Frohes Fest

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Luqas

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Frohes Fest

Die Luft ist kalt und trocken. Der Himmel verschmiert von einem undurchdringlich monotonen Grau. Unerbitterlich wie eine Decke aus Beton verdeckt es was sonst blau und strahlend ist. Die Fassaden der Häuser wirken vor diesem Hintergrund blass und öde. Jeder Backstein gleicht dem anderen, jede Dachpfanne ist nur eine sterile Kopie derer die neben ihr liegt. Die Fenster sind nur dunkle Rahmen, hinter denen sich nichts abzuspielen scheint. Und alle starren sie mit leeren, versprechungslosen Blicken in die Peripherie.
Mit ziellosen Schritten läuft er durch die Gasse der Starrenden. Zu beiden Seiten türmen sich die Häuser empor, blicken auf ihn hinab und doch durch ihn hindurch. Er hat den Kragen seiner Jacke hochgezogen, dennoch reicht sie ihm nur bis knapp über den Mund. Die Hände hat er in den Hosentaschen vergraben. Seine Schritte werden mal schneller, weil er sich in die heizungswarme Idylle sehnt, die hinter einer dieser vielen Türen auf ihn warten könnte. Dann werden sie wieder langsamer, weil die Sehnsucht ihm nicht genug Kraft geben kann um die müden Knochen noch weiter voran zu peitschen. Zu zweischneidig ist sie, diese Sehnsucht. Treibt ihn an und zerrt ihn aus. Genauso gnadenlos wie das Grau am Himmel.
Der Wind schneidet mit gezielten Schnitten durch die Kälte, schiebt sie in gnadenlosen Stößen voran, die auf der dünnen Haut in seinem Gesicht brennen. Leise keucht er Flüche in den Kragen seiner Jacke, die warme Luft seiner Wut verfliegt und erfriert jedoch genauso schnell wie sie aus ihm herausgeprescht kommen. Im Gehen zieht er ein Handy aus seiner Hosentasche und wirft einen Blick auf die Uhrzeit.
Dann bleibt er stehen. Nur einen Moment. Verwundert verharrt sein Blick auf einem Lichtspiel, dass in einem der Fensterrahmen steht. Hinter dem dicken Glas glimmen vier Lämpchen, aufgereiht stehen sie nebeneinander, brav und artig in Reih und Glied. Ihr Licht schimmert warm durch die graue Kälte.

„Junger Mann?“
Erschrocken wirbelt er herum. Die Stimme war krächzig und verbarg die Gebrechlichkeit der Kehle der sie entsprang nur höchst bedürftig. In einem Türrahmen steht eine alte Frau, drei Stufen unter ihr ein Kasten mit vollen Wasserflaschen.
„Junger Mann, können Sie mir helfen?“
„Ähm...“ Unentschlossen steht er vor ihr, ihr wartender Blick bohrt sich in ihn hinein. Zu direkt, zu unentwegt, er kann gar nicht ausweichen.
„Ich schaffe doch diese Stufen hier nicht mehr...“ Die Alte stützt sich auf einen Stock, ihre Körperhaltung ist leicht gebeugt. Ihre Augen stechen erst durch zwei Brillengläser, dann durch die Luft und direkt in seinen Kopf.
„Ähm ja, Ja natürlich.“ Mit drei großen Schritten steht er vor dem Wasserkasten. Die Alte nickt zufrieden und murmelt etwas vor sich hin, während sie sich umdreht und im Haus verschwindet. Ihre gekrümmte Gestalt wird von der Dunkelheit verschlungen, nur eine weitere Sekunde und sie ist eins mit ihr geworden. Unschlüssig steht er vor dem Kasten. Die Glasflaschen scheinen in der Kälte zu zittern. Luftbläschen sprudeln in der klaren Flüssigkeit. Er seufzt. Geht in die Knie, greift den Kasten mit beiden Händen, hievt ihn hoch, nimmt jede Stufe einzeln und macht einen Schritt hinein in die hungrige Dunkelheit.
Im Flur ist es warm. Es riecht nach altem Mensch und Putzmitteln. Irritiert sieht er sich um. Er hatte gedacht, es würde nach alten Keksen und dem Parfüm alter Frauen duften, doch viel mehr liegt hier nur die Ahnung von abgestandenem Schweiß und die beißende Erinnerung an aggressive Putzmittel in der Luft.
Abwartend bleibt er im Flur stehen. Hinter ihm dringt die Kälte in das Haus. Wie eine Horde Flüchtlinge dringt sie ein, überstürzt, stolpernd, viel zu hastig, in seinen Rücken polternd. Er ertappt sich dabei, wie er sich für einen Moment wünscht er könnte die Tür einfach zu schlagen und sich einen Moment in der Wärme des Hauses ausruhen. Das seine steifgefrorenen Finger wieder auftauen. Das dieses Prickeln in der Haut zurückkehrt und ihn daran erinnert, dass er noch nicht erfroren ist.
„Ich stelle den Kasten...“
„Machen Sie die Tür ruhig zu.“ Sie unterbricht ihn, als hätte sie nicht gehört, dass er etwas hatte sagen wollen. Er wundert sich, dreht sich zur Tür und wirft einen Blick hinaus in das Grau. Er streckt den Fuß aus, hebelt ihn hinter die Tür und gibt ihr einen sanften Schubs, so dass sie langsam zufällt. Mit einem hauchenden „Klick“ fällt sie ins Schloss. Und die Wärme umarmt ihn von allen Seiten.
An den Wänden hängen keine Bilder. Auf dem Boden liegen keine Teppiche. Da ist ein Türrahmen und daneben steht ein kleiner Tisch. Und darauf: Kein Telefon. Unsicher macht er zwei Schritte voran, den Kasten immer noch in den Händen.
„Oh vielen Dank.“ Die Alte erscheint plötzlich am Ende des Flures. Sie lächelt, so dass sich ihre faltigen, schlaffen Lippen ein wenig straffen. Doch Kontur bringt das nicht mehr in dieses alte, verfallene Gesicht. Es erschrickt ihn, wie sehr die Zeit an einem Menschenkörper nagt. Sie saugt ihn aus, Zelle für Zelle, bis all das Fleisch und die Haut nur noch schlaff und labberig an den porösen Knochen hängen. Die Haare; nur noch dünne, strohige Fäden. Nur ihre Augen funkeln noch mit einer Energie, die er ihr irgendwie nicht zuzutrauen vermag. Ihr Blick fixiert ihn, nagelt ihn an den Boden. Zentimeter für Zentimeter scheint sie ihn zu begutachten. Und sie steht einfach nur da, am Ende des Flures und sagt nichts mehr. Nur ihr Blick, ihr wandernder, suchender Blick.
Es ist ihm unangenehm, er räuspert sich, pendelt einen Schritt vor und zwei zurück. Die Alte scheint wie aus einer Trance gerissen, sie zeigt die Zähne beim Auflächeln und breitet die Hand aus. Sie zeigt auf eine offen stehende Tür in der Mitte des Flures.
„Wären Sie denn so nett und würden mir den Kasten in den Keller tragen?“
„Ähm...“ Er will sagen, dass er keine Zeit hat. Das er eigentlich schnell weiter muss. Das sie ihre Vorräte doch lieber in der Küche lagern sollte. Aber dann denkt er, dass es verdammt noch einmal Weihnachten ist. Und wenn schon das Grau der Welt und die Rastlosigkeit des Alltags ihm keine Besinnlichkeit schenken wollen, dann kann er doch wenigstens dieses alte, schwache Herz ein wenig erwärmen. Er hat nie verstanden, was diese Weihnachtszeit bedeuten soll. Man hat ihn mit Geschenken abgefertigt, Jahr für Jahr, hat ihn unter einen glitzernden und leuchtenden Weihnachtsbaum gesetzt, ihn mit Keksen vollgestopft und die Ohren mit Kinderchören bedröhnt. Aber nie hat er verstanden, wieso das alles. Und als er endlich geglaubt hatte zu verstehen, warum das ganze Theater und wozu die ganzen Lichter und Gedichte, da war er zu alt. Da hatte ihn die Welt schon so fest im Griff, dass er nicht einfach mal eben so einen Moment inne halten konnte. Denn die Welt dreht sich immer weiter und du dich mit ihr mit, wenn sie dich erst einmal gepackt hat. Also trägt er der alten Frau den Kasten mit Wasserflaschen in den Keller. Vielleicht weil ihr Haus so schön warm ist, vielleicht weil er glaubt, dass dies seine Sekunde ist um durchzuatmen.
„Ich mach Ihnen Licht, einen Moment...“ murmelt die tatterige Alte und humpelt ihm entgegen.
„Nein nein , schon gut, ich habs schon...“, sagt er und betätigt mit dem Ellbogen den Lichtschalter, um alles bemüht der alten Dame keine unnötigen Umstände zu bereiten. Sie lächelt nur, dass ihre schlaffen, faltigen Wangen sich für einen Moment zu verdorrten Apfelbäcken zusammenrunden. Er lächelt vage zurück.

Die Stufen sind nicht gefliest. Der Abgang ist eng. Die Lampe an der Decke über ihm scheint gerade so bis zum Ende der Treppe.
„Passen Sie auf, unten ist kein Teppich. Der Lichtschalter ist links.“, sagt sie, während er schon auf der Hälfte der Treppe ist. Sie macht einen Knick. Zu seinen Füßen wogt die Dunkelheit, leckt an seinen Schuhspitzen und will immer mehr von ihm.
„Stellen Sie den Kasten einfach in den Vorratsraum.“
„Ja...“, ruft er gedankenverloren die Treppe hoch. Sein Fokus liegt darauf diesen elendigen Lichtschalter zu finden, damit er nicht in durch die schwarze Finsternis stolpern muss.
„Sind Sie schon unten?“
„Ja.“
Licht geht an. Verwundert schaut er nach oben an die Decke über ihm. Eine Neonröhre wirft ihr steriles, freudloses Licht in den Flur. Die Wände sind glatt und kahl. Er kann keinen Lichtschalter finden. An einem Ende des Flures eine Tür, auf halber Strecke eine weitere. Sie steht offen. Er sieht Regale. Mit großen Schritten betritt er den Raum, stellt den Kasten ab und will sich umdrehen und schnell wieder verschwinden. Er hat dieses Gefühl im Nacken, dass ihn zur Flucht antreibt. Wie ein Kaninchen, dass immer glaubt ein Fuchs wäre in der Nähe ohne auch nur ein Anzeichen dafür zu sehen. Es ist ein Instinkt. Und weil er sich sicher ist, dass er kein Kaninchen ist, lacht er lautlos darüber, schüttelt den Kopf über sein kindisches Verhalten. Aus dem Alter ist er jetzt raus. Er weiß, dass es...
Als er sich aufrichtet sieht er eine Tiefkühltruhe am anderen Ende des Raumes, umringt von den leeren Regalen die sich an die Wände drücken. Und an dem weißen Plastikgriff der Truhe klebt etwas rotes. Die Farbe hat sich einmal vom Griff über die Seite verschmiert.
Es ist totenstill. Er macht einen Schritt zurück. Ein Kieselstein knirscht unter seiner Schuhsohle. Er dreht sich hastig auf dem Absatz um, sieht noch eine weitere Tür am anderen Ende der Vorratskammer, dann hört er das laute Zuknallen der Kellertür. Und im selben Moment erlischt das Licht. Und er versinkt in Dunkelheit.

Sofort ist sein Körper stocksteif. Sein Atem geht flach, sein Herz hämmert von ihnen gegen seine Rippen. Das Prickeln, dass er sich auf die Haut gewünscht hat, ist nun ein Brennen. Flächenbrand.
Panisch tastet er mit den Händen seine Hosentaschen ab. Er fühlt seinen Schlüsselbund. Und das Handy. Hastig zerrt er es hervor, drückt auf den Tasten herum, bis ein Lichtkegel erscheint und sich durch die Schwärze fräst.
Ein Rauschen dringt durch die Stille. Ein Knistern, ein Quietschen, wie als würde eine sehr alte Radioanlage in Betrieb genommen. Der Lichtkegel fährt die Wände auf und ab, panisch auf der Suche nach der Quelle des Geräusches. Entsetzt bleibt er auf einem Lautsprecher hängen, der in der oberen Ecke des Raumes hängt.
„Lennart.“ Es ist die Stimme der Alten, die da durch den Lautsprecher dringt. Nur das diesmal das Gebrechliche fehlt und ersetzt wurde, durch eine eisige Kälte.
„Lennart, es ist soweit.“
Er versteht nicht was geschieht. Fassungslos starrt er den Lautsprecher an.
„Weihnachten ist da.“
Das Rauschen erstirbt. Im gleichen Moment hört er ein Türschloss aufschnappen. Seine Atmung erstickt. Das Herz bleibt stehen, schockgefroren. Ein Knarren. Es ist die Tür am anderen Ende des Raumes. Der Lichtkegel schwenkt durch die Dunkelheit. Und bleibt auf dem Holz der Tür hängen. Eine Hand schiebt sich durch den Türschlitz. Abgebissene Fingernägel, verschorfte Narben, fast unmenschlich spitze Finger.

Das Entsetzen packt ihn mit eisigen Klauen. Sein Körper erbebt. Und doch reagiert er blitzschnell. Sofort drückt er das Licht an seinem Handy aus. Mit zwei geräuschlosen Schritten erreicht er die rechte Wand, lautlos sinkt er zu Boden. Seine Augen sind weit aufgerissen, auch wenn sie nur Dunkelheit in sich aufsaugen können. Das Knarren der Tür wird lauter. Sie wird mit Schwung aufgestoßen. Ein schwerer Schritt wird in den Raum gesetzt. Ihm wird schlecht vor Panik, sein Magen krampft sich zusammen, seine Glieder scheinen explodieren zu wollen. Ein weiterer Schritt, er spürt ein Zittern im Boden. Oder ist das nur sein Körper?
Weitere Schritte. Dazu ein schleifendes Geräusch. Es schreit in seinen Ohren. Scharfes Metall, dass über den steinartigen Betonboden gezerrt wird. Er weiß nicht was geschieht, aber er weiß, dass er jetzt das Kaninchen ist. Durch seine Arterien schießt Adrenalin, pumpt ihn voll, füllt seine Gehirnwindungen. Es ist, als hätte jemand den Sender umgeschaltet. Auf Programm Sieben. Das Überlebensprogramm.
Lautlos versucht er sich zu bewegen, an der Wand entlang, in die Richtung aus der die Schritte kamen. Wenn sie an ihm vorbeiziehen, kann er fliehen. Auf allen Vieren kriecht er voran. Seine Hände berühren den kühlen Boden, scheinen daran kleben zu bleiben. Die Schritte nähern sich, das schleifende Geräusch folgt. Er kann nicht weiter voran, er kann seinen Körper nicht mehr kontrollieren. Er ist einfach festgefroren, vor Angst gelähmt. Das Herz schlägt ihm bis in die Kehle hinein, so heftig, dass das Pulsieren ihm die Luftröhre zudrückt. Die Schritte ziehen an ihm vorbei, er spürt sie tiefer in den Raum gehen, auf die rotverschmierte Tiefkühltruhe zu.
Dann ist es einen Moment lang still.
Das Licht geht an.
Panisch kauert er auf dem Boden, drückt sich fest gegen die Wand, umklammert mit beiden Händen das Handy. Stiert fassungslos das an, was da in der Mitte des Raumes steht. Ein riesiger Mensch, breite Schultern, dicke Waden, bei jedem Atemzug hebt und senkt sich der ganze Körper. Die Haare sind lang und schwarz, verfilzt und borstig. Er trägt Lumpen, eine zerrissene Hose, schwere Arbeiterstiefel. Und in der Hand hält er eine lange verrostete Säge wie ein Schwert. Der Kopf ist der Truhe zugewandt, er sieht nur den Hinterkopf. Jetzt schwenkt der Blick des monströsen Mannes nach links und rechts. Als suche er etwas. Als suche er... Ihn!
Der Kopf bleibt stehen. Und zwischen den strähnigen, schwarzen Haaren erscheint ein Profil. Die Nasenspitze fehlt, der Mund ist eine einzige Narbe, die Haut spröde, als blättre sie ab. Ein eisblaues weit aufgerissenes Auge hat ihn erfasst.

Panisch springt er auf, mit einem Satz springt er in Richtung der Tür aus der das Ungeheuer gerade gekommen war. In seinem Rücken hört er ein animalisches Aufschreien, schrillend hoch und brüllend tief zu gleich. Die rostige Klinge surrt durch die Luft, er kann spüren wie sie die Molekühle zerteilt. Er stolpert in den Raum hinein, greift dabei nach der Tür und zieht sie hinter sich mit einem lauten Knall zu. Er legt das Türschloss um. Macht einen Schritt zurück und starrt die Tür an. Blut pumpt sich mit rasender Geschwindigkeit durch jede seiner Adern. Er spürt es an seinen Schläfen vorbeirauschen. Immer mehr Adrenalin in sein Gehirn. Das Herz pumpt wie eine wahnsinnige Fabrik. Seine Lungen gieren nun nach Sauerstoff, hastig pumpen sie Luft in seinen Körper und wieder hinaus. Alles funktioniert wie automatisch, und doch fühlt er sich machtlos über seine Knochen und Glieder. Die Angst hat sie einfach gelähmt. Sie mit Zement zugegossen.
Ein knatternder Schlag gegen die Tür reißt ihn aus seiner Paralyse. Heftig donnert es gegen die Bretter.
Er wirbelt herum. Seine Augen suchen den Ausgang. Er sieht flache, leere Wände. Eins, zwei, drei. In der vierten klafft die Tür, die sich beim nächsten Schlag schon fast aus den Angeln biegt.
„Nein!“, haucht er fassungslos. Die Wände sind kahl und leer. Eine Gummizelle aus Beton. „Nein, das kann nicht sein. Nein!“ Er rennt zur anderen Seite des kleinen viereckigen Raumes, tastet die Wände ab, schlägt mit der flachen Hand dagegen. Es gibt keinen Ausweg.
„Nein!“
Das Licht geht aus. Er beginnt zu zittern. Das Rauschen dringt zurück in die schwarze Stille.
„Lennart?“
Es folgt Musik. Swing. Eine weiche Männerstimme. Weihnachtsglocken. Englische Wörter die dem Sänger auf der Zunge schmelzen und aus den Lautsprechern tropfen. Bilder von Rentieren und roten Mänteln folgen ihnen. Erfüllen den blanken Raum. Und untermalen die wuchtigen Schläge gegen die Tür.
In blinder Panik drückt er die Taschenlampe seines Handys an, leuchtet auf die Tür. Er kann sehen, wie beim nächsten Schlag die Metallangeln nachgeben. Beinah wären sie ausgehoben worden. Und wieder donnert es mit voller Wucht gegen das Holz. In dessen Innern kann er den Metalldübel splittern hören, der die Tür verschlossen halten soll. Seine zitternden Finger fummeln den Schlüsselbund aus seiner anderen Hosentasche hervor. Er umklammert den größten Schlüssel, packt ihn in die Faust, wie eine Waffe. Dann stellt er sich neben die Tür. Atmet ein; aus. Ein; aus. Taschenlampe aus.

Das Holz zerberstet. Die Angeln verbiegen sich. Ein weiterer Ruck. Scheppernd fliegt die Tür zu Boden. Die Musik erstirbt, das Rauschen verebbt. Ein rasselndes, schweres Atmen erfüllt nun den Raum. Singt durch die Dunkelheit. Begleitet von einem beißendem Geruch nach Mensch. Haut und Fleisch, Dreck und Schweiß. Ein Zähneknirschen dringt in die Schwärze.
Dann surrt wieder die Klinge durch die Luft. Durch die Finsternis, direkt neben die Tür. Sie prallt klirrend gegen die Betonwand.

Er hockt auf den Knien darunter, spürt das rostige Metall das nur ein paar Zentimeter über seinem Kopf auf die Wand geschlagen ist. Mit zusammengebissenen Zähnen springt er hoch, die Faust voran, in der der lange Schlüssel steckt. Er rammt ihn mit Wucht in den Arm des Ungetüms. Das zackige Metall zerreißt die Hautschicht, dann bohrt es sich in das weiche Fleisch. Sofort schießt ihm warmes Blut entgegen, ergießt sich über sein Gesicht. Er dreht das Metall im Fleisch. Ein ungestümer Schrei dringt aus der Kehle des Ungetüms.
Ihn trifft eine Faust, er wird gegen die Wand zurückgeschleudert, er lässt den Schlüssel los.
Hastig springt er auf, durch den Türrahmen, aus der Vorratskammer, greift nach der Tür und wirft sie zu. Dreht das Türschloss. Drückt sofort das Licht der Taschenlampe an. Gedämpft hört er das Schreien. Dann den Schlüsselbund, der klirrend zu Boden fällt. Die schweren Schritte setzen sich wieder in Bewegung. Und schon donnert ein Schlag gegen die Tür.
„Scheiße...“ flucht er.
Auf der anderen Seite schreit das Ungetüm wutzerfressen und aus voller Kehle.
Er dreht sich um, lässt den Leuchtkegel schnell umherwandern, findet den Treppenabsatz und rennt los. Nur ein paar Stufen und er hat die Tür erreicht. Er drückt die Klinke herunter. Verschlossen. Er trommelt mit den Fäusten dagegen.
„Lass mich raus!“
Er schlägt mit voller Wucht dagegen, doch diese Tür ist nicht aus Holz. Es ist Stahl. Verzweifelt fängt er an dagegen zu treten. Er presst sich mit dem Rücken an die Wand und hebt das eine Bein um damit gegen die Tür zu pressen.
„Verdammt!“, schreit er verzweifelt. „Nein!“ Immer und immer wieder tritt er dagegen, doch die Tür regt sich nicht einmal einen Zentimeter. „Lass mich raus du altes Miststück!“, schreit er aus voller Kehle, dass es ihm auf den Stimmbändern brennt. Und immer wieder tritt er dagegen, holt aus, tritt, holt aus, tritt, holt aus, tritt, holt aus. Tritt.
Verzweiflung übermannt seine Panik. Seine Kehle verkrampft sich, er schluchzt nach Luft um nicht zu ersticken. Er spürt das warme Blut auf seinem Gesicht kleben, fühlt die Knochen in seinen Beinen die nicht mehr gegen das erbarmungslose Metall antreten können. Er sieht den kühlen, nüchternen Lichtkegel seiner Taschenlampe. Und hört das barbarische Schreien des menschlichen Ungetüms aus der Vorratskammer.
„Scheiße!“
Er rennt die Stufen wieder hinab. Vorbei an der Tür, deren Angeln schon verbogen sind. Einen Raum gibt es noch. Er wirft die Tür auf, schlägt sie hinter sich zu, dreht das Schloss. Sofort sucht er mit dem Leuchtkegel den Raum ab. In der rechten Ecke steht eine verkommene Küchenzeile. Eingetrocknetes, dunkles Zeug klebt an den Herdplatten, an den Schranktüren, überall. Ein Topf steht auf der Küchenzeile, daraus ragt etwas längliches, weißes. Schnell wendet er den Lichtstrahl ab. In der anderen Ecke steht ein Tisch. Er sucht die Wände ab. Nichts. Blanke Betonwände. Keine Türen, keine Fenster.
„Nein, nein, nein...“
Wahnsinn vermischt sich mit seiner Panik. Er weiß, dass es aussichtslos ist. Es gibt keinen Ausweg. Ein Lachen entrinnt seiner Kehle. Ein fassungsloses, wahnsinniges Auflachen.
„Scheiße...“, flucht er, Tränen in den Augen, das verzweifelte Lachen noch in der Kehle steckend. „Verdammte Scheiße...“ Er fährt sich durch die Haare. Geht in die Knie. Schluchzt auf, fühlt eine Träne aus seinem Auge fallen. Seine Finger krallen sich noch fester um das Handy. Hinter sich hört er die Tür zerbersten.
Er springt auf, reißt die Schubladen an der Küchenzeile auf, hektisch flackert das Licht und findet doch nur leere Schubladen. Die Hängeschränke: Leer. Er hört die Schritte näher kommen. Die rostige Klinge schleift über den Boden. Spielt ihre verstörter Weihnachtsmusik und schreit sie durch den kahlen Keller.
„Fuck!“
Er macht einen Satz zurück, befindet sich nun am anderen Ende des Raumes, gegenüber der Tür, neben dem Tisch. Sein Blick ist auf die Tür gerichtet. Der Lichtkegel ebenfalls. Gleich wird er beginnen die Tür einzuschlagen. Was dann...?
Und in diesem Moment dreht sich das Türschloss. Unschuldig klickt es durch die Dunkelheit. Sein Atem stockt. Der Blutkreislauf bleibt für einen Moment stehen.
Die Tür schwingt auf.
Die Taschenlampe leuchtet direkt in das Gesicht des Ungetüms. Es ist menschlich. Keine Frage. Aber was ist von diesem Menschen übrig geblieben. Sein Gesicht sieht aus, als hätte jemand die eine Hälfte weggefetzt. Die Augen stechen zwischen verkrusteten Wunden und Hautlappen hervor. Fixieren ihn. Die vernarbten Finger umklammern den Griff der rostigen Säge.
„Warte!“
Keiner der Beiden bewegt sich.
„Warte! Verstehst du nicht? Du... du bist Lennart, richtig?“
Er schweigt. Nur das keuchende Atmen fungiert als Antwort, dass er zuhört. Der Brustkorb hebt und senkt sich.
„Du... du willst hier doch auch raus, oder? Sie... diese Frau... sie hält dich gefangen. Verstehst du? Du... willst doch auch sehen was da draußen ist, oder?“
Der Brustkorb hebt und senkt sich. Die Augen bohren sich in seinen Kopf. Millimeter für Millimeter.
„Das ist nicht richtig. Du gehörst nicht hier her. Sie hält dich in ihrem Keller, wie.. wie... wie ein Tier. Du bist ein Mensch! R-richtig?“
Er hält den Lichtstrahl genau auf das Gesicht, auch wenn der Anblick ihn verstört. Eine schwarze Haarsträhne flattert vor der Fratze, als er Luft durch die Nase ausschnaubt.
„Wir können zusammen arbeiten. Zusammen können wir von hier fliehen. Dann bist du... frei. Das willst du doch auch, oder? Frei sein?“
Er schlägt mit der Säge auf den Boden ein.
Er schreckt zusammen. „Ja... Ja! Ja, das willst du. Und zusammen... verstehst du, wenn wir zusammen arbeiten, dann können wir von hier verschwinden!“
Einen Moment lang hallen die Versprechungen in dem Kellerraum wieder. Dann verzerrt sich die Narbe, die den Mund in diesem entstellten Gesicht ersetzt, zu einem grauenhaften Lächeln. Spitze, abgebrochene Zähne kommen zum Vorschein. Die Augen verengen sich. Schmerz liegt darin. Und dann folgt ein Lachen, geboren aus Verzweiflung und Wahnsinn, dem Unausweichlichen und dem Unerträglichen.
Er hebt die Rostklinge.
Er schaltet die Taschenlampe aus.

In der Dunkelheit surrt die Klinge umher. Sie trifft auf den Boden auf. Es scheppert laut. Sie prallt gegen die Wand. Beton bröselt herab. Er schreit auf, wirbelt die Klinge ziellos durch die Finsternis. Das brüllende Geräusch aus seiner Kehle vereint sein Leid und seine Wut. Seinen Hunger und seinen Schmerz. Dann trifft ihn ein harter Schlag mit etwas metallenem gegen den Kopf. Er taumelt zurück. Es hallt in seinem Kopf. Er spürt einen erneuten Schlag. Dann folgt ein Schwall aus breiiger Flüssigkeit. Sie spült sich in die Wunden in seinem Gesicht, dringt in seine Mundhöhle vor, fließt seinen Rachen hinunter. Er stolpert und fällt zu Boden.

Er lässt den Topf fallen. Das Ungetüm ist zu Boden gestrauchelt, die rote teilweise geronnene Flüssigkeit klebt an seinen Händen. Er hört ihn husten und nach Luft ringen. Schnell rennt er aus dem Raum, zurück in die Vorratskammer. Der Lichtkegel fährt suchend über die Regale hinweg. Alle leer. Die Truhe. Er atmet zweimal tief ein, dann nimmt er das Handy zwischen die Zähne, so dass er weiter auf die Truhe leuchten kann, packt den verschmierten Griff mit seinen klebrigen Händen und drückt den Deckel offen.
Entsetzt reißt er die Augen auf. In der Truhe liegen unzählige Körperteile. Beine, Arme, Hände. Ein undurchdringbares Gewühl aus Extremitäten. Bluttriefend. Definitiv nicht eingefroren. Bevor die Welle aus bestialischem Gestank ihn erreichen kann, seine Kehle mit schauderhaften Krallen umschließen kann, lässt er den Deckel wieder zu fallen.
Aus dem Nebenraum hört er ersticktes Husten. Er sieht seine Hände an. Sie sind rot. Blutrot.

Er sieht eines der Regale an. Wenn er eine Latte herausbricht, kann er ihn damit erschlagen. Entschlossen setzt er einen Schritt voran und greift nach dem Regal, als sein Fuß gegen etwas prallt. Er hört etwas klirren. Zitterndes Glas. Als er auf den Boden leuchtet, sieht er noch einige Luftbläschen in den Wasserflaschen aufsteigen.

Er beugt sich vor, hustet den Schleim aus seinen Lungen wieder heraus. Spuckt die zähe Flüssigkeit auf den Boden. Dann richtet er sich auf. Seine Hand tastet in der Dunkelheit nach der rostigen Säge. Er findet sie, stemmt sich damit auf die Beine und läuft los. Ein Klirren ertönt aus der Kammer.

Er kauert auf dem Boden. Das Licht ist wieder erloschen. In seinen zitternden, rotverschmierten Händen hält er eine halb zerbrochene Wasserflasche. Er hört die Schritte. Er spürt ihre Vibrationen im Boden. Er schließt die Augen. Der Moment naht.
Er grunzt, als er um die Ecke biegen will. Die Klinge entschlossen in der Hand.
Er holt aus, sticht wahllos in die Dunkelheit und spürt sofort, wie sich das spitze Glas in weiches Fleisch rammt.
Sofort schreit er auf. Haltlos vor Schmerz. Er geht in die Knie.
Er richtet sich auf, während er zu Boden geht. Erhebt die Waffe und lässt die gnadenlosen Glasspitzen hinab in die Dunkelheit fahren. Er trifft den Nacken. Als er hört, wie die Rostklinge zu Boden fällt, löst sich sein Griff um den Flaschenhals. Er hört ihn erstickt nach Luft ringen, Blut quillt seinen Hals hoch, seine Finger kratzen verzweifelt über den Boden, sein Körper erbebt und zittert.
Seien Finger schließen sich um den kühlen Griff der Säge. Sie ist schwer, aber sie fühlt sich gut an in seinem Griff. Sie fühlt sich richtig an. Die richtige Waffe. Er hebt sie hoch, über seinen Kopf. Sein Gesicht findet keinen Ausdruck. Nur das Blut das daran klebt gibt ihm eine Form in der schwarzen Finsternis. Dann lässt er die Klinge herabfahren. Der Rost fräst sich durch das Fleisch. Er presst fester. Reißt sie wieder hoch. Lässt sie wieder herabfahren. Bis sie auf Knochen trifft. Er beginnt zu sägen.

„Lass mich raus!“ Seine Stimme ist tonlos „Es ist vorbei.“ Er pocht gegen die Tür. Das schwere Metall ist kühl. Seine Hand noch warm von dem Blut, in das sie getränkt wurde. „Mach auf du Miststück!“ Er packt die Säge und schlägt damit gegen die Tür.
Langsam rinnt das rote Blut von seinen Fingern, tropft stetig hinab auf die Stufen.
„Lass mich raus!“
Es knistert in den Lautsprechern. Ein Rauschen. Dann ihre Stimme.
„Aber nein, mein Junge.“
„MACH...“, er tritt gegen die Tür „...AUF!“
Monotones Rauschen.
„Er ist tot! Verstehst du? Er ist weg. Tot. Willst du seinen Kopf sehen?“
„Das macht nichts.“
„Das macht nichts?!“, schreit er, dreht dabei den Kopf, weil er nicht weiß ob er gegen eine Tür oder einen Lautsprecher anschreien soll. „Lennart ist tot.“
„Das macht nichts.“, wiederholt sie.
Verzweifelt senkt er den Kopf, lehnt damit an der kühlen Metalltür. „Lass mich raus...“, murmelt er, (mehr) zu sich selbst, als zu irgendwem anders.
„DU bist jetzt Lennart.“
„Was...?“
Ein spitzes Auflachen. „Aber verstehst du denn nicht?“, fragt der Lautsprecher mit widerlich süßlicher Stimme, die wie eine Parodie auf seinen Dialog mit dem Unwesen klingt.
„Mach die SCHEIß Tür auf!“
„Lennart hat es fünf Jahre hier ausgehalten. Lass uns sehen, wie lange du es machst.“
„Was soll das....?“
„Weißt du, auch Lennart hat sich am Anfang gewehrt. Das haben sie alle. Er hat sich mit den Anderen verbündet. Sie wollten gemeinsam ausbrechen, fliehen, all dieses Unsinn... aber weißt du? Irgendwann wurde es ihm klar... irgendwann wusste er wie die Sache hier laufen würde. Irgendwann braucht der Mensch etwas zu essen, weißt du? Und Lennart erkannte schnell, was der Hunger aus ihm machen würde.“
Er sieht mit leerem Blick durch die Dunkelheit.
„Ich gebe euch allen eine faire Chance.“
„...lass mich raus...“
„Aber letztendlich....“

Das Licht geht an. Er hebt erschrocken die Hand vor die Augen. Es sticht kurz in seinen Pupillen.
„...seid ihr alle wie er.“
Die Weihnachtsmusik ertönt wieder. Sanft schwingt sie über die Stufen hinweg, vibriert im Rost der Säge, schmiegt sich in seine Ohren und kreischt über die Realität hinweg.
„Du bist jetzt Lennart.“, tönt die alte Stimme darüber.
Er sieht an sich herunter. Die rostige Säge wie ein Schwert in der Hand. Seine Kleidung ist blutverschmiert. Genauso seine Hände, Teile des Gesichts. Sein Blick ist leer. Als die Musik verstummt und das Licht erlischt, als totale Dunkelheit zurückkehrt, ertönt ein einziges, einsames Geräusch: Sein Magen knurrt.
 

lapismont

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Luqas,

eine sehr gute Story hast Du Dir für Deinen Einstand ausgesucht. Einige Grammatikfehler sind mir beim Lesen aufgefallen, aber nichts, was den Eindruck trüben kann.

cu
lap
 
Hi!!!

Zunächst mal finde ich es gut, dass du diese Geschichte im Präsens erzählst - bringt ein gutes Stück Dynamik rein. Vor allem im Mittelteil und gegen Ende kommt dies gut zur Geltung.
Aja, das Ende - echt fies das mit dem Hunger! Nunja, was weiter geschehen wird kann man sich denken...

Gefällt mir ganz gut deine Story! Ein wenig meckern kann ich freilich schon. Nicht das du mich falsch verstehst, ich finde deinen Stil ganz in Ordnung. Was mir jedoch teilweise fehlt ist die emotionale Komponente. Denn du versuchst die Geschichte vorwiegend durch ziemlich gutes und recht originelles Beschreiben der Umgebung und der Abläufe voranzutreiben. Ist bestimmt auch Geschmackssache. Aber mir persönlich würde es besser gefallen, wenn du noch mehr auf die Gedankenwelt des Protagonisten eingehen würdest. Deshalb von mir eine 7!

LG

Markus
 



 
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