Karl Feldkamp
Mitglied
Am Tag davor fehlten mir noch fast alle Worte. Bevor ich schrie, reichten sie gerade für meine Frage: Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen? Aber nur für diese Frage und nicht für eine Antwort.
Deutsch war meine Muttersprache. Richtiges Deutsch. Und ich wollte die deutsche Sprache sprechen, als Sohnsprache, auch wenn ich schon über dreißig war.
Reden mit hamburghanseatisch-katholischen Vokabeln lernte ich angeblich ebenso schnell, wie nicht mehr in die Windeln zu machen. „Nein war dein allererstes Wort“, behauptete meine Mutter. „Nein und nicht, wie bei normalen Kindern: Mama! Aber ich wollte ja auch gar nicht Mama heißen.“
Was ich an Gedanken und Worten lernte, war nicht frei von nationalsozialistischen Einsprengseln, die mir als Kriegsgeburt an der Wiege nicht nur gesungen wurden und die in den Nachweltkriegsjahren noch nicht deutsch-demokratischen Wortschöpfungen gewichen waren. Anglizismen gehörten dazu. Nein, eigentlich Amerikanismen. Die kamen per Luftfracht für die hungernde deutsche Nachkriegsbevölkerung in Care-Paketen voll goldgelbem Chester-Käse, Ei- und Milchpulver. Nichts davon schmeckte mir.
Mein von mir verehrter und schon erstaunlich demokratisch denkender und handelnder Deutschlehrer im Gymnasium versuchte, mir das bis dahin mäßig verbreitete Denglisch auszutreiben. Doch wer konnte es schon mit Coca Cola, Kaugummi, Elvis Presley und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufnehmen?
Vom Lateinlehrer, einem ehemaligen Luftwaffen-Oberst erntete ich Lob, wenn ich die im Gymnasium gebräuchlichen lateinstämmigen Fremdworte zu übersetzen wusste. Meine Mutter, ehemalige Mittelschülerin und später Laborantin in der Hirsch-Apotheke, kannte eine Menge lateinstämmiger medizinischer Fachausdrücke, konnte sie aber nicht übersetzen. Den Mitschülern gegenüber war mir meine ungebildete Mutter peinlich. Und mein Vater verstand ohnehin nicht, was ich auf dem Gymnasium wollte. Schließlich hätte er auch kein Abitur nötig gehabt und würde jetzt immerhin eine eigene Tischlerei haben.
Die Muttersprachenmischung war einfach nicht meine. Nachdem ich, meinem Vater doch noch gehorchend, das Gymnasium ohne Abitur verließ, begann ich zu schreiben und entdeckte, als ich mir meine Prosatexte und lyrischen Ergüsse vorlas, zwar immer wieder meine Themen aber keinen unverkennbar eigenen Stil. Ich experimentierte mit der Sprache. Doch meine Versuche brachten Gewolltes und kaum Spezifisches hervor.
Spät, erst mit siebenundzwanzig, lernte ich Marlene kennen und half ihr, sich von ihrem ungeliebten Mann zu trennen, um mit ihr zusammenzuleben. Aus einem Anlass, an den ich mich nicht mehr erinnere, behauptete sie wenige Monate nach der Trennung von ihrem in den Niederlanden geborenen Ehemaligem, ich könne zwar anderen Menschen helfen, ein Selbstverständnis zu entwickeln, sei jedoch nicht in der Lage, mich selbst zu verstehen.
Umso leidenschaftlicher machte ich mich auf die Suche nach meiner Sprache, einer, die ich verstehen und mit der ich mich verständlich machen wollte.
Aber je länger wir uns kannten, desto weniger verstand Marlene mich, und das, obwohl ich mich sehr bemühte, ihre Sprache zu sprechen.
Immer wieder versicherte ich ihr, vor allem sie und nur sie verstehen zu wollen.
Genau das sei es ja, meinte sie ausgerechnet an meinem dreißigsten Geburtstag. „Frauenversteher sind unverständliche Männer!“ Es waren Abschiedsworte. Sie verließ unsere gemeinsame Wohnung, kam mir Tage darauf auf dem Gehweg entgegen, wechselte, als sie mich entdeckte, hastig die Straßenseite und sah weg.
„Zum totalen Schweigen musst du zurück, um deine Sprache neu zu erfinden.“ Ich weiß nicht, woher ich diesen Satz kannte. Vermutlich von meiner damaligen inneren Stimme oder von einer erträumten Person. Auf jeden Fall von einer Frau. Mein Gedächtnis gehorchte dem Satz. Und so fehlten mir immer häufiger Worte, um zu sagen, was ich dachte und fühlte. Und ich erwischte mich dabei, geträumte für reale Ereignisse zu halten. Noch wenige Nächte vor jenem Tag verprügelte ich im Traum eine mir unbekannte Frau. Blutend lag sie vor mir auf dem Straßenpflaster, obwohl ich mir absolut sicher war, mich als Erwachsener bis dahin nie geprügelt zu haben. Frauen zu schlagen war mir ohnehin unvorstellbar. Doch Träume können bekanntlich auch Wunschträume sein.
Provoziert wird sie mich haben. Mit irgendeiner verächtlichen Bemerkung.
Früher in der Schule hatte ich ein besonders attraktives, aber eingebildetes Mädchen an ihrem blonden Zopf zu Boden gerissen. Sie, eine Komtess von Eichenhain, wohnte im Herrenhaus auf einem holsteinischen Gutshof. Ihr abschätziger Blick machte mich ebenso rasend, wie ihre Art zu fragen, was denn mein Vater eigentlich noch mal gewesen sei? „Tischler. Oder so?“ Dann winkte sie müde lässig mit der linken Hand ab.
An ihrem langen Zopf zerrte ich sie auf dem Schulhof ein Stück hinter mir her, bis sie mit ihrem Gezeter die Aufsicht führende Lehrerin herbeilockte. Die schlug mich. Mitten ins Gesicht. Und sie bestellte meine Mutter zu sich in die Schule.
Als ich nach Hause kam, schrie mich meine Mutter an, ich solle meine Finger gefälligst von Mädchen aus gutem Hause lassen. Und kaum war mein Vater abends aus seiner Tischlerei zurückgekehrt, setzte es eine Tracht Prügel, da ich weder Mädchen zu schlagen noch meine Mutter eine blöde Kuh zu nennen hätte.
Als Zehnjährige - damals trug meine Mutter auch ihre blonden Haare zum Zopf geflochten – war sie im Rahmen einer Kinderverschickungsmaßnahme auf dem Schloss einer Grafenfamilie einquartiert. Seitdem gab sie sich alle Mühe, Verhaltensweisen zu zeigen, die sie für vornehm hielt. Und auch mir wollte sie Manieren beibringen.
Das ging weit über Anweisungen hinaus, stets in ganzen Sätzen zu reden und immer schön bitte und danke zu sagen. „Nein, Frau Mutter, heißt das, mein Junge!“ belehrte sie mich.
Als sie mich zum ersten Mal „Arschloch“ und „Scheiße“ sagen hörte, rang sie nach Luft und ihre Aufforderung, in ganzen Sätzen zu reden, fiel einem ihrer heftigen Erstickungsanfälle zum Opfer. Die Prügel, die ich mir, als mein Vater nach Hause kam, abzuholen hatte, fiel kurz und sanft aus, da er meinte, ein richtiger Mann müsse nun mal richtig fluchen können. Er konnte es. Und meine Mutter zuckte jedes Mal zusammen, denn Anlässe ausgiebig zu fluchen, fand er genug. Wenn sie das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch stehen hatte, wenn er eines seiner Hemden nicht fand, weil sie den Kleiderschrank aufgeräumt hatte oder wenn er auf dem frisch gebohnerten Holzboden im Wohnzimmer ausrutschte, da er auf Strümpfen herumlief, um mit seinen schwarzen Schuhen keine Striche auf dem hellen Buchenholz-Boden des Wohnzimmer zu hinterlassen.
„Ich finde deine Ausdrucksweise nicht so glücklich!“ ließ meine Mutter ihn wissen und in ihren wässrigen Augen schwamm eine gehörige Portion Verachtung.
„Dann finde sie eben unglücklich!“ Mein Vater lachte laut und dreckig.
Inzwischen war ich allein in ein kleines Appartement gezogen und „Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen?“ wurde meine ständige und einzige Frage.
Mein übriger Wortschatz reichte gerade, um in Geschäften einzukaufen, in denen Männer bedienten. Ansonsten zog ich Selbstbedienungsläden vor. Dort konnte ich mir wortlos Waren aus den Regalen nehmen und sie ebenso wortlos an der Kasse bezahlen.
Ich schlief immer schlechter und so wenig, dass mir schließlich keine Zeit mehr für Träume blieb. Wach lag ich und versuchte meine Gedanken in unbekannte Gedankengänge zu entführen. Sah ich Licht am Ende der Gänge, begann ich schneller zu denken, so schnell, dass ich nicht mehr daran denken konnte, ungewöhnlich zu denken. Und meine Frage blieb: Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?
Natürlich verlor ich auch meine Arbeit.
Als Mitarbeiter einer Versicherung musste ich nur Worte in die Schreibmaschinentastatur tippen und konnte diese Arbeit schweigend verrichten. Doch auch für manche Briefe gingen mir die richtigen Worte aus.
Von Tag zu Tag wurde es stiller in mir. Meine innere Stimme kannte schließlich nur noch „Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Ich verließ kaum noch meine kleine Wohnung, horchte in mich hinein, wartete und hatte keine Ahnung, auf wen oder was.
Warum ich gerade an jenem Morgen die Wohnung verließ, weiß ich heute nicht mehr. Weder wollte ich zum Einkaufen, noch musste ich einen unbedingt notwendigen Behördengang erledigen.
Mit der S-Bahn fuhr ich hinaus, ging an die Elbe und setzte mich auf eine Holzbank auf dem Elbdeich. Die Sonne stand halbhoch am Himmel, ließ den Fluss glitzern und die weißen Schiffsaufbauten leuchten.
Die Ellenbogen auf den Oberschenkeln, den Kopf zwischen den Händen saß ich und starrte auf die Erde. Kleine schwarze Ameisen folgten einer ihrer Straßen, die flussaufwärts führte und einen guten Meter rechts von der Bank in einer Grasnarbe verschwand.
Gelegentlich passierte ein Radfahrer den Deichweg und warf für Sekundenbruchteile seinen Schatten auf mich. Als ich aufblickte, war sie noch ziemlich weit weg und ging gerade ein paar Schritte in meine Richtung, blieb stehen, sah sich um, setzte ihren Weg langsam fort, um wieder stehen zu bleiben. Bald war sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt, lächelte, wedelte mit der rechten Hand über ihrem blondhaarigen Kopf herum und kam auf mich zu. „Darf ich mich setzen?“
Wortlos rückte ich zur Seite.
„Inga Maria.“ Stellte sie sich vor.
„Nein“, antwortete ich leise und stotterte. „Und wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Sie zuckte mit den Schultern, verzog ihren breiten Mund in ihrem breiten Gesicht zu einem noch viel breiteren Lächeln, setzte sich und versuchte mir in die Augen zu sehen. „Schrei doch endlich. Ja, schrei!“
Deutsch war meine Muttersprache. Richtiges Deutsch. Und ich wollte die deutsche Sprache sprechen, als Sohnsprache, auch wenn ich schon über dreißig war.
Reden mit hamburghanseatisch-katholischen Vokabeln lernte ich angeblich ebenso schnell, wie nicht mehr in die Windeln zu machen. „Nein war dein allererstes Wort“, behauptete meine Mutter. „Nein und nicht, wie bei normalen Kindern: Mama! Aber ich wollte ja auch gar nicht Mama heißen.“
Was ich an Gedanken und Worten lernte, war nicht frei von nationalsozialistischen Einsprengseln, die mir als Kriegsgeburt an der Wiege nicht nur gesungen wurden und die in den Nachweltkriegsjahren noch nicht deutsch-demokratischen Wortschöpfungen gewichen waren. Anglizismen gehörten dazu. Nein, eigentlich Amerikanismen. Die kamen per Luftfracht für die hungernde deutsche Nachkriegsbevölkerung in Care-Paketen voll goldgelbem Chester-Käse, Ei- und Milchpulver. Nichts davon schmeckte mir.
Mein von mir verehrter und schon erstaunlich demokratisch denkender und handelnder Deutschlehrer im Gymnasium versuchte, mir das bis dahin mäßig verbreitete Denglisch auszutreiben. Doch wer konnte es schon mit Coca Cola, Kaugummi, Elvis Presley und dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten aufnehmen?
Vom Lateinlehrer, einem ehemaligen Luftwaffen-Oberst erntete ich Lob, wenn ich die im Gymnasium gebräuchlichen lateinstämmigen Fremdworte zu übersetzen wusste. Meine Mutter, ehemalige Mittelschülerin und später Laborantin in der Hirsch-Apotheke, kannte eine Menge lateinstämmiger medizinischer Fachausdrücke, konnte sie aber nicht übersetzen. Den Mitschülern gegenüber war mir meine ungebildete Mutter peinlich. Und mein Vater verstand ohnehin nicht, was ich auf dem Gymnasium wollte. Schließlich hätte er auch kein Abitur nötig gehabt und würde jetzt immerhin eine eigene Tischlerei haben.
Die Muttersprachenmischung war einfach nicht meine. Nachdem ich, meinem Vater doch noch gehorchend, das Gymnasium ohne Abitur verließ, begann ich zu schreiben und entdeckte, als ich mir meine Prosatexte und lyrischen Ergüsse vorlas, zwar immer wieder meine Themen aber keinen unverkennbar eigenen Stil. Ich experimentierte mit der Sprache. Doch meine Versuche brachten Gewolltes und kaum Spezifisches hervor.
Spät, erst mit siebenundzwanzig, lernte ich Marlene kennen und half ihr, sich von ihrem ungeliebten Mann zu trennen, um mit ihr zusammenzuleben. Aus einem Anlass, an den ich mich nicht mehr erinnere, behauptete sie wenige Monate nach der Trennung von ihrem in den Niederlanden geborenen Ehemaligem, ich könne zwar anderen Menschen helfen, ein Selbstverständnis zu entwickeln, sei jedoch nicht in der Lage, mich selbst zu verstehen.
Umso leidenschaftlicher machte ich mich auf die Suche nach meiner Sprache, einer, die ich verstehen und mit der ich mich verständlich machen wollte.
Aber je länger wir uns kannten, desto weniger verstand Marlene mich, und das, obwohl ich mich sehr bemühte, ihre Sprache zu sprechen.
Immer wieder versicherte ich ihr, vor allem sie und nur sie verstehen zu wollen.
Genau das sei es ja, meinte sie ausgerechnet an meinem dreißigsten Geburtstag. „Frauenversteher sind unverständliche Männer!“ Es waren Abschiedsworte. Sie verließ unsere gemeinsame Wohnung, kam mir Tage darauf auf dem Gehweg entgegen, wechselte, als sie mich entdeckte, hastig die Straßenseite und sah weg.
„Zum totalen Schweigen musst du zurück, um deine Sprache neu zu erfinden.“ Ich weiß nicht, woher ich diesen Satz kannte. Vermutlich von meiner damaligen inneren Stimme oder von einer erträumten Person. Auf jeden Fall von einer Frau. Mein Gedächtnis gehorchte dem Satz. Und so fehlten mir immer häufiger Worte, um zu sagen, was ich dachte und fühlte. Und ich erwischte mich dabei, geträumte für reale Ereignisse zu halten. Noch wenige Nächte vor jenem Tag verprügelte ich im Traum eine mir unbekannte Frau. Blutend lag sie vor mir auf dem Straßenpflaster, obwohl ich mir absolut sicher war, mich als Erwachsener bis dahin nie geprügelt zu haben. Frauen zu schlagen war mir ohnehin unvorstellbar. Doch Träume können bekanntlich auch Wunschträume sein.
Provoziert wird sie mich haben. Mit irgendeiner verächtlichen Bemerkung.
Früher in der Schule hatte ich ein besonders attraktives, aber eingebildetes Mädchen an ihrem blonden Zopf zu Boden gerissen. Sie, eine Komtess von Eichenhain, wohnte im Herrenhaus auf einem holsteinischen Gutshof. Ihr abschätziger Blick machte mich ebenso rasend, wie ihre Art zu fragen, was denn mein Vater eigentlich noch mal gewesen sei? „Tischler. Oder so?“ Dann winkte sie müde lässig mit der linken Hand ab.
An ihrem langen Zopf zerrte ich sie auf dem Schulhof ein Stück hinter mir her, bis sie mit ihrem Gezeter die Aufsicht führende Lehrerin herbeilockte. Die schlug mich. Mitten ins Gesicht. Und sie bestellte meine Mutter zu sich in die Schule.
Als ich nach Hause kam, schrie mich meine Mutter an, ich solle meine Finger gefälligst von Mädchen aus gutem Hause lassen. Und kaum war mein Vater abends aus seiner Tischlerei zurückgekehrt, setzte es eine Tracht Prügel, da ich weder Mädchen zu schlagen noch meine Mutter eine blöde Kuh zu nennen hätte.
Als Zehnjährige - damals trug meine Mutter auch ihre blonden Haare zum Zopf geflochten – war sie im Rahmen einer Kinderverschickungsmaßnahme auf dem Schloss einer Grafenfamilie einquartiert. Seitdem gab sie sich alle Mühe, Verhaltensweisen zu zeigen, die sie für vornehm hielt. Und auch mir wollte sie Manieren beibringen.
Das ging weit über Anweisungen hinaus, stets in ganzen Sätzen zu reden und immer schön bitte und danke zu sagen. „Nein, Frau Mutter, heißt das, mein Junge!“ belehrte sie mich.
Als sie mich zum ersten Mal „Arschloch“ und „Scheiße“ sagen hörte, rang sie nach Luft und ihre Aufforderung, in ganzen Sätzen zu reden, fiel einem ihrer heftigen Erstickungsanfälle zum Opfer. Die Prügel, die ich mir, als mein Vater nach Hause kam, abzuholen hatte, fiel kurz und sanft aus, da er meinte, ein richtiger Mann müsse nun mal richtig fluchen können. Er konnte es. Und meine Mutter zuckte jedes Mal zusammen, denn Anlässe ausgiebig zu fluchen, fand er genug. Wenn sie das Essen nicht rechtzeitig auf dem Tisch stehen hatte, wenn er eines seiner Hemden nicht fand, weil sie den Kleiderschrank aufgeräumt hatte oder wenn er auf dem frisch gebohnerten Holzboden im Wohnzimmer ausrutschte, da er auf Strümpfen herumlief, um mit seinen schwarzen Schuhen keine Striche auf dem hellen Buchenholz-Boden des Wohnzimmer zu hinterlassen.
„Ich finde deine Ausdrucksweise nicht so glücklich!“ ließ meine Mutter ihn wissen und in ihren wässrigen Augen schwamm eine gehörige Portion Verachtung.
„Dann finde sie eben unglücklich!“ Mein Vater lachte laut und dreckig.
Inzwischen war ich allein in ein kleines Appartement gezogen und „Wer bin ich eigentlich, wer und was wollte ich noch sagen?“ wurde meine ständige und einzige Frage.
Mein übriger Wortschatz reichte gerade, um in Geschäften einzukaufen, in denen Männer bedienten. Ansonsten zog ich Selbstbedienungsläden vor. Dort konnte ich mir wortlos Waren aus den Regalen nehmen und sie ebenso wortlos an der Kasse bezahlen.
Ich schlief immer schlechter und so wenig, dass mir schließlich keine Zeit mehr für Träume blieb. Wach lag ich und versuchte meine Gedanken in unbekannte Gedankengänge zu entführen. Sah ich Licht am Ende der Gänge, begann ich schneller zu denken, so schnell, dass ich nicht mehr daran denken konnte, ungewöhnlich zu denken. Und meine Frage blieb: Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?
Natürlich verlor ich auch meine Arbeit.
Als Mitarbeiter einer Versicherung musste ich nur Worte in die Schreibmaschinentastatur tippen und konnte diese Arbeit schweigend verrichten. Doch auch für manche Briefe gingen mir die richtigen Worte aus.
Von Tag zu Tag wurde es stiller in mir. Meine innere Stimme kannte schließlich nur noch „Wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Ich verließ kaum noch meine kleine Wohnung, horchte in mich hinein, wartete und hatte keine Ahnung, auf wen oder was.
Warum ich gerade an jenem Morgen die Wohnung verließ, weiß ich heute nicht mehr. Weder wollte ich zum Einkaufen, noch musste ich einen unbedingt notwendigen Behördengang erledigen.
Mit der S-Bahn fuhr ich hinaus, ging an die Elbe und setzte mich auf eine Holzbank auf dem Elbdeich. Die Sonne stand halbhoch am Himmel, ließ den Fluss glitzern und die weißen Schiffsaufbauten leuchten.
Die Ellenbogen auf den Oberschenkeln, den Kopf zwischen den Händen saß ich und starrte auf die Erde. Kleine schwarze Ameisen folgten einer ihrer Straßen, die flussaufwärts führte und einen guten Meter rechts von der Bank in einer Grasnarbe verschwand.
Gelegentlich passierte ein Radfahrer den Deichweg und warf für Sekundenbruchteile seinen Schatten auf mich. Als ich aufblickte, war sie noch ziemlich weit weg und ging gerade ein paar Schritte in meine Richtung, blieb stehen, sah sich um, setzte ihren Weg langsam fort, um wieder stehen zu bleiben. Bald war sie nur noch wenige Schritte von mir entfernt, lächelte, wedelte mit der rechten Hand über ihrem blondhaarigen Kopf herum und kam auf mich zu. „Darf ich mich setzen?“
Wortlos rückte ich zur Seite.
„Inga Maria.“ Stellte sie sich vor.
„Nein“, antwortete ich leise und stotterte. „Und wer bin ich eigentlich, wer oder was wollte ich noch sagen?“
Sie zuckte mit den Schultern, verzog ihren breiten Mund in ihrem breiten Gesicht zu einem noch viel breiteren Lächeln, setzte sich und versuchte mir in die Augen zu sehen. „Schrei doch endlich. Ja, schrei!“