Frühlingsspaziergang

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schreibhexe

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Ein herrlicher Sonnentag im Mai, genau richtig, um mit meiner kleinen Tochter den Heimweg zu Fuß durch den Park anzutreten statt mit der Straßenbahn.

Die Kleine jauchzt in ihrem Kinderwagen, und ich genieße es, durchs Gras entlang der Hecken zu gehen, und nicht auf den asphaltierten Wegen. Ich schnuppere Blütenduft und den Geruch jungen Buchenlaubes. Frisch entfaltet sind die Knospen, lichtgrün und zart scheinen die Blätter gegen die Sonne. Maikäferduft ... Die Bäumchen sind klein und biegsam und leicht zu schütteln. Aber kein Maikäfer fällt ins Gras.

Die Häuser der Stadt sind weit zurück getreten. Sanft gewellt liegen die Parkwiesen vor uns. Bei einer Bank rasten wir. Mein Töchterchen sitzt m Gras auf meinem Mantel und rupft Gänseblümchen aus. Ich hocke mich zu ihr, wir spielen und lachen.

Den Mann habe ich kaum bemerkt. Plötzlich steht er mit seinem Schäferhund vor uns, sucht Kontakt, lobt das Kind. Eine unangenehme Gestalt, abgerissen, aufdringlich, riecht nach Schnaps. Seltsam beklommen bleibe ich einsilbig, will ihn loswerden, will meine Ruhe. Schließlich geht er. Gott sei Dank!

Auch wir wandern weiter. Der Park endet, Brachland beginnt. In diese Gegend hat mich mein Weg noch nie geführt. Aber schön ist es hier. Brombeergewirr mit unzähligen weißen Blüten besetzt, hohe Gräser noch aus dem Vorjahr, gelbe Huflattichsterne frisch durch Geröll an der Böschung gesprossen. Ein Amselmann schmettert ein Lied für seine Liebste, Kohlmeisen schlagen, und in der Ferne hören wir einen Kuckuck rufen.

Der asphaltierte Weg ist längst einem steinigen Trampelpfad gewichen. Ein weites, ebenes steppenartiges Gelände voller Sonne, niedriger Sträucher und Tümpel vom letzten Regen liegt vor uns. Seitlich rechts abseits ... ich werde verrückt! Eine Schafherde! Mitten in der Stadt!

Das muss ich meiner Kleinen zeigen. Zielstrebig steuere ich darauf zu.

Wir stoßen auf einen heckenumsäumten Fahrweg. Hinter der Kurve liegt vor uns eine merkwürdige Ansammlung kleiner, einförmig gebauter, weißer Häuser: Spitzgiebel bis fast auf die Erde, ineinander verschachtelt. Adrett sieht das aus. Aber fremdartig. Ist das die Zigeunersiedlung, von der ich einmal gelesen habe? Seinerzeit waren hier für eine Gruppe Roma eigene kleine Wohnhäuser gebaut worden, damit ihnen das Sesshaftwerden leichter falle, weit draußen in sicherer Entfernung von der heimischen Bevölkerung. Die alte Angst trennt immer noch. Ich glaube, das ist die Siedlung. Nett sieht das aus. Fast romantisch.

Ein Stück weiter, verdeckt durch die Hecke, weidet die Schafherde. Das Gelände ist umzäunt mit hohem Maschendraht. Ich finde den Eingang, muss aber sachte fahren, denn es geht über holpriges Gelände. Der Schäfer ist ein alter Mann, eine Bilderbuchgestalt: Mit langem weißen Bart, buschigen Augenbrauen, dichtem weißen Haar, von dem das wettergegerbte, runzlige Gesicht umrahmt wird. Drei Hunde umkreisen die Herde. Die Lämmer blöken. Als wir kommen, weichen die Schafe zurück. Wir stören.

Schwerfällig kommt ein Gespräch in Gang. Ich verstehe den Mann schlecht. Er ist Spanier und spricht gebrochen und undeutlich. Ja, die Schäferei ... Das wirft nicht viel ab. Er kann das auch nur zusammen mit seinem Kameraden machen. Während er die Schafe hütet, arbeitet der in der nahen Autofabrik. Später, nach Schichtende werden sie sich abwechseln. Die Siedlung da drüben? Ja, das sind Zigeuner. Pack, das zu faul ist zum Arbeiten. Und dreckig. Mit denen wolle er nichts zu tun haben.

Die Sonne strahlt nicht mehr ganz so hell. Ich verabschiede mich. Im Südwesten wird es dunkler. Ein Gewitter droht, ich muss mich beeilen.

Zurück zur Zigeunersiedlung. Hinter einer Häuserecke, riesige Lettern an einer fleckigen Hauswand, poppig aufgemacht: Sozialzentrum. Verein katholischer Männer.

Vor mir Hundegekläff. Der Mann aus dem Park steht auf der Straße, um ihn herum tanzen zwei Schäferhunde. Einer der beiden rast pfeilgerade auf uns zu, mein Töchterchen stößt einen spitzen Angstschrei aus. Ich versuche, das Kind zu beruhigen, der Hund spielt verrückt, rennt zurück, jagt wieder auf uns zu.

„Rufen Sie den Hund zurück!“ herrsche ich den Mann an.
„Er tut Ihnen nichts.“ kommt die Antwort. „Das ist ein guter Hund, der gehorcht aufs Wort. Komm, komm her!“

Der Hund umtanzt den Mann, umtanzt uns und wieder den Mann. Der andere Hund ist längst von einem Zigeunerjungen zurückgepfiffen worden und wird nun von ihm am Halsband festgehalten. Vor ihm sind wir sicher. Der Junge, 16, 17 Jahre alt, ruft:

„Zeigen Sie ihn doch an! Der hat hier nichts zu suchen!“

Ich beeile mich, wegzukommen. Im Zurückschauen sehe ich, wie der Junge den Mann angreift. Ihn mit Ohrfeigen traktiert, mit Fußtritten. Der Mann schwankt, hat keine Chance. Mitleid und Zorn erfassen mich. Doch mein Impuls einzugreifen wird durch Angst erstickt, Angst vor dem Hund und um mein Kind.

Es ist finster geworden. Dunkle Wolken überziehen den Himmel. Bald wird es regnen.

Weiter, nur weiter. Ich biege um die Ecke und – pralle zurück. Schrottplätze umgeben mich und rechts der Bahndamm. Hohe, windschief in den Angeln hängende verrostete Blechwände grenzen die Straße von ihnen ab und werden überragt von riesigen Halden zerstörter, zerquetschter, aufgerissener Autoleiber, alles Wracks vergangener Karambolagen. Gegenüber kreischt und donnert ein Güterwagen vorbei, knallen rangierte Waggons aneinander, beladen mit Tanks voll Benzin.

Links entfalten Fliederbäume ihre Pracht zwischen vergammelten Baracken. Schrebergärten unterbrechen die endlose Reihe der Autoverwertungsanlagen. Eine Orgie von Grün und Blüten steigert den Kontrast, so dass es schmerzt. Zwischen Autoskeletten hängen Wäscheleinen, stehen Wohnwagen. Und überall Hundegebell, überall Schilder mit der Aufschrift: „Vorsicht, bissiger Hund!“

Das Misstrauen gegeneinander lässt sich fast körperlich spüren. Die Ausgestoßenen stoßen sich gegenseitig aus. Neugierige Blicke verfolgen uns. Was haben wir hier zu suchen?

Ich friere. Längst habe ich das Kinderwagenverdeck aufgespannt und meinen Mantel um meine Kleine gewickelt. Wir müssen weg hier, schnell. Am Horizont das erste Wetterleuchten. Donnergrollen mischt sich in die Kakophonie des Rangierbahnhofs. Mein Kind schreit.

Zwischen zwei Schrottplätzen ein Sandweg. Kopflos folge ich ihm, er könnte ja eine Abkürzung sein, aber er endet in einer Kiesgrube und ich muss umkehren. Diesig-dunkel ist es jetzt. Böen erheben sich, wirbeln auf dem Weg kleine Kreisel aus Sand auf, die Baumkronen rauschen und biegen sich bedrohlich. Erste Blitze zucken nicht mehr weit. Die Abstände zwischen Blitz und Donnergrollen werden kleiner und die Straße am Bahndamm ist noch lang.

Wir können nicht weiter, müssen nach Obdach suchen. Im Winkel einer Hütte für die Kiesgrubenarbeiter finden wir Unterstand. Gerade so viel Schutz, dass die Böen uns nichts anhaben können und wir halbwegs trocken bleiben, wenn es regnet. Ich sehe die Regenfront schon kommen und leicht fängt es an zu tröpfeln.

Wieder hocke ich mich zu meiner Kleinen, doch diesmal nicht zum Spielen, sondern um ihr etwas von ihrem Schrecken zu nehmen. Das Donnern ängstigt sie. Ich halte sie im Arm, singe ihr ein Kinderlied nach dem anderen ins Ohr und wiege sie hin und her. Dabei zittere ich vor Kälte.

Der Wolkenbruch lässt sich nun nicht mehr aufhalten. Riesige Tropfen prasseln aufs Dach, auf den Boden, schlagen kleine Krater in den Sand, der im nächsten Augenblick zu dickem Brei verschmilzt und augenblicklich in kleinen Rinnsalen, dann Bächen den leicht abschüssigen Weg hinunter gespült wird. Den Kinderwagen habe ich ganz dicht zu mir mit dem Rücken zum Wetter gestellt. Eine kleine Trutzburg. Was jetzt wohl der Schäfer mit seiner Herde macht? Einen Unterstand hatte ich bei ihm nicht gesehen.

Die Regenstreifen stehen schräg im Wind, vom noch warmen Boden dampft es neblig. Ein würziger, erdiger Geruch steigt auf. Der Himmel ist jetzt schwefelgelb geworden, keine Wolken mehr zu unterscheiden, und im Westen scheint es heller zu werden. Erinnerungen steigen auf, während es so prasselt und der Regensturm Blätter und Blüten von den Zweigen fetzt. Wie ich als Kind dieses Wetter liebte. Diesen Aufruhr der Elemente. Wie ich mit Robert aus dem Struwwelpeter vom Sturm durch den Himmel getragen und in einem ganz anderen Land abgesetzt werden wollte. Wie meine Mutter sagte „Meine fliegende Roberta“ und „Es heitert sich auf zum Wolkenbruch.“ Und wie wir Kinder nach Besänftigung des Gewitters mit klatschnassen Haaren und Kleidern durch den rauschenden Sommerregen tanzten.

Auch jetzt werde ich nass, wenn auch unfreiwillig. Allmählich entfernt sich das Gewitter nach Osten, der Sturm lässt nach, der Regen verrinnt, die ersten Sonnenstrahlen brechen durch die Wolken und glitzern in all den Regentropfen, die an den Zweigen, im Laub, an der Dachrinne hängen. Und tatsächlich werden wir belohnt mit dem prächtigsten doppelten Regenbogen, der je zu sehen war. Staunend sieht ihn mein Töchterchen und möchte ihn greifen. Ich verspreche ihr, dass ich sie zu ihm fahre und wir machen uns schnell auf den Weg, die lange Straße am Bahndamm entlang bis zu den ersten Hochhäusern, die wieder Leben anzeigen, wie ich es gewöhnt bin.

Den Anfang des Regenbogens haben wir nicht finden können, doch am nächsten Tag fand ich eine Notiz in der Lokalzeitung. Ein Mann mittleren Alters war leblos in der Nähe des Bahndamms entdeckt worden, ertrunken in einer Regenpfütze, in die er in alkoholisiertem Zustand wohl während des Unwetters gestürzt war. Das Gesicht war angeschwollen und wies dunkelrote Blutergüsse auf. Die Todesursache waren sie jedoch nicht. Wahrscheinlich ein Obdachloser. Sein Hund hatte die ganze Zeit bei ihm gesessen und niemanden an den Toten herankommen lassen, bis er durch einen Schuss niedergestreckt wurde
 

Tante Oma

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Hallo Schreibhexe!

Du hast die Geschichte sehr gut geschrieben.
Man kann sich alles gut vorstellen!

Herzliche Grüße
Tante Oma
 



 
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