Fünf Blütenblätter hat das Mauerblümchen

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Ralph Ronneberger

Foren-Redakteur
Teammitglied
Fünf Blütenblätter hat das Mauerblümchen

„Heut ist ein wunderschöner Tag!
Die Sonne lacht uns so hell!
Und wie ein heller Glooockenschlag
Grüßt uns die lockende Feeeerne…“​
So plärrte es aus dem Lautsprecher, der neben dem Eingang der Turnhalle hing. Dieses, mit soviel Inbrunst von einem Pionierchor intonierte Lied, hatte mich jäh aus dem Schlaf gerissen. Vergeblich wälzte mich auf die andere Seite und versuchte, diese ekelhaft munteren Stimmen der jugendlichen Sänger zu ignorieren.
Widerwillig öffnete ich die Augen und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an, das durch die hohen Hallenfenster herein brach und in dessen Strahlen sich Millionen feinster Staubpartikel tummelten.

„Guten Morgen, liebe Pioniere. Hoffentlich habt ihr gut geschlafen. Heute werden wir wieder…“​

Am liebsten hätte ich jetzt einen meiner Turnschuhe oder gar die noch halbvolle Feldflasche geschnappt und sie gegen den blöden Lautsprecher gepfeffert. Aber ich kann nicht gut werfen. Sonst wäre ich vielleicht Handballer geworden. Von Haus aus war ich ohnehin alles andere als sportlich erzogen worden. Meine Sportlehrer resignierten allesamt. Das änderte sich erst, als mein Freund Harald mich eines Tages fragte: „Gommsde midd zum Judo?“
Mein spontanes „Ja“ bereute ich schon, unmittelbar nachdem es mir über die Lippen gekommen war. Doch zu seinem Wort muss man stehen.
Das war vor zwei Jahren. Seitdem war ich zweimal wöchentlich brav mit Harald zum Training getrottet und hatte nach und nach Geschmack an der Sache gefunden. Tja – und seit drei Monaten durfte ich mich Bezirksmeister nennen. Ich war stolz wie ein Ritter, als man mir zum Abschluss der Wettkämpfe die Goldmedaille umhängte. Kein echtes Gold, nur eine eloxsierte Aluplakette, aber für mich von großem ideellem Wert. Übrigens – Harald trug den gleichen Titel. Er startete allerdings eine Gewichtsklasse über mir.

Die Turnhalle wirkte wie ein riesiger Bienenstock. Die vielfältigen Geräusche verschmolzen zu einem nie abreißenden Summen. Die Bienen waren wir. Hundertfünfzig Mann auf sechs Reihen Stroh. Diesmal waren die Sportler unter sich. Vielleicht hatte man uns in dieses miese Massenquartier gelegt, weil man glaubte, dass wir härter im Nehmen seien als die „Kultur-Mimosen“ oder die Angehörigen der „Funktionärsriege“.
Also lagen hier hübsch aufgereiht: all die Boxer, Ringer, Turner, Schwimmer, Fechter, Leichtathleten, Judokas und… und…, die den Bezirk Leipzig bei der zentralen Pionierspartakiade zu vertreten hatten.

Die Kinder- und Jugendspartakiade gab es damals noch nicht, und so wurden unsere Wettkämpfe an das DDR-weite Pioniertreffen, das alle vier Jahre stattfand, gekoppelt. Diesmal fungierte Erfurt als Gastgeberstadt.
Waren wir zunächst davon ausgegangen, zu diesem Zweck schlicht nach Erfurt zu reisen, sahen wir uns gründlich getäuscht.
Bekanntlich lautete der Gruß an die Jungen Pioniere: „Für Frieden und Völkerfreundschaft, seid bereit!“ Worauf wir mit über dem Kopf erhobener Hand ein kämpferisches „Immer bereit!“ zu schmettern hatten. Später wurde „Völkerfreundschaft“ durch „Sozialismus“ ersetzt, aber da war ich schon in der FDJ.
Wer also immer für den Frieden bereit zu sein hatte, musste auch damit rechnen, beim Wort genommen zu werden. Einige findige Organisatoren waren auf die Idee gekommen, uns für den Frieden marschieren zu lassen. So kam es, dass die Teilnehmer am Pioniertreffen schlappe hundert Kilometer „Friedensmarsch“ verordnet bekamen. Auch wir Sportler blieben davon nicht ausgenommen. Die Gefahr, dass sich zum Beispiel ein Leichtathlet dabei Blasen holen oder ein Radfahrer sich den Wolf laufen könnte, schien einkalkuliert.
Vor vier Tagen an verschiedenen Punkten Westthüringens gestartet, hatten sich drei Marschblöcke zu je sechshundert Pionieren aus dem Bezirk Leipzig sternförmig auf Mühlhausen zu bewegt. Nach einem Ruhetag sollte es dann gemeinsam in Richtung Erfurt weiter gehen.

Ich lag noch im Stroh und besaß ums Verrecken keine Lust, mich aus den warmen Decken zu schälen. Daran vermochte auch die freundliche Augustsonne nichts zu ändern. Meiner Müdigkeit tat sie keinen Abbruch.
Gestern war es aber auch wieder reichlich spät geworden. Wir hatten den freien Tag genossen. Endlich einmal keine Märsche. Ohne Gepäck konnten wir ungezwungen durch die Straßen von Mühlhausen bummeln, Brause trinken, Eis essen und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Die Stadt wimmelte von Pionieren, und ständig traf man Bekannte. Wir besuchten Kulturprogramme, die an allen Ecken aufgeführt wurden oder versuchten uns auf der Bastelstraße bei der Anfertigung kleiner „Kunstwerke“. Angesichts meiner zwei linken Pfoten musste ich jedoch rasch feststellen, dass das, was ich da zustande gebracht hatte, eigentlich nur zum Wegschmeißen taugte.
Am späten Nachmittag waren auch wir an der Reihe gekommen, um dem Publikum etwas zu bieten. Der Marktplatz wurde unsere Bühne. Bei so vielen erwartungsvollen Zuschauern gaben wir uns besondere Mühe. Harald und ich, ein seit langem aufeinander eingespieltes Duo, liefen bei den Schaukämpfen wieder einmal zur Höchstform auf.

Das Summen im Bienenstock wurde lauter. Die meisten waren nun aufgestanden und wühlten in ihren Sachen. Am Nachmittag sollten wir von Mühlhausen abmarschieren. Also war man gut beraten, schon jetzt sein Gepäck zu ordnen. Ich beobachtete den feinen Staub, der vom Stroh aufstieg und in den Sonnenstrahlen zu tanzen schien. Nicht lange, denn Harald riss mir die Decke weg und nannte mich einen verpennten Sack.
Maulend folgte ich ihm auf den Hof, wo man die Waschanlage installiert hatte. Sie bestand aus mehreren, in etwa zwei Meter Höhe parallel verlegten Rohren, die man in regelmäßigen Abständen angebohrt hatte. Aus den Löchern drangen dünne Wasserfäden, die wenig über dem Erdboden von Blechrinnen aufgefangen wurden. Wir brauchten nur den Oberkörper zwischen Rohr und Rinne zu bringen, und schon konnte die Wäsche beginnen. Aber hier herrschte ein maßloses Gedränge, und ich musste lange warten, ehe ich einen solchen Wasserstrahl ergattert hatte. Ich wusch mich nur flüchtig, denn von hinten wurde kräftig geschubst.
Eine Viertelstunde später eilten wir durch das erwachende Mühlhausen. Der Hunger trieb uns vorwärts. Das Frühstück fanden wir im Speiseraum einer Fabrik für uns vorbereitet. Es bestand aus drei Scheiben Weißbrot, einem Klecks Butter und sehr viel Marmelade. Und weil heute Sonntag war, bekam ein Jeder noch einen großen Beutel mit Süßigkeiten in die Hand gedrückt. Schnell wurde der Inhalt überprüft. Ein Päckchen mit Schokoladenkeksen, eine Tüte Bonbons, ein Täfelchen Vitalade und… Ich stutzte, als ich auf die Beutel meiner Tischnachbarn schaute. Die hatten alle noch eine Zellophantüte mit buntem Puffreis im Beutel. Nur ich nicht! Na, das war doch wohl die Höhe!
Schon wollte ich aufspringen und zum Ausgabeschalter stürmen, um dort meine Reklamation los zu werden, da betraten einige Männer mit gewichtigen Mienen den Saal und verlangten sofort um Ruhe. An ihrem Äußeren und ihrem Auftreten erkannten wir sofort, daß es sich um höhere Funktionäre handeln musste. Schon vernahm man auch aus allen Ecken des Raumes dieses beschwörende „Pschscht“ der Gruppenbetreuer.
Das laute Stimmengewirr verebbte. Man war neugierig, denn bestimmt würden wir jetzt etwas Wichtiges über den Ablauf der weiteren Tage erfahren. Aber Pustekuchen. Der Mann, der sich zum Redner aufschwang, erging sich stattdessen in sattsam bekannten politischen Phrasen, die keine Sau zur Kenntnis nahm. Obwohl die zahlreichen Helfer immer wieder zischten, kam nach und nach wieder leises Gemurmel auf.
„Scheiße, vorgess’n die doch eefach bei mir dän Buffreis neinzedun“, maulte ich immer noch aufgebracht.
„Gannsd mein hamm!“, bot mir Harald in ungewohnter Großzügigkeit an. Aber dann setzte er erklärend hinzu: „Isch fress das Zeich nämlisch nich so gerne.“
Der Redner wurde lauter und zwang uns damit, wenigstens mit einem halben Ohr hinzuhören. Er erzählte lang und breit von den Bonner Kriegstreibern, denen man das Handwerk legen müsste – nichts Neues also.
Doch dann war da plötzlich die Rede von Schiebern und Spekulanten, die sich die offene Grenze zu Westberlin zunutze machten, um die DDR schamlos auszuplündern. Auch, daß man die besten Fachkräfte in den Westen locken würde und unser Land daher unter einem Mangel an Ärzten, Wissenschaftlern und Ingenieuren zu leiden hätte. Und dann die ständigen Diversionsakte. Sogar von Spionage und Sabotage war die Rede.
„Aber ab heute ist damit Schluß! Die Grenze zu Westberlin wurde am Morgen geschlossen. Unsere bewährten Kampfgruppen der Arbeiterklasse stellen gemeinsam mit den Kräften unserer Nationalen Volksarmee sicher, dass von nun an jeder Bürger in unserem Staat ungestört seiner friedlichen Arbeit nachgehen und seinen persönlichen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus leisten kann.“
„Gibbds Griesch?“, flüsterte der kleine Christian, unser Leichtgewichtler.
„Gwadsch, die lassen bloß geen mähr niebor!“, glaubte der schwergewichtige Stefan zu wissen.
„Die Bärlinor gonnden wo bishär immer so rieber un nieber, wie se wolld’n?“ fragte Reiner und schüttelte verwundert den Kopf..
„Glar. Hammor doch vorsches Jahr och gemachd, schdimmds Ronne?“
Harald schaute um Bestätigung suchend zu mir. Ich erinnerte mich und nickte. Im vergangenen Jahr hatten wir gemeinsam einen Teil unserer großen Ferien in einem Pionierlager bei Groß Köris verbracht. Von dort aus hatte es auch einen Tagesausflug nach Berlin gegeben. Beim Besuch des Brandenburger Tores hatten wir uns ein wenig abgeseilt und Westberliner Territorium betreten. Es mochten noch keine zehn Meter gewesen sein, die wir in „Feindesland“ eingedrungen waren, als man uns entdeckt und rasch wieder eingesammelt hatte.

Der Redner kam zum Schluß.
„Für Frieden und Völkerfreundschaft – seid bereit!“
„Immer bereits!“ brüllten wir zurück und in unsere fröhlichen Stimmen mischte sich Erleichterung. Endlich hatte das Gequassel ein Ende. Viel hatten wir davon ohnehin nicht kapiert.
Kaum kehrten die hohen Herren den Rücken, da entstand Gedrängel. Alles wollte hinaus in die Sonne.
Ich besaß meine liebe Mühe, um mich bis zum Essenschalter durchzudrängeln. Zum Glück lungerten dort noch zwei Küchenfrauen herum. Ihnen versuchte ich zu erklären, daß man mich um den Puffreis beschissen hatte. Als Beweis schwenkte ich meine Zellophantüte mit den Süßigkeiten.
„Habsch noch nich offgemachd, Ährnword!“, beteuerte ich.
Die Damen blickten mich mürrisch an und schienen sich nicht schlüssig zu sein. Ich ging auf die Zehenspitzen und erspähte in einer Ecke hinter dem Abwaschtisch einen Karton, der noch etliche von den begehrten Puffreistüten enthielt. Ein furchtbarer Verdacht kam in mir auf. Die horteten das Zeug, um es klammheimlich in den Westen zu schmuggeln!
„Abor dadormid iss jetz Sense. De Gränze iss dichde!”, sagte ich im triumphierenden Tonfall.
Die Frauen guckten mich ratlos an. Die eine machte sogar eine eindeutige Handbewegung, mit der sie wohl andeuten wollte, dass ich meschugge sei. Aber das interessierte mich nicht. Meine ganze Aufmerksamkeit galt ihrer Kollegin, die mir die so lange vorenthaltene Puffreistüte über den Tresen schob
Zufrieden trollte ich mich zum Ausgang und machte mich auf die Suche nach meinen Kumpels. Ich fand sie auf dem Fabrikhof. Unser Trainer stand bei ihnen und verteilte irgendwelche Zettel.
„Da bist du ja endlich!“, knurrte er mich an und drückt mir eines der Blätter in die Hand.
Es handelte sich um einen eilig hergestellten Ormik-Abzug. Darauf war eine stilisierte Blume zu erkennen, welche die ganze Seite bedeckte. Darüber stand in schlecht gesetzten Druckbuchstaben:

„Antifaschistischer Schutzwall - für Frieden und Sozialismus!“

Mehr nicht. Die Rückseite war leer.
„Ihr nehmt jetzt die Blätter und geht in die Stadt. Dort sprecht ihr Passanten an und bittet sie um eine Unterschrift. Auf jedes Blütenblatt gehört eine Signatur. Das ist eure Aufgabe für den Vormittag. Wenn die Unterschriften vollständig sind, gebt ihr die Blätter beim Organisationsbüro am Markt ab. Alles verstanden?“
Wir nickten. Was soll es daran nicht zu verstehen geben? Aus fünf Blütenblättern bestand die Blume. Wir würden doch locker fünf Unterschriften zusammen kriegen.

Wir trabten los. Unser Ziel war die Innenstadt. Als wir am Markt ankamen, sahen wir, wie sich der erste Marschblock bereits formierte. Die Spitze bildete ein Fanfarenzug. Mit klingendem Spiel zogen die sechshundert Mädchen und Jungen aus der Stadt. Unter den Marschierenden entdeckte ich eine Klassenkameradin. Ich rief nach ihr und winke ihr zu. Doch bei dem allgemeinen Lärm hörte sie mich nicht. Außerdem besaß sie wohl die wichtige Aufgabe, mit darauf zu achten, dass die Marschkolonne nicht durcheinander kam. Schließlich begleitete sie an unserer Schule das Amt der Freunschaftsratsvorsitzenden, war also dort der ranghöchste Pionier und daher von der Bedeutung ihrer Aufgabe sicherlich auch hier komplett durchdrungen.
Während ich noch nach ihr schaute, tippte mir Harald auf die Schulter und hielt mir stolz sein Blatt unter die Nase.
„De erschde habsch!“
Er meinte eine Unterschrift. Er hatte sie einer älteren Dame abgeluchst.
Obwohl der erste Marschblock schon auf dem Weg aus der Stadt war, sausen noch immer über tausend Pioniere durch Mühlhausen. Und alle brauchten wenigstens fünf Unterschriften. Ein schier aussichtsloses Unterfangen. Obendrein fiel uns auf, daß nur herzlich wenig Mühlhausener auf den Beinen waren. Und das am Sonntag, bei diesem herrlichen Wetter und dem vielen Trubel in der Stadt. Wenn mal wieder ein Opfer in Sicht kam, stürzten wir uns sofort darauf. Doch meist wurde uns eine Abfuhr erteilt.
„Was denn? Schon wieder? Ich habe doch gerade erst...“
„Mensch Jungs, laßt mich zufrieden. Mit Politik habe ich nichts am Hut.“
Ein älterer Mann wurde richtig wütend, als wir ihm unsere Zettel unter die Nase hielten. Zumindest erkannten wir das an seinem grimmigen Gesicht und den zornigen Blicken, die er uns zuwarf. Ich verstand das nicht. Wir wollten ihn doch gar nicht ärgern. Ich bemerkte, wie er ein paar Mal den Mund öffnete, als wolle er etwas Unflätiges sagen. Doch er schluckte die Worte immer wieder herunter, bevor sie ihm über die Lippen kamen. Schließlich hören wir ihn halblaut zischen: „Ach leckt mich doch am Arsch, ihr Pimpfe!“
Nur die ganz Hartnäckigen unter uns bekamen hin und wieder eine Unterschrift. Wir hatten uns das wahrlich etwas einfacher vorgestellt.

Die Hitze machte durstig. Wir beschlossen daher, erst einmal etwas dagegen zu unternehmen, ehe wir weiter machten. Also wurde die nächst beste Kneipe angesteuert. Durch die winzigen Fenster drang nur wenig Licht in die spärlich besetzte Gaststube. Aber es war wenigstens angenehm kühl hier. Blinzelnd suchten wir uns einen Tisch und bestellen jeder ein großes Glas roter Fassbrause. Ach das zischt in der Kehle. Da sah die Welt gleich ganz anders aus.
Wir zogen Bilanz. Harald und Christian hatten je drei Unterschriften. Stefan zwei. Die Blätter von Reiner und mir präsentierten sich noch blütenweiß. Reiner rollte verzweifelt mit den Augen. Dann fasste er sich ein Herz und bat den Wirt, ihm eine Unterschrift zu geben. Der zögerte eine Weile und schaute zu den wenigen Gästen, die sich in der großen Schankstube fast verloren. Erst als er sich sicher schien, dass niemand Notiz von der kleinen Szene nahm, nickte er schließlich und griff nach dem dargebotenen Kugelschreiber. Als er unterschrieben hatte, schob ich ihm mit flehender Miene mein Blatt zu. Und auch ich erhielt den Namenszug des Wirtes.
„Na gut, Jungs. Gebt alle her“, sagte er schließlich und unterschrieb auch bei den Anderen.
Dann erkundigte er sich, ob wir noch eine Brause wollten. Ja, wir wollten.
Ich schaute auf mein Blatt und war mir sicher, dass ich es nie voll bekommen würde. Doch dann kam mir die rettende Idee.
„Wissd ihr was? Eechendlich binsch och dafier, dass se de Gränze zugemachd hamm.“
Schon zückte ich mein Schreibgerät und kritzelte meinen Namen in eines der vier noch leeren Blütenblätter.
„Sinn mir doch alle!“, grinste Stefan.
Er hatte am schnellsten kapiert und zog mein Blatt zu sich herüber. Zack – das war die dritte Unterschrift. Und so ging das weiter.
Als wir uns die Blätter alle gegenseitig unterschrieben hatten, lehnten wir uns zufrieden zurück. Nun vermochte man die Brause in aller Ruhe zu genießen. Die blöde Unterschriftenaktion rückte völlig in den Hintergrund. Unsere Gedanken richteten sich nach vorn. Noch heute würden auch wir Mühlhausen verlassen. Erfurt erschien uns zwar noch verdammt weit, aber in vier Tagen würden dort endlich die Wettkämpfe beginnen. Spätestens bis zu diesem Zeitpunkt mussten wir dort angekommen sein.
„Midd Loofen schaffen mir das nie“, behauptete Stefan.
Wir gaben ihm Recht. Seit wir vor vier Tagen in Worbis aufgebrochen waren, hatten wir täglich nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Kilometer geschafft.
„E Schdigge wärn se uns schon noch fahrn missen, damidd mor bingdlich da sinn.“
Alles nickte. Drei Wochen Trainingslager im Zittauer Gebirge lagen hinter uns. Wir fühlten uns gut vorbereitet und wir waren heiß auf die DDR-Meisterschaften, wie wir die Pionierspartakiade zu nennen pflegten.
„Dor wievielde iss’n heide eeschendlisch?“
„Dor dreizähnde!“

13. August 1961!
Wir saßen in aller Gemütlichkeit in einer Kneipe bei Faßbrause und ahnten nicht, daß wir gerade einen Tag erlebten, der in die Weltgeschichte eingehen würde. Während wir über mögliche Chancen bei der bevorstehenden Meisterschaft spekulierten, schwangen im fernen Berlin emsige Bauarbeiter ihre Kellen und begannen damit, eine Mauer zu errichten, die diese Stadt fast neunundzwanzig Jahre lang teilen würde. Allerdings wurde an vielen Stellen entlang der Grenze gar keine Mauer errichtet. So viele Maurer gab es sicherlich gar nicht. Also rammte man in aller Hast lange Reihen von Betonpfählen in den Boden und verband sie mit Stacheldraht. Dazwischen packte man Rollen – ebenfalls aus Stacheldraht. Es war guter Draht. Ich erfuhr viel später, dass ihn die Firma Krupp geliefert haben sollte. Dichtung oder Wahrheit? Ich weiß es nicht.
Neben den Arbeitern standen Soldaten und Angehörige der Kampfgruppen mit durchgeladener Mpi. Sie sollten heute und bis in alle Ewigkeit die Unüberwindbarkeit dieser Mauer garantieren. Irgendwo im Hinterland liefen sich vielleicht sogar russische Panzer warm.

Davon hatten wir keine Ahnung. Wir saßen hier und freuten uns, daß wir die Kampagne mit den Unterschriften so locker auf unsere Art beenden konnten. Dreizehnjährige Jungen hatten durch ihre Unterschrift bekundet, daß sie die Maßnahmen von Partei und Regierung vorbehaltlos begrüßten, obwohl sie nicht einmal genau wussten, was da eigentlich richtig passiert war. Aber es interessierte uns auch herzlich wenig. Was ging uns Berlin an? Diese Stadt lag soweit weg von Leipzig. Niemand von meinen Klassenkameraden, Verwanden oder Bekannten hatte jemals davon berichtet, regelmäßig in Westberlin gewesen zu sein.
Ich konnte in diesem Augenblick natürlich nicht ahnen, daß ich bereits fünf Jahre später sehr direkt und auf unangenehme Weise mit dem „Mauerproblem“ konfrontiert sein würde. Das war der Moment, wo man mir eine Kalaschnikow in die Hand drückte und mir befahl, jede Verletzung der Staatsgrenze zu Westberlin mit allen Mitteln zu verhindern. Aber das ist ein völlig anderes Kapitel in meiner Lebensgeschichte.

13. August! Für mich persönlich ein Datum, das noch eine ganz andere Bedeutung erhalten sollte. Auf Tag und Stunde genau zehn Jahre später werde ich in dem kümmerlichen Standesamt einer Kleinstadt sitzen, mich heimlich über den Stehgeiger mit den verbeulten Hosen lustig machen, aber ganz ernsthaft meiner Lore das Jawort geben.
Weitere zehn Jahre später werde ich an meinem 10. Hochzeitstag in glühender Hitze und von tausenden Insekten geplagt, die Deiche des Spreewaldes kontrollieren, die von dem lang anhaltendem Sommerhochwasser ganz aufgeweicht sind und nun zu brechen drohen.
Und wieder zehn Jahre später wird es mir vergönnt sein, unseren zwanzigsten Hochzeitstag am Strand von Wangerooge zu verbringen, weil wir über eine Grenze fahren durften, die es gar nicht mehr gab.

Ein Blick zur Uhr sagte uns, daß wir aufbrechen mussten. Wir schlenderten hinüber zum Organisationsbüro und lieferten unsere Zettel ab. Der FDJler, der sie entgegen nahm, warf nicht einmal einen Blick darauf. Und wir hatten uns so den Arsch aufgerissen!
Während der zweite Marschblock Mühlhausen verließ, wurde es für uns Zeit, zum Mittagessen zu gehen. Alles verlief in gewohnter Atmosphäre. Mag sein, daß unsere Helfer etwas nervöser waren als sonst, aber das können wir uns auch eingebildet haben.

Nach dem Essen sammelte unser Trainer wieder seine Schäfchen. Dann begaben wir uns zur Turnhalle. Dort herrschte emsige Betriebsamkeit. Die Koffer wurden gepackt, die Campingbeutel geschnürt, die Decken eingerollt und das Marschgepäck angelegt. Keine Stunde später lag das Gebäude völlig verwaist da. Nur das arg zerwühlte Stroh erinnerte noch an die vielen jungen Gäste, die hier zwei Nächte verbracht hatten.
Auf dem Marktplatz fand der Appell statt. Dann ertönte das Kommando zum Abmarsch. Im Takt einer Pionier-Blaskapelle nahmen wir Schritt auf. Schon bald lag Mühlhausen hinter uns.
Ja – es wurde wohl sehr viel marschiert an diesem denkwürdigen Tag. Unser Marsch mochte dabei wohl noch der harmloseste gewesen sein.
 



 
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