Froschperspektive
Die chilenische Dichterin Gabriela Mistral hat ein sehr schönes Gedicht zum Menschwerden geschrieben. Sie geht davon aus, dass der Mensch bei seiner Geburt ein leerer Krug ist und dass alles, was während seines Lebens in den Krug hineingefüllt wird, den Menschen ausmacht.
Nun leben wir in einer Zeit, in der nicht nur Gutes in unseren Krug hineingefüllt wird. Wir werden am Ende unseres Lebens nicht nur gute, aber auch nicht nur schlechte Menschen sein - wir werden Menschen sein, wie wir geworden sind. Im Laufe unseres Lebens haben wir Gutes getan, aber auch Dinge, für die wir uns am Ende unseres Lebens vielleicht vor uns selbst schämen werden. Das ist menschlich.
Die christliche Vorstellung eines Urbildes des Menschen, wie Gott ihn geschaffen hat, wäre nach Gabriela Mistrals Vorstellung der leere Krug. Es wird kein fertiger Mensch geboren, der in allem dem christlichen Urbild entspricht, und das wusste auch Christus.
Ich denke, du hast das Gedicht geschrieben in Sorge um die politische, ethische und moralische Entwicklung nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt, die überschaubar geworden ist. Selbst wenn wir es wollten, können wir nicht so leben, wie es vielleicht unserer Vorstellung vom guten und gerechten Leben entspricht. Wir können nur immer wieder versuchen, das dem Menschen Feindliche, das den Menschen Zerstörende, das die Welt brutal beherrscht, zu bekämpfen. Von selbst und ohne Kampf wird es nicht verschwinden. Appelle und Gebete reichen da nicht aus.
Ich möchte noch auf deinen Gedanken, wir hätten "ihnen" oft genug den Ball zugespielt, eingehen. In der Geschichte der Menschheit gab es immer Opportunismus, Kleingläubigkeit, ja sogar den Verrat. Das hat uns Menschen, die wir für eine bessere Welt kämpfen, immer behindert. Oft wurde das Gute gegen das Schlechte eingetauscht aus Angst vor der völligen eigenen Vernichtung. Das Böse, die Welt Beherrschende, bekam dadurch freie Hand. Von Vorteil für uns war das Ballzuspielen also nie. Grund also, nachgegeben zu haben und darauf stolz zu sein, gibt es nicht.
Gegenwärtig sieht es so aus, als ob die Welt zu erschöpft sei, das Schlimmste zu verhindern. Das ist die Situation, in der wir Heutigen leben.
Ich hoffe, ich habe dich nicht gelangweilt.
Frdl. Gruß, blackout