Frische Lorbeeren

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Pesse

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Frische Lorbeeren

„Hallo? Hallo Annabell, kannst du mich hören?“
„Ruhe jetzt, Tom. Ich kann dich hören, genau so wie ich dich beim Test hören konnte.“
„Ist ja ok.“ Für einen Moment schwieg der kleine Empfänger in ihrem Ohr.
„Annabell?“
„Was ist denn noch?“ Die Stimme der Kommissarin nahm eine Spur an Gereiztheit zu. Sie erreichte jetzt das Gartentor und versuchte, den Namen an dem von Wind und Wetter mitgenommenen Klingelschild zu entziffern.
„Sei bitte vorsichtig und … riskier nichts, ok?“
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der schlanken Frau. Ihre Stimme klang nun viel sanfter.
„Ich versprech’s dir.“
Obwohl sie den Namen nicht einwandfrei hatte entziffern können, drückte sie fest auf den Klingelknopf und zog dann ihren Ledermantel ein wenig enger um sich. Es musste dieses Haus sein. Die Adresse stimmte und es stimmte mit seinen Beschreibungen überein. Ein hübsches, weiß getünchtes, zweistöckiges Gebäude, das sich in einem weitläufigen Garten versteckte.
Der Summer des Gartentors ertönte, ohne dass sich jemand an der Gegensprechanlage gemeldet hatte. Eine Spur zu energisch drückte Annabell Pfeifer die Tür nach innen und rief sich sofort zur Ordnung. Sie spürte, wie sich ihr Puls erhöhte, als sie in flotter Geschwindigkeit dem Kiesweg durch den Garten folgte. Das unleserliche Klingelschild musste wohl ein Versehen sein, denn das gesamte Grundstück wirkte außerordentlich gepflegt und ordentlich.
Angestrengt musterte die Polizistin ihre Umgebung und versuchte sich, möglichst viel einzuprägen. Ihr Blick blieb an einem der großen Fenster hängen, hinter dem sie eine Bewegung wahrgenommen zu haben glaubte. Beobachtet er mich etwa? schoss es ihr durch den Kopf und sofort ließ sie ein neugieriges, aber unbeschwertes Lächeln auf ihrem Gesicht erscheinen.
Die Haustür wurde geöffnet, als sie gerade die Treppe zu der kleinen Veranda erreicht hatte. Lächelnd warf sie ihr Haar mit einer Kopfbewegung nach hinten und stieg ohne zu zögern die Stufen hinauf.
Der Mann, der in der Türöffnung erschien, lächelte charmant und machte eine einladende Geste nach drinnen. Er trug einen dunkelblauen Anzug, darunter ein weißes Hemd.
„Nur herein, nur herein.“
Sein Lächeln legte eine Reihe strahlend weißer Zähne frei und seine dunklen Augen strahlten eine beinah magische Wärme aus, die normalerweise jegliche Spannung augenblicklich beseitigt hätte.
„Vielen Dank für die Einladung, Herr Chavez.“
Beinahe hätte sie einen anerkennenden Pfiff ausgestoßen: eine durch und durch gepflegte Erscheinung. Perfekt sitzende Frisur, der Kragen genau dort, wo er sein sollte, saubere, ordentlich geschnittene Fingernägel.
„Bitte nennen Sie mich irgendwie anders, aber ‚Herr Chavez’ hört sich schrecklich alt an.“
Sie trat ein und sofort war er hinter ihr um ihr galant den Mantel abzunehmen.
„So, wie soll ich Sie denn dann nennen?“
Sie grinste verschmitzt und ließ ihre Augen schelmisch blitzen. Es war wirklich kein Wunder, dass Maria und die anderen auf den Kerl herein gefallen waren. Bestimmt hatte er leichtes Spiel mit ihnen gehabt. Ein bitterer Geschmack stieg in der Ermittlerin auf, doch sie hielt ihre Maskerade aufrecht.
„Ich heiße Wolfgang.“
Er zuckte mit den Schultern und blickte sie entschuldigend an.
„Ich persönlich hätte mir einen schöneren Namen ausgesucht.“ Zwinkernd drehte er sich um, um ihren Mantel auf einen Bügel zu hängen.
„Ok, Wolfgang. Ich heiße Annabell.“
„Ein wirklich schöner Name.“ erwiderte er mit dem Rücken zu ihr.
Mit einigen geschulten Blicken analysierte sie ihre Umgebung. In einer Ecke des in hellem braun gehaltenen Eingangsbereichs entdeckte sie Hausschuhe, wahrscheinlich für Gäste. Sie würde ihm nicht den Gefallen tun, ihr festes Schuhwerk gegen diese Stolperfallen einzutauschen und er war mit Sicherheit zu höflich, sie darauf hinzuweisen, ihre Schuhe auszuziehen.
„Ein schönes Haus …“ sagte sie, um nicht der Stille ausgesetzt zu sein, die ihre innere Unruhe verstärken würde. Reiß dich zusammen! Du bist hier, um dich zu amüsieren!
„Ich liebe es, muss ich gestehen“ erwiderte Chavez, der noch mit ihrem Mantel beschäftigt war. Schlendernd ging sie auf die Glastür zu, die den Eingangsbereich mit dem Rest des Hauses verband.
„Ich hatte das Glück, es vor vier Jahren zu einem günstigen Preis zu bekommen.“
Gerade als sie die Hand ausstrecken wollte, um die Tür zu öffnen, schoss etwas Großes, Dunkles auf Annabell zu und stieß die Tür mit einem Ruck auf. Der Blick der Polizistin traf auf zwei bernsteinfarbene, wild flackernde Augen. Entsetzt starrte sie auf das leicht geöffnete Maul und die freiliegenden, spitzigen Zähne. Das nächste, was sie hörte, war ein spitzer Schrei.
„Brutus, aus! Keine Angst, er tut Ihnen nichts.“
Erst jetzt realisierte sie, dass der Schrei aus ihrer eigenen Kehle gekommen war.
„Annabell? Annabell, was ist da drin los, verdammt?“ erklang es in ihrem linken Ohr.
Wie aus einer Trance befreit, löste sie ihren Blick von dem gewaltigen Dobermann, der hechelnd, aber gehorsam vor ihr stand und sie kritisch beäugte.
„Entschuldige bitte vielmals, Annabell, ich hätte dich vorwarnen sollen.“
„Sag doch was! Annabell?“
Wolfgang Chavez trat zwischen sie und den Hund, nahm diesen am Halsband und blickte ihm in die Augen.
„Böser Hund! Du kannst doch nicht einfach so meinen reizenden Besuch erschrecken. Ab mit dir.“
„Scheiße, Mann. Ich komm rein!“
„Nein!“ entfuhr es ihr. Der Gastgeber drehte sich um und sah sie erstaunt an.
„Er … er kann ruhig bleiben, kein Problem.“ Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. In ihrem Ohr hörte sie jemanden tief ausatmen.
Chavez zuckte mit den Schultern.
„Wie du willst. Er ist wirklich lieb, aber er hat keinerlei Taktgefühl. Es tut mir leid, dass er dich erschreckt hat. Komm rein.“
Lächelnd öffnete er die Tür, durch die Brutus vorher geschlüpft war und ging mit dem Hund in den angrenzenden Raum.
Für einen Moment schloss Annabell die Augen. Beinahe wäre alles vorbei gewesen, bevor es überhaupt angefangen hatte und ihre ganzen Mühen wären umsonst gewesen.
„Beim nächsten Mal komm ich rein, ich schwör’s dir!“
Sie unterdrückte den Ärger über ihren Kollegen, der in einem Wagen gegenüber dem Haus saß. Was hatte er sich vorgestellt, eine Sonntagsspaziergang?
Das ausgestoßene Adrenalin ließ sie leicht zittern, als sie Chavez in ein geräumiges, stilvoll eingerichtetes Zimmer folgte. Stilvoll, aber kalt, analysierte sie und war froh, dass sie ihren Verstand auf solche Details lenken konnte.
Der Raum war aufgebaut wie zwei ineinandergreifende Vierecke. In der Mitte des Teils, in den man durch die Tür gelangte, stand ein großer Esstisch aus Glas und Stahl, umringt von sechs dazu passenden Stühlen. Eine Vitrine, die diverse Weingläser enthielt, grenzte an die Ecke, an der der als Wohnzimmer eingerichtete Teil des Raums begann. Ein großes, hellbeiges Sofa stand an einer riesigen Fensterfront, die die gesamte Außenwand einzunehmen schien und das orangerote Licht der gerade untergehenden Sonne hineinfluten ließ. Für einen Moment war Annabell von der Schönheit überwältigt, die selbst eine so nüchtern eingerichtete Wohnung noch warm und gemütlich erscheinen ließ.
„Wunderschön, nicht wahr?“
Sie schrak innerlich zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. Er war hinter sie getreten und hatte sich so herunter gebeugt, dass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. Natürlich mit höflichem Abstand, aber seine plötzliche Nähe ließ sie kalt erschauern.
Sie rief sich zur Ordnung und nickte dann.
„Ich hoffe, du hast Hunger. Es gibt eine Spezialität.“
Genauso lautlos, wie er an sie heran getreten war, hatte er sich wieder von ihr entfernt und steuerte in einen Nebenraum. Seine warme, dunkle Stimme klang fröhlich und vertrauenerweckend. So wickelte er sie ein, amüsierte sich mit ihnen, bevor er sie umbrachte.
„Ein paar Bissen könnte ich schon vertragen.“
Sie spielte ihre Rolle, gab sich von seinem Charme geschmeichelt und unbeschwert. Sie war jetzt in der Höhle des Löwen und sie war davon überzeugt, die Bestie zu erlegen.
Chavez tauchte mit zwei Champagnergläsern wieder auf und deutete lächelnd mit dem Kopf zum Sofa.
„Machs dir bequem, ich muss noch einige Kleinigkeiten in der Küche erledigen. Es schmeckt nicht halb so gut, wenn ich es vorkoche.“
Er hielt ihr das Glas entgegen und sie stieß an, während sie ihre Augen für ihn funkeln ließ. Er sah wirklich gut aus. Breite Schultern, flacher Bauch, tiefgründige Augen, markante Züge. Es war für ihn ein Leichtes gewesen, die Mädchen abzuschleppen.
Der Champagner – und es war garantiert Champagner – war ausgezeichnet. Sie stellte das Glas ab und strich sich eine widerspenstige Strähne hinters Ohr.
„Es wird nicht allzu lange dauern und ich garantiere, du wirst begeistert sein!“
„Das will ich hoffen, wenn du deinen Gast schon alleine warten lässt“ erwiderte sie mit gespieltem Ärger.
„Sei unbesorgt. Und Brutus kann dich ja ein wenig unterhalten.“
Leichtfüßig verschwand er wieder durch die Tür, die in einen Flur zu münden schien. Die Kommissarin ließ sich in das Sofa sinken und atmete erleichtert aus. Sie spielte ihre Rolle perfekt, dessen war sie sich sicher, doch die Anspannung war enorm. Es war nicht ihr erster Undercover Einsatz, doch der Druck und der ständige Stress, dem man ausgesetzt war, änderten sich nicht. Auch nicht die Angst, aufzufliegen. Besonders nicht in diesem speziellen Fall.
„Ist er weg?“ quäkte die Stimme von Tom Fuchs in ihrem Ohr.
„Ja, aber er kann jeden Moment zurückkommen, also raus aus meinem Kopf!“
Sie musste unwillkürlich lächeln, obwohl sie sich ärgerte, dass er sich nicht an die Funkstille hielt. Er machte sich Sorgen um sie und irgendwie gefiel ihr das.
Seit drei Jahren war der große, hellblonde Tom ihr Partner. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden und im Laufe der Zeit viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Trotzdem ging ihre Beziehung nicht über die freundschaftlicher Kollegen hinaus.
„Sei bitte vorsichtig. Im Notfall bin ich in 37 Sekunden bei dir, darauf kannst du dich verlassen!“
Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie diesen Umstand bedauerte.
„Mach ich. Und nun Ruhe!“
Sie musste zugeben, dass es sie beruhigt hatte, die Stimme ihres Kollegen zu hören. Der ganze Einsatz barg ein gewisses Risiko, dessen war sie sich durchaus bewusst. Doch was hätte sie denn tun sollen? Einfach darauf warten, dass Chavez der Justiz durch die löchrigen Gesetze schlüpfte?
Tom und sie ermittelten nun schon über sechs Monate im Fall der inzwischen fünf verschwundenen Frauen. Alle zwischen 25 und 30 Jahre alt, alle hübsch und alle vom einen Tag auf den Andern verschwunden. Mehr Gemeinsamkeiten schien es nicht zu geben.
Sie hatten schließlich herausgefunden, dass die mutmaßlichen Opfer alle im „Metro“, einem Club in der Innenstadt, verkehrt hatten. Damals waren es erst vier Frauen gewesen. Marie hatte da noch gelebt.
Eine Welle tiefer Trauer und lodernden Zorns überkam die Beamtin. Normalerweise hatte ihre beste Freundin nicht besonders viel für das Partyleben übrig gehabt, doch scheinbar hatte sie auf einer Feier mit Betriebskollegen im „Metro“ jemanden kennen gelernt. Am Telefon hatte sie von ihm geschwärmt, hatte gemeint, das könnte etwas Ernstes werden. Er sei wunderbar charmant, höflich und habe sie zu einem romantischen Dinner eingeladen. Es war das letzte gewesen, das sie von ihrer Freundin gehört hatte.
Als Marie nicht mehr aufgetaucht war, waren sie recht schnell auf Wolfgang Chavez gestoßen, den Manager des „Metro“. Bisher hatten sich Zeugen an niemanden bestimmtes erinnern können, der mit den Opfern in Kontakt gewesen war, doch von Maries Arbeitskollegen konnten einige den gutaussehenden Südländer beschreiben, mit dem sie den größten Teil des Abends zusammen gewesen war.
Damals hatten sie noch die Hoffnung gehabt, Marie lebend wieder zu finden, vor allem auch, weil sie aufgrund der Zeugenaussagen erstmals einen Hauptverdächtigen hatten.
Annabell selbst war jedoch nicht in den Genuss gekommen, den mutmaßlichen Mörder zu verhaften, da ihr Vorgesetzter sie noch vor der Festnahme von dem Fall abgezogen hatte – wegen persönlicher Motive im Bezug auf ein mutmaßliches Opfer.
Doch dieser Tiefschlag war nur der Anfang gewesen. Die Verhöre brachten keinerlei neue Erkenntnisse, was auch an Chavez hervorragendem Anwalt lag, der sofort nach der Verhaftung vorstellig geworden war und weiterhin dafür gesorgt hatte, dass sein Klient nach wenigen Stunden wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Der Staatsanwalt hatte nur hilflos die Hände gehoben: Von den verschwundenen Frauen fehlte jede Spur und auch wenn die Zeichen dafür sprachen, dass sie nicht mehr lebten, so war dies ohne das Auffinden der Leichen nur sehr schwer belegbar und damit eine Anklage wegen Mordes von vorn herein recht aussichtslos, insbesondere da sich die gesamte Anklage ohnehin auf Indizien gestützt hätte.
Annabell erhob sich vom Sofa und trat an die Fensterfront. Ihre Züge wirkten wie in Granit gemeißelt und ihr Blick haftete starr und abwesend auf einer der Tannen, die überall in dem gepflegten Garten standen. Die klaffende Wunde, die Maries Verschwinden in ihrem Herz hinterlassen hatte, nährte ihren Hass auf den Mann, der dafür verantwortlich war und bestätigte sie in ihrem Plan, dem Killer das Handwerk zu legen.
Nachdem die Ermittlungen ins Stocken geraten waren hatte sie sich umgehend bereit erklärt, einen Lockvogel zu spielen. Chavez hatte sie noch nie gesehen, sie passte nach bisherigen Erkenntnissen in sein Beuteschema und sie hatte sogar bereits Undercover Erfahrung. Es war ein sinnloses Unterfangen gewesen und ihr Vorgesetzter hatte ihr klipp und klar zu verstehen gegeben, dass sie sich aus dem Fall heraushalten sollte. Ihr Urteilsvermögen sei aufgrund der persönlichen Beziehung zum Opfer getrübt und die ganze Sache ohnehin zu riskant – schließlich gehe es hier wahrscheinlich um mehrfachen Mord.
Die Kommissarin straffte ihre Schultern, reckte ihr Kinn nach vorne und fühlte Genugtuung bei dem Gedanken, dass sie für Aufklärung sorgen würde – ob mit oder ohne den Segen ihres verkalkten, realitätsfernen Chefs. Zwei Wochen hatte sie benötigt, um Tom von der eigenmächtigen Aktion zu überzeugen, doch es hatte sich gelohnt: Ihre Chancen, den Killer zu überführen hatten nie besser gestanden.
Ihr Blick glitt durch das Zimmer.
Sie würden ein romantisches Dinner genießen und sich miteinander unterhalten. Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, sich zu verraten – manchmal genügten schon winzig kleine Details. Vielleicht erwähnte er den Ort, wo er die Leichen versteckt hatte. Vielleicht würde er auch plötzlich über sie herfallen, doch dann würde Tom sofort einschreiten. Außerdem war sie auch nicht gerade wehrlos.
Langsam ging sie zu einem Bücherregal. Wo Chavez wohl so lange blieb? Vorwiegend klassische Literatur. Trotz ihrer Anspannung verspürte sie ein leichtes Hungergefühl. Ein paar philosophische Werke. Nietzsche – war ja irgendwie klar, schoss es ihr durch den Kopf.
Musste der Kerl das Abendessen erst noch erlegen oder was?
Ein leises Scharren hinter ihr ließ sie erschrocken herum fahren. Die wild funkelnden Augen von Brutus starrten ihr entgegen. Er schien sie zu taxieren, abzuschätzen, ob sie wohl eine vernünftige Beute darstellte. Ein zutiefst ungutes Gefühl stieg in ihr auf und sie spürte, wie ihr Körper kalten Schweiß absonderte. Dieses Tier, davon war sie überzeugt, war genauso krank wie sein Herrchen. Obwohl sie sich über sich selbst ärgerte, musste sie sich eingestehen, dass der Hund ihr Angst einflößte.
„Dämlicher Köter …“ murmelte sie und wandte sich wieder dem Bücherregal zu. Die Augen des Dobermanns folgten jeder ihrer Bewegungen.
In der obersten Reihe des Regals entdeckte sie ein Buch, das wie ein Fotoalbum aussah. Schnell blickte sie sich um, doch Chavez schien noch immer mit dem Abendessen beschäftigt zu sein. Unpassenderweise freute sie sich auf ein gutes Dinner.
Sie streckte ihren Arm aus und versuchte, an das Album zu gelangen. Ein kehliges Knurren ertönte und ließ sie zusammenzucken. Beruhigend hob sie die Hände und redete auf den Hund ein:
„Ganz ruhig, Brutus, ich werd schon nichts mitgehen lassen. Ich möchte mir nur mal die Photos ansehen.“
Der Hund musterte sie mit finsterem Blick. Sie versuchte, ihre Angst zu unterdrücken, wohl wissend, dass die durch Stress hervorgerufenen Geruchsstoffe einen Hund nur noch mehr reizten.
„Ganz ruhig. Schön da stehen bleiben.“
Seitlich am Regal stehend, so dass sie Brutus im Auge behalten konnte, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen und tastete mit einer Hand nach dem Album. Wieder ertönte das heisere Geräusch aus der Kehle des Tieres. Sie biss sich auf die Lippen und schloss ihre Finger um den Buchrücken.
„Entschuldige bitte, dass ich dich so lange habe warten lassen …“
Blitzschnell zog sie ihre Hand zurück und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Genau in diesem Augenblick erschien Chavez in der Tür, durch die er vorher verschwunden war. Irritiert sah er in ihr erschrockenes Gesicht, wie sie da vor dem Bücherregal stand, unablässig bewacht von dem großen Dobermann.
„Was machst du denn da?“
Sie zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht und versuchte, ihre Nervosität zu überspielen.
„Ich hab mir nur deine Bücher angesehen.“ Sie grinste. „Hast du die alle gelesen?“
Seine Züge entspannten sich und er lachte fröhlich.
„Aber sicher, Süße. Einige mehrmals.“ Er schnippte mit dem Finger und Brutus verschwand durch eine Tür.
„Er macht dir Angst, nicht wahr?“
Annabell glaubte, etwas Herausforderndes in seiner Stimme zu hören, doch er lächelte freundlich und zog ihr einen Stuhl zurück.
„Ich habe generell ein wenig Angst vor Hunden“ gab sie zu und bemühte sich, ein wenig hilflos und betreten zu erscheinen.
„Ich habe sechs Stück, aber keine Angst, in der Wohnung darf sich nur Brutus bewegen und vor dem brauchst du wirklich keine Angst zu haben.“
Sie setzte sich auf den dargebotenen Stuhl und er zauberte einen Kerzenständer mit einer einzelnen, roten Kerze hervor, die er sogleich anzündete.
Er senkte seine Stimme ein wenig: „Und nun, erlaube mir, die Vorspeise zu servieren.“
Wenn Sie nicht gewusst hätte, was für ein Mann er war, wäre sie in diesem Moment in seinen dunklen Augen versunken. Immerhin fiel es ihr dadurch nicht besonders schwer, die Geschmeichelte zu spielen.
„Nur wenn du nicht mehr so lange weg bleibst, schließlich habe ich mich von dir zum Dinner einladen lassen und nicht von deinem Hund.“ Sie verzog ihren Mund zu einem leichten Schmollen und er spielte mit einer zutiefst beschämten Miene mit, das jedoch gleich wieder seinem charmanten Lächeln weichen musste.
„Ich verspreche dir, dass ich dich den ganzen Abend nicht länger alleine lassen werde, als notwendig ist, um das Essen aus der Küche zu holen.“
Er verschwand um wenige Sekunden später mit zwei Tellern wieder aufzutauchen. Annabells Magen signalisierte großen Energiebedarf, als ihr Blick auf die Melonenstücke fiel, in die mithilfe von hölzernen Zahnstochern saftige Schinkenröllchen gespießt waren. Ein Kreis aus Kokosflocken und Schokoladenspritzern schenkte dem Arrangement zusätzliche optische Würze.
„Meine Güte, Wolfgang – das sieht ja herrlich aus.“
Er lächelte vergnügt.
„Warte, bis du sie probiert hast, danach wirst du wirklich begeistert sein.“
„Lass uns bitte schnell anfangen“ lachte sie und warf ihm einen glücklichen und freudig überraschten Blick zu. Er setzte sich und betrachtete sie amüsiert.
„Na dann, guten Appetit, lass es dir schmecken.“
Erst als sie den ersten Bissen der wirklich köstlichen Melone im Mund hatte, merkte Annabell, wie hungrig sie wirklich war. Sie hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen und es nicht einmal gemerkt. Der Einsatz hatte viel zu stark im Vordergrund gestanden, um sich um so etwas wie Nahrung zu kümmern.
Der würzige Rohschinken stand in wunderbarem Kontrast zum süßen Fleisch der Honigmelone und zu ihrem Entsetzen musste Annabell feststellen, dass sie im Begriff war, das Essen, den Abend zu genießen und sich zu entspannen. Sie blickte auf, musterte den ihr gegenüber sitzenden Chavez und sofort war der Zorn in ihrem Innern zurück. Sie wusste aus ihren Ermittlungen, dass er bereits 36 Jahre alt war, doch angesehen hätte sie es ihm nicht. Auch beim Essen wirkte er spritzig, jugendlich und trotzdem unglaublich stilvoll. Aber nicht herzlich.
„Es ist absolut köstlich! Wo hast du das bloß gelernt?“
Er sah auf, grinste breit.
„Ich würde jetzt gerne sagen, ich sei ein Naturtalent, aber ich habe früher als Koch gearbeitet.“
„Als Koch? Das kann ich mir gar nicht recht vorstellen. Wenn ich Koch höre, denke ich immer an … nun ja …“ sie lächelte verlegen.
„… etwas korpulentere Herren mittleren Alters, die nach Bratfett riechen und denen das schwitzige Haar in die Stirn klebt?“
Er lachte und sie stimmte mit ein.
„Naja … ja.“
„Da tust du den Köchen aber unrecht. Ich kenne ein paar sehr nette und sehr gut aussehende Köche.“
„So, so? Hast du Namen und Adressen?“
Sie strich eine Strähne hinters Ohr, die sich in ihr Blickfeld gestohlen hatte.
„Natürlich, aber ich werd sie dir nicht geben.“
„Warum denn nicht?“
„Glaubst du, ich will riskieren, dass du merkst, dass es eventuell noch andere gut aussehende Männer gibt, die kochen können?“
Er zwinkerte. Unter anderen Umständen hätte es ein wunderschöner Abend sein können. Chavez war zuvorkommend, humorvoll und strahlte eine sympathische Intelligenz aus. Und er war ein skrupelloser Mörder.
Mit einem zufriedenen Lächeln lehnte sich Annabell im Stuhl zurück. Von ihren Melonen waren nur noch die Schalen übrig. Chavez erhob sie und griff nach ihrem Teller.
„Noch ein Nachschlag, oder darf ich den Hauptgang servieren?“
„Um Himmels Willen, ich bin ja jetzt schon beinahe satt“ erwiderte sie mit gespieltem Entsetzen.
„Das will ich nicht hoffen – für dich.“
Ein eisiger Schauer durchfuhr ihren Körper. Sie blickte ihn erschrocken an, doch er lächelte nur freundlich. Hatte sie sich die Schärfe in seinen Worten nur eingebildet?
„Du würdest nämlich eine Menge verpassen!“
Grinsend verschwand er durch die Tür. Annabell atmete tief durch. Jetzt bloß nicht durchdrehen, es ist alles in Ordnung. Energisch schüttelte sie ihr Haar nach hinten. Sie musste jetzt ruhig bleiben und ihre Rolle spielen. Früher oder später würde er sich verraten – auf die eine oder andere Weise. Sie musste einfach nur abwarten und das Spiel mitspielen. Und auf der Hut sein.
Der Duft drang an ihre Nase noch bevor ihr Gastgeber den Raum mit zwei dampfenden Tellern wieder betrat. Herzhaft, würzig. Voll Neugier betrachtete die Polizistin den vor ihr abgestellten Teller.
„Mmmmh, das riecht umwerfend.“
Er lächelte wissend.
Sie sog den Geruch tief durch die Nase ein, während Chavez eine Flasche Rotwein hervorzauberte und ihr ein Wenig in ein bauchiges, filigran gearbeitetes Glas einschenkte.
„Ein hervorragender Tropfen aus Bardolino.“
Er blieb neben ihr stehen und machte eine aufmunternde Geste.
„Jeder gute Wein wird zuerst probiert, bevor er genossen wird.“
Warnend hob er den Zeigefinger.
„Und versuche niemals vorzutäuschen, es würde dir schmecken, wenn es das nicht tut. Essen ist nicht nur simple Nahrungsaufnahme. Vielmehr ist es ein ganzheitlicher Akt des Genusses und der vollkommenen, umfassenden Entspannung. Und genau so sollte es auch behandelt werden.“
Er näherte seinen Kopf dem ihren bis auf wenige Zentimeter. Seine leicht gesenkte Stimme hatte eine beinahe hypnotische Wirkung.
„Geheuchelter Genuss ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht des Gastgebers – der die Täuschung ohne jeden Zweifel erkennen wird –„ Annabell stockte der Atem. „sondern auch ein Verbrechen an der eigenen Seele, die gerade bei der Inanspruchnahme der Geschmacksnerven in allen Facetten danach lechzt, sinnlich gestreichelt und verwöhnt zu werden.“
Reglos starrte sie ihn an, glaubte fest, ihr Herz habe in diesem Augenblick aufgehört zu schlagen. Seine Augen schienen sie zu durchdringen, jeden ihrer verborgenen Gedanken zu erspähen und jedes ihrer Gefühle zu erahnen. Kalte Angst stieg in ihr auf. Hatte er sie durchschaut? Ihre Muskeln spannten sich und sie bereitete sich darauf vor, dass er plötzlich mit seinen kräftigen Händen ihren Hals umfassen würde. In Gedanken spielte sie die verschiedenen Möglichkeiten zur Abwehr eines solchen Angriffs durch als sie plötzlich das Lächeln auf seinem Gesicht entdeckte.
„Soll heißen: Lass es dir schmecken.“
Seine Augen blitzten sie schelmisch an und er hielt ihr das Glas hin. Sie musste alle Willenskraft dafür aufbringen, dass ihre verkrampften Muskeln nicht zitterten, als sie den Wein an sich nahm und ihn beinahe ehrfürchtig kostete.
„Und?“
Der Wein schmeckte dunkel, voll und hatte dennoch nicht die beinahe depressive Schwere, die einem so intensiven Rotwein oft inne wohnt.
Sie lächelte ihn an und hoffte, ihre Verkrampfung gänzlich versteckt zu haben.
„Wunderbar, ich kann mich nicht erinnern, je einen solchen Wein getrunken zu haben.“
Zufrieden lächelnd schenkte Chavez ihr ein und setzte sich ihr dann gegenüber. Höflich hielt er inne und wartete darauf, dass sie den ersten Bissen des Mahls kostete.
Die goldbraunen Kartoffelscheiben auf dem Teller vor ihr waren kunstvoll neben zwei dunklen Scheiben saftigen Fleischs drapiert, die von einer dunkelbraunen Soße benetzt waren und auf deren Spitze jeweils ein Tupfer Sahne thronte. Neben dem Fleisch befand sich ein Klecks von rotem, gallertartigem Gelee – wahrscheinlich Himbeermarmelade. Abgerundet wurde das Bild von einem dunkelgrünen Feldsalat, in dem Annabell einige Zwiebelstückchen erkannte.
Vorsichtig schnitt sie sich ein Stück der Kartoffeln ab und schob es in den Mund. Im ersten Moment erschien der Geschmack erstaunlich fad. Sie hatte sich auf die durchdringende Würze von Salz eingestellt, doch das schien vollkommen zu fehlen. Dann entfaltete sich das Aroma in ihrem Mund und sie blickte Chavez erstaunt an.
„Die meisten Leute halten die Kartoffeln im ersten Moment für zu fad, doch das Salz würde die feinen Gewürze, die sich erst nach einigen Augenblicken entfalten total vernichten.“
Er lächelte, stolz darüber, sie überrascht zu haben.
„Salz wird ohnehin viel zu oft missbraucht. Im Prinzip ist es das schlimmste, was einem guten Essen widerfahren kann, da es alle anderen Geschmacksnuancen übertönt.“
„So habe ich das noch gar nie gesehen. Es ist wirklich erstaunlich.“
Von einer seltsamen Art von Neugier gepackt versuchte sie, die verschiedenen Aromen zu erforschen und regelrecht zu studieren.
„Neben den normalen Dingen, die die normale, ich nenne sie einfach mal ‚Schulküche’, lehrt, habe ich mit der Zeit einige eigene Rezepte kreiert, die alle ohne allzu intensive Gewürze auskommen. Probier etwas von dem Fleisch und du wirst verstehen, was ich meine.“
Gespannt, was für eine Geschmackskomposition sie nun erwarten würde, widmete sie sich ihrem Fleisch. Es ließ sich nicht ganz so leicht schneiden, wie sie vielleicht erwartet hatte, wies innen jedoch eine leicht rötliche Farbe auf. Chavez beobachtete sie amüsiert, während sie die Augen schloss, um sich ganz dem Geschmack hinzugeben. Wieder hatte sie das Gefühl, dass etwas Würze fehlte, doch gleich darauf bemerkte sie, wie sich die einzelnen Aromen zu einer eindrücklichen und intensiven Komposition vermischten. Das Fleisch hatte einen ein wenig herben, dunklen Eigengeschmack. Sie schmeckte ein Hauch von Zitrone, auch die Sahne konnte sie erkennen. Verzückt öffnete sie die Augen. Er lächelte.
„Phantastisch“ hauchte sie. „Was ist das?“
„Das Geheimnis …“ er genoss es sichtlich, die Mystik in seiner Kochkunst heraufzubeschwören. „Das Geheimnis ist frischer Lorbeer. Gerade bei etwas schwererem Fleisch dient es als hervorragender Geschmacksträger. Es würzt nicht nur selbst, sondern lässt auch die anderen vorhandenen Aromen deutlicher zur Geltung kommen.“
„Hm, das muss ich zuhause versuchen.“ Sie lachte. Eigentlich, um der Situation die beinahe etwas unheimliche und geheimnisvolle Atmosphäre zu nehmen, doch auch, wie sie feststellte, weil sie sich leicht und beschwingt fühlte. Lag es am Wein? Oder hatten die geschmacklichen Genüsse tatsächlich eine Wirkung, wie Chavez sie beschworen hatte?
„Eigentlich gebe ich meine Rezepte nicht heraus, aber bei dir würde ich eine Ausnahme machen. Du scheinst gutes Essen zu schätzen wissen.“
Annabell nickte ihm dankbar zu, war aber schon wieder mit ihrem Essen beschäftigt. Chavez Kochkünste waren tatsächlich phantastisch und mit jedem Bissen schien sie sich etwas mehr zu entspannen. Anfangs versuchte sie, sich dagegen zu wehren, die innere Spannung aufrecht zu erhalten, doch mit der Zeit genoss sie es, ihre Sinne umschmeicheln und ihren Körper entspannen zu lassen.
Ihr fiel gar nicht auf, dass sie während des Essens kein Wort wechselten. Eine wohlige Wärme stieg in ihr auf, verdrängte die Spannung, die Angst, selbst den Schmerz, der sie seit Maries Verschwinden nie gänzlich verlassen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, sich jemals so gut gefühlt zu haben. Die letzten Wochen waren ein einziges, ununterbrochenes Martyrium gewesen, geprägt von Leere und Einsamkeit. Außer Marie hatte sie praktisch keine wirklichen Freunde gehabt und nun, da sie weg war hatte sie nicht einmal die Möglichkeit gehabt, ihren Schmerz mit jemandem zu teilen. Mit Genugtuung spürte sie, wie ihre aufgestauten Gefühle stetig weiter verblassten, wie sie ganz dem Genuss und der inneren Entspannung weichen mussten. Alles fühlte sich gut an, alles fühlte sich richtig an.
Chavez streckte ihr sein Weinglas entgegen. Er saß jetzt neben ihr. Sie konnte sich nicht recht daran erinnern, wann er seinen Stuhl zu ihr gerückt hatte, doch es fühlte sich richtig an.
Vollkommen entspannt griff sie nach ihrem Glas, um mit ihm anzustoßen, ihr Teller war schon seit einer Weile leer. Ihr Blick fiel auf seine Hand. Irgendetwas ließ sie stutzen und sie hielt in ihrer Bewegung inne. Dann sah sie es. Die Erkenntnis, die in ihrem seltsam trägen Verstand ankam, war wenig spektakulär, doch aus irgendeinem Grund, ließ sie sämtliche Alarmglocken in ihrem Innern schrillen, wenn auch nur gedämpft und wie aus weiter Ferne.
Sie zog die Stirn in Falten und versuchte, aufzustehen. Viel lieber wäre sie sitzen geblieben an diesem schönen, warmen Ort, doch mit all ihrer verbliebenen Willenskraft stemmte sie ihre Beine in den Boden und erhob sich. Sie spürte Chavez verwunderten Blick.
„Ich … ich müsste mal … die Toilette“ brachte sie mit Mühe hervor. Ihre Zunge fühlte sich so schwer an wie sämtliche anderen Glieder. Langsam torkelte sie auf die Tür zu, in der Chavez zuvor einige Male verschwunden war. Auf ihn achtete sie gar nicht, konzentrierte sich nur darauf, die Tür zu erreichen. Sie ließ sich mit beiden Händen auf die Klinke fallen und währe beinahe gestolpert, als die Tür aufschwang. Ihr Kopf war ein einziges Chaos, doch sie wusste, dass etwas nicht stimmen konnte, wusste, dass das verkrustete Rot an Chavez Fingernagelansatz dort nicht hinpasste.
Krampfhaft versuchte sie, sich zu konzentrieren und langsam stieg Panik in ihr auf. Am Ende des Ganges schien ihr helles Neonlicht entgegen. Ohne genau zu wissen wieso, torkelte sie darauf zu, nicht in der Lage, zu begreifen, was geschah. Das beklemmende Gefühl sich ausweitender Panik schwoll an und klarte ihre Gedanken ein wenig auf. Tom! schoss es ihr durch den Kopf. Sie brauchte Hilfe. Tom war irgendwo draußen. Sie versuchte, die Worte zu erzeugen, während sie auf das Licht zu wankte.
„Tom …“ presste sie heraus, zu nichts als einem Keuchen fähig. „Hilfe … Tom … du musst … helfen“. Ihre Zunge war unendlich träge. Verzweifelt lauschte sie, doch außer dem Klatschen ihrer Hände an die nackten Wände des Flurs war nichts zu hören.
„Tom … Hilfe … mir!“
Nichts regte sich in ihrem Ohr. Hörte er sie denn nicht? Nackte Angst ergriff sie und ihr Körper begann zu zucken.
„Tom!“
Erschöpft erreichte sie den an den Flur grenzenden Raum. Sie musste die Augen zusammenkneifen, das helle Neonlicht tat ihr weh. Orientierungslos stolperte sie in das Zimmer, stützte sich mit den Händen ab. Sie spürte etwas Weiches, senkte ihren Blick auf ihre Hände. Seltsame Leere ergriff sie. Vielleicht hätte sie geschrien, wenn sie dazu im Stande gewesen wäre. Sie taumelte zurück. Sie befand sich in der Küche. Auf der Arbeitsfläche vor ihr, die die gesamte Länge des Raums in Anspruch nahm, lag der leblose Körper von Tom Fuchs. Sein Brustkorb war geöffnet und die Rippen klafften weit auseinander. Die gesamte, weiß gekachelte Wand hinter der Ablagefläche war über und über mit Blut besudelt, das sich in kleinen Rinnsalen auf den Boden ergoss.
Annabell stand reglos da, verstand nicht, was ihre Augen ihr vormachen wollten. Sie hörte ihren Atem, hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
Sie spürte, dass er hinter ihr stand, drehte sich langsam um und blickte in ein freundlich lächelndes Gesicht.
„Eigentlich hätte ich dir den Anblick gerne erspart, meine Süße.“
Er trat auf sie zu, sie versuchte zurückzuweichen, doch ihr Körper reagierte nicht mehr. Neben seinen Beinen erschienen die gebleckten Zähne von Brutus.
„Für eine Polizistin bist du erstaunlich locker. Nicht so verklemmt wie die meisten.“
Er legte eine Hand unter ihr Kinn, blickte sie versonnen an.
„Weißt du, frische Lorbeeren haben einen schönen Nebeneffekt.“
Er lächelte und kam ihrem Gesicht näher. Seine Augen strahlten so etwas wie Zuneigung aus.
„Sie harmonieren wunderbar mit gewissen bewusstseinserweiterten Stoffen, kreieren in Verbindung quasi ein einmaliges Aroma. Vorausgesetzt natürlich“ er strich ihr zärtlich übers Haar. „ … man benutzt das richtige Fleisch.“
Er wandte sich plötzlich von ihr ab und gab seinem Hund einen Wink.
„Du kannst den Rest haben, Brutus. Aber teil brüderlich, ja?“
Annabell spürte nichts mehr. Empfand nichts, als der Dobermann sich in den Fußknöchel des toten Tom verbiss. Es war ihr gleichgültig, als der Kopf ihres Kollegen hart auf den weißen Steinboden schlug und das Tier seinen ausgenommenen Körper durch eine Schwingtür nach draußen zog. Lautes Gebell aus einem halben Dutzend Kehlen ertönte.
Chavez trat auf sie zu.
„Du wärst bestimmt eine hervorragende Köchin geworden. Du weißt, Geschmack zu schätzen. Das ist eine Gabe.“
Es klang bedauernd. In seiner Hand erkannte sie ein im Licht reflektierendes Messer. Sie sehnte sich nach Wärme, nach Freiheit und Ruhe, die die Leere in ihrem Innern auslöschten. Den Schmerz begruben und die Einsamkeit.
Sanft drückte er ihren Kopf an seine Brust. Ein Lächeln machte sich auf ihren Lippen breit, als sie seine Wärme auf ihrer Wange spürte.
„Und du wirst mir zustimmen, dass dieses Aroma, das du heute kennen gelernt hast, wirklich einmalig ist.“
Es fühlte sich richtig an. Warm. Fröhlich. Alles fühlte sich so an, wie es sein musste.
„Es geht eben nichts über frisches Herz mit Lorbeeren.“



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Kritik (auch ausführliche evtl. per PN) erwünscht.
 



 
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