Frühe Vorfälle (3)

Jeden Tag ging ich allein den Weg zum Kindergarten, den Bach entlang, an der Feuerwehr vorbei. Es war in den ersten Jahren des Krieges, aber auf der Straße drohten weniger Gefahren als heute und alle, denen ich begegnete, hätten mich behütet, wenn etwas Bedrohliches aufgetaucht wäre.
Vieles faszinierte mich: Pferdefuhrwerke, das Wehr an der Mühle, die schnatternden Gänse auf dem Bauernhof, die meinen Mut forderten, gelegentlich ein knatterndes Motorrad.
An einer Ecke wurde ein Haus gebaut, jeden Tag stellte ich Fortschritte fest. Als sie das Gebälk aufsetzten, beschloss ich den Fortgang zu überwachen. Nach dem Mittagessen ging ich nicht in meine Kindergruppe, sondern blieb an der Baustelle stehen, in sicherer Entfernung. Ich sah, wie die Zimmerleute die Arbeit unterbrachen, um ihre Brote zu essen, packte auch meine Schnitten aus und biss hinein. Manche, die vorbei kamen, bewunderten meine Ausdauer.
Doch sie hielt nicht lange genug, ich kam zu früh nach Hause, Mutter wunderte sich. Immer wieder wurde meine Geschichte erzählt und belacht. Den Hang zum Bauen habe ich wohl von meinem Opa geerbt; er war Maurerpolier.
Später, der Krieg war vorbei und ich ging auf die Oberschule, wurde neben unsrer Wohnung ein Haus errichtet. Ich schlich mich, gegen die Sicherheitsvorschriften, bei den Maurern ein, sah ihnen zu, frühstückte mit ihnen, machte kleine Handreichungen. Meine Mutter sah das mit Wohlwollen. Genau wie Vater!
Die Zeiten gingen dahin, ich studierte die Rechtswissenschaften. Meine Schwester und ihr Mann erarbeiteten sich ein Eigenheim in Selbsthilfe und alle Freunde halfen, ich aber rührte keinen Spaten an, sondern saß an einer systematischen Analyse der europäischen Verfassungen. Selbst als ich durch meine Frau ein Haus erbte, tat ich nichts zu seiner Unterhaltung, bestellte Handwerker oder ließ verfallen. Ganz und gar war ich in Anspruch genommen durch die Studien für mein Buch "Die Bewertung kriegerischer Handlungen in der Geschichte des Völkerrechts".
Wo sind die Erbanlagen meines Großvaters geblieben?
 
K

kuschelmuschel

Gast
Hallo Wilhelm,

zuerst eine Frage. Was bedeutet die (3)? Ist es das dritte Kapitel? Wohl eher nicht, oder? Also die dritte Überarbeitung, richtig?

Jetzt zum Text. Für eine Erzählung ist er mir deutlich zu kurz. Es kommt mir mehr wie ein Skript für eine Erzählung vor. Der Anfang gefällt mir gut, besonders, das der Junge seine Schnitten auspackt, als die Bauarbeiter Frühstückspause machten, aber ab da streifst du die Geschichte nur noch. Alles wird so kurz abgehandelt, das man nicht den Eindruck hat, es miterleben zu können. Ich würde mal vermuten, selbst wenn du die Geschichte, einem guten Freund erzählen würdest (mündlich) selbst dann würdest du sie mehr ausschmücken.

/Manche, die vorbei kamen, bewunderten meine Ausdauer.
Doch sie hielt nicht lange genug, ich kam zu früh nach Hause, Mutter wunderte sich/
Den Satz würde ich anders gestalten.

/Selbst als ich durch meine Frau ein Haus erbte, tat ich nichts zu seiner Unterhaltung, bestellte Handwerker oder ließ verfallen. /

Vor verfallen fehlt ein "es".

/aber auf der Straße drohten weniger Gefahren als heute und alle, denen ich begegnete, hätten mich behütet, wenn etwas Bedrohliches aufgetaucht wäre./

Den Satz würde ich streichen, der erste Teil hat so etwas moralisches, da er sich ja nicht auf den Vekehr, der im Laufe der Jahre zugenommen hat, bezieht, sondern darauf, dass die menschliche Gesellschaft schlechter geworden ist. Das ist eine Wertung, die nicht zu dem Inhalt des restlichen Textes passt.

"Sie erarbeiteten sich ein Eigenheim in Selbsthilfe"? Ich vermute mal, du meinst, sie haben ihr Haus größten Teils selbst gebaut. Mit den eigenen Händen sozusagen. Hier empfinde ich die Selbsthilfe als unglÜcklich gewählt. Erinnert doch zu sehr an Selbsthilfegruppen.

Also wie gesagt, wenn du alles so schön ausbaust wie die Einleitung, dann kriegst du eine wirklich gute Erzählung. Noch ein Beispiel: Sie setzten das Gebälk auf und er beschloss den Fortgang zu überwachen. Ich fände es spannend zu lesen, wie genau sie das Gebälk aufsetzten. So bleibt es für mich als Leser, doch sehr abstrakt. Aber unter Balken und Nägeln könnte ich mir was vorstellen und es würde die Geschichte farbig machen.

Viel Spass beim Ausarbeiten (Falls du es denn willst?).

Michael
 

Zefira

Mitglied
Hallo Wilhelm und Michael,

erst mal, in Michaels Richtung: "Frühe Vorfälle 1", ebenfalls in diesem Forum, beschreibt, wie der Erzähler ein Heft seines Vaters findet, mit Aufzeichnungen, die der Vater gemacht hat.

In "Frühe Vorfälle 2" ist die Schilderung sehr lebendig und unmittelbar. Dieser Text hier, da stimme ich Michael zu, wirkt dagegen merkwürdig gefiltert. Man hat den Eindruck, da wird etwas erzählt, was nicht dem Erzähler, sondern seinem Vater geschehen ist. Und so richtig klar ist das ja im Teil 2 und 3 auch nicht, wessen Jugend da eigentlich berichtet wird, die des Erzählers aus Teil 1 oder die seines Vaters, zweifach gefiltert also (erst vom Vater an den Sohn berichtet und dann vom Sohn wiedererzählt).

Es fehlt an lebendigen Einzelheiten, bis auf die Sache mit den Broten (die ist allerdings sehr sprechend). Auch dieser Satz "selbst als ich durch meine Frau ein Haus erbte..." befremdet. Hat der Erzähler seine Frau beerbt (dann müßte es doch heißen "von der Frau") oder ist sie die Erbin? Dann hat aber sie geerbt und nicht er. Und dann "bestellte Handwerker oder ließ verfallen" - hier wird zu sehr verkürzt. Hat der Erzähler über der Schreibmaschine gesessen, bis das Dach über ihm einstürzte?

Ich gebe Michael recht - ein wenig Ausarbeitung täte dem Text gut. Die psychische Entwicklung, die er andeutet, finde ich sehr spannend.

lG, Zefira
 
Liebe Zefira,
lieber Michael,

auf die Kritik im einzelnen lasse ich mich später ein, zunächst etwas zur Gesamtkonstruktion. In "Frühe Vorfälle 1" findet der Erzähler die Briefe und Notizen seines Vaters. Eigentlich liest er nur oder lässt andere lesen, was er von seinem Vater erfährt. Geschrieben hat also ein alter Mann, der inzwischen tot ist. Die Vorfälle ereignen sich zwischen 1940 und 1950.

Danke für eure Mühe
Wilhelm Riedel
 



 
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