lola, schon halb schlafend. Er küsste sie vorsichtig, fragte zugleich nach dem Schlüssel.
„…Kaffetasse“, war das letzte, was er verstand, wenig später schlief sie schon und schnarchte leise vor sich hin.

Karsten Briem saß auf der Bettkante und dachte nach. Eier auf dem Herd, Abweichung des Stromverbrauchs, kaltes Wasser, Kaffeetasse. War das eine kausale Kette? Und freitags hatte sie gebadet. Wie denn, wenn das Ding kaputt ist? Plötzlich kam ihm eine Idee, die alles erklären könnte. Sollte sie etwa heimlich bei ihm...? Vor Schreck hielt er sich die Hand vor den Mund, sprang aber sofort auf, als ihm seine Frühstückseier einfielen.

‚Kaffeetasse’ hatte sie gesagt. So schwer konnte das ja nicht sein. In irgendeiner musste der Schlüssel liegen. Lange brauchte er nicht zu suchen, der Schlüssel fand sich in einer einzelnen blauen im Küchenschrank. Nochmals warf er einen Blick ins Schlafzimmer, zog die Decke über ihre nackten Schultern und streichelte über ihr Haar. Dann endlich verließ er die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.

Die Eier kochten noch immer, schnell nahm er sie vom Herd und schreckte sie ab. Eiersalat also. Die Exceltabelle speicherte er und schloss die Datei, jetzt, da es eine Erklärung für den erhöhten Stromverbrauch gab. Eine Weile saß er ganz still, spürte etwas Verlorengeglaubtes in seiner Brust aufsteigen. Da lässt sich was draus machen, dachte Karsten Briem und steckte den einzelnen Wohnungsschlüssel in einen Briefumschlag. Dazu schrieb er auf einen Zettel:

„Liebe Frau Lola, solange Sie nicht über warmes Wasser verfügen, können Sie ja bei mir baden. Bis Freitag also!“
 

HorstK

Mitglied
Gelungene Story!

Hallo Wipfel,

schöne Story, hat mir gut gefallen, von vorne bis hinten stimmig. Bravo - mehr davon!
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Wipfel,

ich mag solche Typen wie diesen Physiklehrer – jedenfalls in der Literatur. In der realen Welt würden sie wohl sehr schnell nerven. Ich habe mich köstlich über die Frühstücksei-Kochanleitung amüsiert.

Auch das Fräulein Lola ist wunderbar getroffen. Vielleicht wird ja was aus den beiden.

Insgesamt eine gelungene Geschichte!

Gruß Ciconia
 
E

eisblume

Gast
Hallo Wipfel,

das hab ich jetzt ausgesprochen gern gelesen (obwohl ich es mit dem Berlinern so überhaupt nicht habe), hab nix zu meckern oder anzumerken, das ist einfach nur wunderbar :)

Meine absolute Lieblingsstelle:

Und een Jutenachtkuss will ick ooch, da besteht meene Persönlichkeit druff
Klasse :)

herzlichst
eisblume
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Horst, vielen Dank für dein Lesen. Mehr davon? okay, ich kann sie ja nochmal rein stellen...

Grüße von wipfel
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Ciconia, danke für deine Zeilen. Ob was aus den beiden wird?

....Mit einem Seufzen – auch noch die Korrekturen! - setzte er sich zurück an seinen Schreibtisch und nahm das erste Heft vom Stapel, blätterte zum Anfang der Arbeit, rückte seinen Stuhl zurecht und begann zu lesen.

Religionsfreiheit ein Menschenrecht?
Betrachten wir einen Augenblick die so genannten Menschenrechte, und zwar die Menschenrechte unter ihrer authentischen Gestalt, unter der Gestalt, welche sie bei ihren Entdeckern, den Nordamerikanern und Franzosen, besitzen. Zum Teil sind diese Menschenrechte politische Rechte, Rechte, die nur in der Gemeinschaft mit anderen ausgeübt werden…


Karsten Briem sah auf, pfiff durch die Zähne und schaute hinüber zum Bücherregal. „Das gibt es doch nicht, klingt wie eine Abhandlung vom jungen Marx“, flüsterte er kopfschüttelnd, schlurfte durch den Raum und kam mit einem dicken Buch zurück, blätterte, suchte eine bestimmte Stelle und fand sie, verglich sie mit dem fortlaufenden Text:
…Die Unvereinbarkeit der Religion mit den Menschenrechten liegt so wenig im Begriff der Menschenrechte, dass das Recht religiös zu sein, auf beliebige Weise religiös zu sein, den Kultus seiner besonderen Religion auszuüben, vielmehr ausdrücklich unter die Menschenrechte gezählt wird.

‚Brillant formuliert’, schrieb er mit rotem Stift unter den Text, ‚nur leider nicht von Ihnen’. Es folgte eine schwungvolle Sechs. Nächstes Heft.

Es klingelte. Der Lehrer hob erstaunt seinen Kopf und sah zuerst zur Uhr. Nach acht schon. Wer mochte das sein? Er ging zur Wohnungstür, sah durch den Spion und traute seinen Augen nicht. Da stand seine schöne Nachbarin, die sich von ihm Lola nennen ließ. Streng sah sie aus, trotz der weiten Hose, die sie trug und dem luftigen Oberteil. Vielleicht weil, sie die dunklen Haare fest nach hinten gebunden und die Fäuste fest in die Hüften gestemmt. In der einen Hand hielt sie etwas. Schnell drehte Karsten sich zum Spiegel, zog einen Kamm aus der Hosentasche und ordnete seine Frisur so gut es ging.
Jetzt öffnete er mit einem Ruck die Tür und begrüßte die Wartende mit einem überrascht klingenden „Guten Tag, Fräulein Lola!“. Für einen Augenblick spürte er seine Knie weich werden. Doch ihr wütender Blick ließ ihm keine Zeit dieses seltene Gefühl zu analysieren.
„Herr Briem, ich muss doch sehr bitten! Wieso nennen Sie mich Fräulein Lola?“, schimpfte sie und hielt ihm dabei den Briefumschlag mit dem einzelnen Schlüssel und seiner an sie gerichteten Botschaft vors Gesicht. „Und das hier? Was soll das?“

„Was meinen Sie?“

„Was ich meine? Spionieren Sie mir neuerdings nach oder was?“

„Ich verstehe nicht…“

„Sie verstehen sehr wohl. Und wie Sie verstehen! Oder woher wissen Sie, dass mein Durchlauferhitzer kaputt ist? Können Sie mir das mal erklären?“

„Aber sie berlinern ja gar nicht…"

„Berlinern? Was soll das denn nun schon wieder. Ich berlinere nur, wenn ich betrunken bin…“

„…und nannten sich letzten Sonntag noch Lola.“

„Letzten Sonntag?“ Ihr Ton wurde vorsichtig und ein verlegenes Lächeln huschte über ihr rundes Gesicht. „Dann waren Sie es also, der mich…?“

„Hätten Sie sich das nicht denken können? Sie saßen im Hausflur - nun sagen wir mal - in einem recht despektierlichen Zustand. Und weil Sie es so nachhaltig von mir verlangten, habe ich Sie ins Bett gebracht.“

„…und ausgezogen?“

„..und aus dem Bad den Eimer geholt. Es kam kein warmes Wasser. Doch Ihre Behauptung, sie hätten Freitag zuvor gebadet und mein erhöhter Stromerbrauch, brachte mich auf die Idee…!“

„Sagen Sie mal, Sie Schlaumeier, was sind Sie eigentlich für ein Mensch? So was gibt’s doch gar nicht!“

„Ich bin Physiker und Philosoph…“

„Wirklich? Ein Philosoph?“

„Was ist daran so ungewöhnlich?“

„Nichts! Irgendjemand hat mir erzählt, Sie seien Lehrer…“

Karsten Wuttke räusperte sich und lief rot an, bekannte dann aber kleinlaut: „Ja das stimmt: Lehrer für Physik und Ethik. Gymnasialstufe übrigens!“

„Physik und Ethik? Passt das denn überhaupt zusammen?“

„Aber natürlich! Alle großen Physiker beschäftigten sich früher mit den philosophischen Grundproblemen dieser Welt. Die Spezialisierung kam erst mit dem Atomzeitalter. Selbst Weitzecker hat erst kürzlich in einem Interview gesagt…"

„Ja, ja. Ich glaube es ihnen. So wichtig war mir das jetzt auch wieder nicht.“, winkte die Frau ab und strich sich verspielt eine Haarsträne hinter die Ohren. Der Zorn schien wie weggepustet

„Gestatten Sie die Frage: Welchen Beruf üben Sie eigentlich aus, Fräulein Schubert?“

„Frau Schubert, bitte schön! Erstens bin ich aus dem Fräuleinalter nun wirklich rausgewachsen – und das mit der Jungfrau liegt nun auch schon etwas länger zurück. Schauspielerin, wenn Sie es genau wissen wollen.“

„Sagen Sie bloß! Eine echte Schauspielerin? Etwa beim Film? Und wo kann man sie bewundern?“

„Nein, nein. Ich spiele hier am Centraltheater, in der Bosestraße. Bis Samstag war ich die Gräfin Orlia. Aber jetzt haben wir Sommerpause. Im September spiele ich übrigens tatsächlich die Lola, im xxx von yyy. Warum interessiert Sie das, Herr Wuttke?“, frage sie schelmisch.

„Bis dahin ist es ja noch einwenig Zeit, doch ich bin mir sicher, die Lola können Sie so gut spielen, wie keine andere“, wich Karsten Briem der Frage aus. „Doch was stehen wir hier herum, kommen Sie doch herein!“.....
 

Wipfel

Mitglied
Liebe Eisblume, danke für deine Anerkennung. Ich mag es, wenn Leser Lieblingsstellen haben. Grüße von wipfel
 

xavia

Mitglied
Eine sehr witzige Geschichte, auch schon bis dahin! Nachdem ich nun aber in den „spontanen Texteindrücken“ lesen konnte, wie es weitergeht, finde ich es schade, dass diese lustige Fortsetzung nicht auch noch Teil der Geschichte ist, zumal ich inzwischen herausgefunden habe, dass diese Beiträge nur Forums-Mitgliedern sichtbar sind. Besonders die darin enthaltene Verschiebung der Wirklichkeiten (Lola oder nicht Lola, berlinern oder nicht berlinern) hat mir sehr gefallen!
 

Wipfel

Mitglied
merci xavia für dein Lesen. Immerhin hast die Fortsetzung entdeckt. ...Die zweite Geschichte gehört mit der ersten zu einem Werk, welches so nach und nach entsteht. Wie man lesen kann, ist sie auch als solche noch nicht fertig - und dass den zweiten Teil nur Forumsmitglieder lesen können, ist auch nicht so schlecht, oder? Kennst du / kennt hier jemand ein Theaterstück, in dem es eine Lola gibt? Danach suche ich noch...

Grüße von wipfel
 

xavia

Mitglied
Der blaue Engel mit Emil Jannings und Marlene Dietrich (als Lola), ist zwar ein Film, könnte man aber auch auf die Bühne bringen, denke ich. Hat einige Ähnlichkeit mit der vorliegenden Geschichte, wenn ich mich recht entsinne.
 
E

eisblume

Gast
Hi Wipfel,

sorry für meine Pingeligkeit, aber in deiner Fortsetzung heißt der Briem dann auch mal Wuttke, was mir aber so spontan sogar noch besser gefallen würde.

Karsten Wuttke räusperte sich und lief rot an, bekannte dann aber kleinlaut: „Ja das stimmt: Lehrer für Physik und Ethik. Gymnasialstufe übrigens!“
herzlichst
eisblume
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Kennst du / kennt hier jemand ein Theaterstück, in dem es eine Lola gibt?
Mir fiel gleich Fassbinders Lola ein. Das wäre eine Bombenrolle für Dein Fräulein (Lola) Schubert ...

Gruß Ciconia

P.S. Wuttke fände ich auch besser.
 

Wipfel

Mitglied
Freitach wird jebadet

Sonntag in den Sommerferien.
Der Physiklehrer Karsten Briem wachte auf, ohne dass der Wecker geklingelt hätte. Dafür läuteten an diesem Morgen schon zum dritten Mal irgendwelche Glocken. Leipzig eben. Er rieb sich die Augen, schlüpfte in seine Pantoffeln und hing für Augenblicke Traumfetzen nach. Ach was, dachte er, Träume sind Schäume. Heute ist ein freier Tag, der nach Gestaltung verlangt. „Denn was wäre die Freiheit wert“, wiederholte er nun laut einen seiner selbstverfassten Leitsätze, „würde sie nicht von ihrer Schwester begleitet, der Disziplin.“

Etwas später stand er geduscht und rasiert in der Küche, ein frisches Hemd hatte er sich herausgesucht, diesmal ein grüngelbgestreiftes, passend zur Jahreszeit. Karsten Briem bereitete sich das Frühstück, heute mit dem berühmten Briemschen Frühstücksei.
Tatsächlich hatte er vor Jahren einen Aufsatz darüber verfasst, wie es jedermann gelingen könnte, das perfekte Frühstücksei zu kochen, immer und an jedem Ort der Welt. Das Geheimnis liege in der gleichzeitigen Beachtung der Höhe des Kochortes über dem Meeresspiegel und dem eigentlichen Ei-Gewicht. Die daraus resultierende Kochzeit hatte er für drei verschiedene Geschmacksstufen in einer übersichtlichen Tabelle erfasst und versucht, diese an Frauenzeitschriften zu verkaufen – doch eine nach der anderen hatte abgelehnt.

Es blieb ihm ein Rätsel, wie seine Arbeit schließlich nach England gelangen konnte, dort jedenfalls titelte auf einmal eine Zeitschrift auf Seite eins: „Der Fritz lehrt uns das Eierkochen!"
Immerhin gab es ein anständiges Honorar in englischen Pfund, etwas später dann doch noch einen kleinen Bericht in der deutschen Presse mit dem Abdruck der Tabelle.

Das alles war inzwischen Jahre her, jetzt galt es, das Ei zu wiegen und danach die perfekte Kochzeit auf dem Sekundenwecker einzustellen. 6 Minuten, 7 Sekunden. Der Tisch war gedeckt, die Toastscheibe im Toaster, es war also noch Zeit. Zeit, die man nutzen konnte - wie jeden Sonntag.

Karsten Briem ging in sein Arbeitszimmer, schaltete den alten Rechner an – der brauchte zum Hochfahren 2 Minuten und 30 Sekunden -, nahm den schon am Vorabend zurecht gelegten Zettel vom Schreibtisch, dazu einen Stift, schaute auf seine Uhr und ging mit großen Schritten zur Wohnungstür. Im Vorbeigehen griff er nach dem Schlüssel und lief die Treppe hinab, in den Keller. Hier öffnete er die Blechtür des Zählerschranks, und notierte die sechs Ziffern vor und die eine nach dem Komma, die Zählerscheibe drehte sich nur langsam, die Welt schien in bester Ordnung. Er hörte das Quietschen der Haustür, sah wieder auf die Uhr. Dann ein Poltern. Jetzt also kommt sie erst nach Hause, dachte der Lehrer, ach von mir aus, soll sie doch. Wir waren alle einmal jung. Er schloss den Schrank und stieg die Treppe hinauf.

„Guten Morgen, Fräulein Schubert“, grüßte er höflich die Person, die in einem kurzen dunkelblauen Kleid auf der Treppe saß und in ihrer Handtasche offensichtlich nach dem Schlüssel suchte. Er mochte sie, irgendwie.

„Det mit det Frollein is aba nu ooch schon’n paa Jährchen vorbei“, lallte sie ihm nach. „Nenn Se mir eenfach Lola!“

„Lola?“
Der Lehrer blieb kurz stehen. „Aber so heißen Sie nicht. Ihr Name ist doch Karin, Karin Schubert!“

„Aba Lola passt bessa zu mia! Fin’n Se nich ooch?“

Karsten Briem murmelte ein: „Na, wenn Sie meinen…“, und schloss gleich darauf hinter sich die Wohnungstür.

2 Minuten 50 Sekunden waren vergangen, noch also war Zeit, den Zählerstand in die Excel-Tabelle einzutragen. Der Lehrer stutzte, das konnte nicht sein! Der Verbrauch lag um 4230 Watt höher, als in der Vorwoche. Wie denn, wann denn, dachte er nach. Ich habe doch nichts außer der Reihe getan?! Ein Ablesefehler, analysierte er blitzschnell, es kann nur ein Ablesefehler sein, na klar, was sonst! Er schnellte hoch und eilte in die Küche, noch 1 Minute und 38 Sekunden. Das schaffe ich, wetten? Er riss die Wohnungstür auf – die neue Lola suchte weiter nach ihrem Schlüssel -, rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab, riss den Zählerschrank auf und glaubte seinen Augen nicht: Die Zahlen vor dem Komma stimmten! Im gleichen Augenblick hörte er eine Wohnungstür zuknallen.

„Mein Schlüssel!“, rief er erschrocken und eilte zurück.
„Rums!“, griente die Frau über beide Wangen, „die wär nu ma zu, wa?“
Breitbeinig und immer wieder nach Gleichgewicht suchend, lehnte sie am Geländer.

„Fräulein Schubert! Waren Sie das?“

„Icke? Erlauben Se mal! Ick kann noch nich ma eener Flieeje wat zuleide tun. Icke doch nich!“

„Scheiße!“, entfuhr es dem Physiklehrer, der damit drei Sachen gleichzeitig meinte: die vor sich hin kochenden Eier, den erhöhten Stromverbrauch und die zugeschlagene Wohnungstür. In diesem Moment hörten sie die Sekundenuhr bimmeln. Eiersalat, dachte er, optimistisch gesehen wird das allenfalls noch Eiersalat.

„Fräulein Schubert“, überlegte Karsten Briem laut, „ich habe Ihnen doch vor einiger Zeit meinen Schlüssel anvertraut. Genau für solche Fälle!“

„Kann sein“, murmelte sie müde und setzte sich auf die Treppe zurück.

„Würden Sie mir ihn schnell bringen? Ich habe einen Topf auf dem Herd.“

„Nee!“

„Was heißt hier ‚nee’!?“

„Ick find ja noch nich ma meenen!“, nuschelte sie und reichte ihm die Handtasche. „Hier! Vielleicht ham Se ja mehr Jlück wie icke.“

„Als ich“, verbesserte der Lehrer, „es heißt: als ich!“. Er setzte sich neben die Frau und begann in ihrer Handtasche zu kramen, wunderte sich über die vielen, seiner Meinung nach überflüssigen Dinge, die zusammen ein bizarres Konglomerat ergaben.

„Ist er das hier?“

„Juuuut!“, strahlte die Frau. „Nu müssen Se nur noch de Türe uffschließen und mir ins Bette trajen. Det schaff ick nämlich irgendwie nich.“

„Aber Fräulein Schubert! Sie sind ja betrunken!“

„Ja nu machen Se schon, oder soll ick hier Wurzeln schlajen?“

„Tür aufschließen: ja. Ins Bett schleppen: nein!“

„Und ausziehen müssen Se mir och noch, und zwar janz, oder soll ick etwa in meene Klamotten schlafen? Det könn Se nu ooch wieder nich wolln, oda?“

Karsten Briem schloss ihre Wohnungstür auf, machte im Flur Licht und schaute oberflächlich, ob er seinen Schlüssel irgendwo entdecken könnte.

„Also, wo ist er?“

„Sag ick, wenn Se mir zujedeckt ham. Und een Jutenachtkuss will ick ooch, da besteht meene Persönlichkeit druff… Aber wehe Se varjreifen sich an mir, det will ick nich, det nu jleich jar nich.“
Eine Weile ging er im Hausflur auf und ab, schaute immer wieder in die offene Wohnung. Hatte er eine Wahl?

„Das ist Erpressung, Lola“, raunzte er und hob sie, nachdem er sich nochmals versichert hatte, dass keine anderen Hausbewohner in Sichtweite waren, auf seine Arme.

„Weeß ick doch, aber warum soll ick dir nich een bisschen ausnützen, wo de doch schon ma da bist?“

Er fand das Schlafzimmer, stieß mit dem Fuß die angelehnte Tür auf und legte die Frau auf das Bett, schob ein Kopfkissen zurecht und fragte erneut nach dem Schlüssel.

„Erst mich ausziehen“, flüsterte sie. „Wat schenierste dir denn, haste noch nie ne nackte Frau jesehn? Keene Angst, jebadet hab ick letzten Freitach, da bin ick ja ordentlich, wat det betrifft.“
Lola kicherte und Karsten Briem überlegte, wann er zum letzten Mal eine nackte Frau gesehen hatte.

„Noch nie eine so schöne“, murmelte er, als er ihr Kleid abstreifte. Seine Hände zitterten, als sie ihr Becken hob und er ihren Slip auszog. Dann die Strümpfe. Sie drehte sich zur Seite, er öffnete den BH und entblößte ihre Brüste.

„Noch nie eine so schöne“, flüsterte er in ihr Ohr. „Und wo ist jetzt der Schlüssel?"

„Mir is schlecht“, stöhnte Lola. „Kannste aus'm Bad ’n Eima bring’?“

Der Physiklehrer deckte die Frau zu, ging ins Bad, fand den Eimer und wollte, wie es früher seine Mutter getan hatte, etwas warmes Wasser in den Eimer lassen. Merkwürdig, auch nach einiger Zeit des Wartens blieb das Wasser kalt.
Den Eimer stellte er neben das Bett, fragte:
„Warum wird das Wasser nicht warm?“

„Durchlauferhitza is kaputt“, murmelte Lola, schon halb schlafend. Er küsste sie vorsichtig, fragte zugleich nach dem Schlüssel.
„…Kaffetasse“, war das letzte, was er verstand, wenig später schlief sie schon und schnarchte leise vor sich hin.

Karsten Briem saß auf der Bettkante und dachte nach. Eier auf dem Herd, Abweichung des Stromverbrauchs, kaltes Wasser, Kaffeetasse. War das eine kausale Kette? Und freitags hatte sie gebadet. Wie denn, wenn das Ding kaputt ist? Plötzlich kam ihm eine Idee, die alles erklären könnte. Sollte sie etwa heimlich bei ihm...? Vor Schreck hielt er sich die Hand vor den Mund, sprang aber sofort auf, als ihm seine Frühstückseier einfielen.

‚Kaffeetasse’ hatte sie gesagt. So schwer konnte das ja nicht sein. In irgendeiner musste der Schlüssel liegen. Lange brauchte er nicht zu suchen, der Schlüssel fand sich in einer einzelnen blauen im Küchenschrank. Nochmals warf er einen Blick ins Schlafzimmer, zog die Decke über ihre nackten Schultern und streichelte über ihr Haar. Dann endlich verließ er die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.

Die Eier kochten noch immer, schnell nahm er sie vom Herd und schreckte sie ab. Eiersalat also. Die Exceltabelle speicherte er und schloss die Datei, jetzt, da es eine Erklärung für den erhöhten Stromverbrauch gab. Eine Weile saß er ganz still, spürte etwas Verlorengeglaubtes in seiner Brust aufsteigen. Da lässt sich was draus machen, dachte Karsten Briem und steckte den einzelnen Wohnungsschlüssel in einen Briefumschlag. Dazu schrieb er auf einen Zettel:

„Liebe Frau Lola, solange Sie nicht über warmes Wasser verfügen, können Sie ja bei mir baden. Bis Freitag also!“
 

Wipfel

Mitglied
Ganz herzlichen Dank für die vielen Vorschläge bezüglich der Lola-Rolle. Ihr seid toll! Ja @eisblume, der Karsten Wuttke ist mir da durchgerutscht (eigentlich heißt er Wuttke) - der hat auch noch einen großen Sohn - und an dessen Händen klebt der Meinung des Vaters nach Blut. Den Ort der Handlung habe ich nach Leipzig verlegt - da fällt das Berlinern einer Frau wirklich auf.

Grüße von wipfel
 

ThomasQu

Mitglied
Hallo Herr Wipfel,

deine Geschichte steht zu Recht auf dem Sonnenplatz der LL-Startseite!

Überdenken könntest du den dritten Absatz, der bringt den Text nicht weiter und könnte entsorgt werden.

Vor Er hörte das Quietschen der Haustüre solltest du eine neue Zeile beginnen, das ist wieder eine neue Situation.

Er mochte sie, irgendwie. Das ist erklärend, lass ihn doch bei ihrem Anblick lächeln, osä.

Den Berliner Dialekt deiner Lola/Karin hast du gut getroffen, warum aber spielt dann alles in Leipzig?

Vor Er schnellte hoch … neue Zeile.

Ich finde es gut, dass du die Verlängerung nicht mit angehängt hast. So ist deine Geschichte griffiger.

Viele Grüße,

Thomas
 

Wipfel

Mitglied
Hallo Herr Thomas,

das ist echt eine gute Idee, den dritten Absatz zu streichen - mach ich doch glatt und stelle eine neue Version ein. Auch die anderen Anregungen werde ich gern überdenken. Warum die Geschichte in Leipzig spielt? Zum einen wäre das Berlinern in Berlin nicht der Rede wert. Zum anderen hat Lola ein Engagement am dortigen Theater - es könnte jede andere Stadt sein, nur nicht Berlin. Für den Fortlauf der Geschichte ist Leipzig dann unersetzlich. Stört doch nicht, oder hast du etwas gegen Leipzig?

Grüße von wipfel
 

Wipfel

Mitglied
Freitach wird jebadet

Sonntag in den Sommerferien.
Der Physiklehrer Karsten Briem wachte auf, ohne dass der Wecker geklingelt hätte. Dafür läuteten an diesem Morgen schon zum dritten Mal irgendwelche Glocken. Leipzig eben. Er rieb sich die Augen, schlüpfte in seine Pantoffeln und hing für Augenblicke Traumfetzen nach. Ach was, dachte er, Träume sind Schäume. Heute ist ein freier Tag, der nach Gestaltung verlangt. „Denn was wäre die Freiheit wert“, wiederholte er nun laut einen seiner selbstverfassten Leitsätze, „würde sie nicht von ihrer Schwester begleitet, der Disziplin.“

Etwas später stand er geduscht und rasiert in der Küche, ein frisches Hemd hatte er sich herausgesucht, diesmal ein grüngelbgestreiftes, passend zur Jahreszeit. Karsten Briem bereitete sich das Frühstück, heute mit dem berühmten Briemschen Frühstücksei.
Tatsächlich hatte er vor Jahren einen Aufsatz darüber verfasst, wie es jedermann gelingen könnte, das perfekte Frühstücksei zu kochen, immer und an jedem Ort der Welt. Das Geheimnis liege in der gleichzeitigen Beachtung der Höhe des Kochortes über dem Meeresspiegel und dem eigentlichen Ei-Gewicht. Die daraus resultierende Kochzeit hatte er für drei verschiedene Geschmacksstufen in einer übersichtlichen Tabelle erfasst und versucht, diese an Frauenzeitschriften zu verkaufen – doch eine nach der anderen hatte abgelehnt.

Das alles war inzwischen Jahre her, jetzt galt es, das Ei zu wiegen und danach die perfekte Kochzeit auf dem Sekundenwecker einzustellen. 6 Minuten, 7 Sekunden. Der Tisch war gedeckt, die Toastscheibe im Toaster, es war also noch Zeit. Zeit, die man nutzen konnte - wie jeden Sonntag.

Karsten Briem ging in sein Arbeitszimmer, schaltete den alten Rechner an – der brauchte zum Hochfahren 2 Minuten und 30 Sekunden -, nahm den schon am Vorabend zurecht gelegten Zettel vom Schreibtisch, dazu einen Stift, schaute auf seine Uhr und ging mit großen Schritten zur Wohnungstür. Im Vorbeigehen griff er nach dem Schlüssel und lief die Treppe hinab, in den Keller. Hier öffnete er die Blechtür des Zählerschranks, und notierte die sechs Ziffern vor und die eine nach dem Komma, die Zählerscheibe drehte sich nur langsam, die Welt schien in bester Ordnung. Er hörte das Quietschen der Haustür, sah wieder auf die Uhr. Dann ein Poltern. Jetzt also kommt sie erst nach Hause, dachte der Lehrer, ach von mir aus, soll sie doch. Wir waren alle einmal jung. Er schloss den Schrank und stieg die Treppe hinauf.

„Guten Morgen, Fräulein Schubert“, grüßte er höflich die Person, die in einem kurzen dunkelblauen Kleid auf der Treppe saß und in ihrer Handtasche offensichtlich nach dem Schlüssel suchte. Er mochte sie, irgendwie.

„Det mit det Frollein is aba nu ooch schon’n paa Jährchen vorbei“, lallte sie ihm nach. „Nenn Se mir eenfach Lola!“

„Lola?“
Der Lehrer blieb kurz stehen. „Aber so heißen Sie nicht. Ihr Name ist doch Karin, Karin Schubert!“

„Aba Lola passt bessa zu mia! Fin’n Se nich ooch?“

Karsten Briem murmelte ein: „Na, wenn Sie meinen…“, und schloss gleich darauf hinter sich die Wohnungstür.

2 Minuten 50 Sekunden waren vergangen, noch also war Zeit, den Zählerstand in die Excel-Tabelle einzutragen. Der Lehrer stutzte, das konnte nicht sein! Der Verbrauch lag um 4230 Watt höher, als in der Vorwoche. Wie denn, wann denn, dachte er nach. Ich habe doch nichts außer der Reihe getan?! Ein Ablesefehler, analysierte er blitzschnell, es kann nur ein Ablesefehler sein, na klar, was sonst! Er schnellte hoch und eilte in die Küche, noch 1 Minute und 38 Sekunden. Das schaffe ich, wetten? Er riss die Wohnungstür auf – die neue Lola suchte weiter nach ihrem Schlüssel -, rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinab, riss den Zählerschrank auf und glaubte seinen Augen nicht: Die Zahlen vor dem Komma stimmten! Im gleichen Augenblick hörte er eine Wohnungstür zuknallen.

„Mein Schlüssel!“, rief er erschrocken und eilte zurück.
„Rums!“, griente die Frau über beide Wangen, „die wär nu ma zu, wa?“
Breitbeinig und immer wieder nach Gleichgewicht suchend, lehnte sie am Geländer.

„Fräulein Schubert! Waren Sie das?“

„Icke? Erlauben Se mal! Ick kann noch nich ma eener Flieeje wat zuleide tun. Icke doch nich!“

„Scheiße!“, entfuhr es dem Physiklehrer, der damit drei Sachen gleichzeitig meinte: die vor sich hin kochenden Eier, den erhöhten Stromverbrauch und die zugeschlagene Wohnungstür. In diesem Moment hörten sie die Sekundenuhr bimmeln. Eiersalat, dachte er, optimistisch gesehen wird das allenfalls noch Eiersalat.

„Fräulein Schubert“, überlegte Karsten Briem laut, „ich habe Ihnen doch vor einiger Zeit meinen Schlüssel anvertraut. Genau für solche Fälle!“

„Kann sein“, murmelte sie müde und setzte sich auf die Treppe zurück.

„Würden Sie mir ihn schnell bringen? Ich habe einen Topf auf dem Herd.“

„Nee!“

„Was heißt hier ‚nee’!?“

„Ick find ja noch nich ma meenen!“, nuschelte sie und reichte ihm die Handtasche. „Hier! Vielleicht ham Se ja mehr Jlück wie icke.“

„Als ich“, verbesserte der Lehrer, „es heißt: als ich!“. Er setzte sich neben die Frau und begann in ihrer Handtasche zu kramen, wunderte sich über die vielen, seiner Meinung nach überflüssigen Dinge, die zusammen ein bizarres Konglomerat ergaben.

„Ist er das hier?“

„Juuuut!“, strahlte die Frau. „Nu müssen Se nur noch de Türe uffschließen und mir ins Bette trajen. Det schaff ick nämlich irgendwie nich.“

„Aber Fräulein Schubert! Sie sind ja betrunken!“

„Ja nu machen Se schon, oder soll ick hier Wurzeln schlajen?“

„Tür aufschließen: ja. Ins Bett schleppen: nein!“

„Und ausziehen müssen Se mir och noch, und zwar janz, oder soll ick etwa in meene Klamotten schlafen? Det könn Se nu ooch wieder nich wolln, oda?“

Karsten Briem schloss ihre Wohnungstür auf, machte im Flur Licht und schaute oberflächlich, ob er seinen Schlüssel irgendwo entdecken könnte.

„Also, wo ist er?“

„Sag ick, wenn Se mir zujedeckt ham. Und een Jutenachtkuss will ick ooch, da besteht meene Persönlichkeit druff… Aber wehe Se varjreifen sich an mir, det will ick nich, det nu jleich jar nich.“
Eine Weile ging er im Hausflur auf und ab, schaute immer wieder in die offene Wohnung. Hatte er eine Wahl?

„Das ist Erpressung, Lola“, raunzte er und hob sie, nachdem er sich nochmals versichert hatte, dass keine anderen Hausbewohner in Sichtweite waren, auf seine Arme.

„Weeß ick doch, aber warum soll ick dir nich een bisschen ausnützen, wo de doch schon ma da bist?“

Er fand das Schlafzimmer, stieß mit dem Fuß die angelehnte Tür auf und legte die Frau auf das Bett, schob ein Kopfkissen zurecht und fragte erneut nach dem Schlüssel.

„Erst mich ausziehen“, flüsterte sie. „Wat schenierste dir denn, haste noch nie ne nackte Frau jesehn? Keene Angst, jebadet hab ick letzten Freitach, da bin ick ja ordentlich, wat det betrifft.“
Lola kicherte und Karsten Briem überlegte, wann er zum letzten Mal eine nackte Frau gesehen hatte.

„Noch nie eine so schöne“, murmelte er, als er ihr Kleid abstreifte. Seine Hände zitterten, als sie ihr Becken hob und er ihren Slip auszog. Dann die Strümpfe. Sie drehte sich zur Seite, er öffnete den BH und entblößte ihre Brüste.

„Noch nie eine so schöne“, flüsterte er in ihr Ohr. „Und wo ist jetzt der Schlüssel?"

„Mir is schlecht“, stöhnte Lola. „Kannste aus'm Bad ’n Eima bring’?“

Der Physiklehrer deckte die Frau zu, ging ins Bad, fand den Eimer und wollte, wie es früher seine Mutter getan hatte, etwas warmes Wasser in den Eimer lassen. Merkwürdig, auch nach einiger Zeit des Wartens blieb das Wasser kalt.
Den Eimer stellte er neben das Bett, fragte:
„Warum wird das Wasser nicht warm?“

„Durchlauferhitza is kaputt“, murmelte Lola, schon halb schlafend. Er küsste sie vorsichtig, fragte zugleich nach dem Schlüssel.
„…Kaffetasse“, war das letzte, was er verstand, wenig später schlief sie schon und schnarchte leise vor sich hin.

Karsten Briem saß auf der Bettkante und dachte nach. Eier auf dem Herd, Abweichung des Stromverbrauchs, kaltes Wasser, Kaffeetasse. War das eine kausale Kette? Und freitags hatte sie gebadet. Wie denn, wenn das Ding kaputt ist? Plötzlich kam ihm eine Idee, die alles erklären könnte. Sollte sie etwa heimlich bei ihm...? Vor Schreck hielt er sich die Hand vor den Mund, sprang aber sofort auf, als ihm seine Frühstückseier einfielen.

‚Kaffeetasse’ hatte sie gesagt. So schwer konnte das ja nicht sein. In irgendeiner musste der Schlüssel liegen. Lange brauchte er nicht zu suchen, der Schlüssel fand sich in einer einzelnen blauen im Küchenschrank. Nochmals warf er einen Blick ins Schlafzimmer, zog die Decke über ihre nackten Schultern und streichelte über ihr Haar. Dann endlich verließ er die Wohnung und zog die Tür hinter sich zu.

Die Eier kochten noch immer, schnell nahm er sie vom Herd und schreckte sie ab. Eiersalat also. Die Exceltabelle speicherte er und schloss die Datei, jetzt, da es eine Erklärung für den erhöhten Stromverbrauch gab. Eine Weile saß er ganz still, spürte etwas Verlorengeglaubtes in seiner Brust aufsteigen. Da lässt sich was draus machen, dachte Karsten Briem und steckte den einzelnen Wohnungsschlüssel in einen Briefumschlag. Dazu schrieb er auf einen Zettel:

„Liebe Frau Lola, solange Sie nicht über warmes Wasser verfügen, können Sie ja bei mir baden. Bis Freitag also!“
 



 
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