Fünf Minuten

Fünf Minuten
05.00 Im Sekundenrhythmus blinkten die roten Ziffern der Digitalanzeige. Für einen kurzen Augenblick spürte Max, wie seine absolute Kontrolle zu entschwinden drohte. Noch konnte er dies nicht geschehen lassen.
‚Du Schwächling, du bekommst früh genug deinen Auftritt.‘ Seine Gedanken beherrschten das gesamte Gehirn, bis auf einen kleinen Teil irgendwo im Zentrum, zu dem sie noch nie vordringen konnten. Was gar nicht nötig war, seine Macht war auch so unüberwindbar.
In den letzten Monaten hatte zumeist Max dominiert. Außer das Unwesentliche, das hatte er Maximilian überlassen, damit dieser nicht ganz verschwinden würde. Max hatte sich dabei ausruhen können. Natürlich war er ständig auf der Lauer gelegen, um einzugreifen, falls sein anderes Ich Unsinn anstellte. Denn schließlich hatte er mit ihm noch etwas Wichtiges – das Wichtigste überhaupt – zu begleichen.
‚In deinem elenden Leben hast du schon genug Scheiße gebaut. Du kannst froh sein, daß ich dir geholfen hab. Wo wärst du denn ohne mich, hä?! Noch immer würd dich dieser Hurensohn anschreien, und du würdest ihm in den Arsch kriechen, damit du dich weiter für ihn abrackern könntest. Noch immer wärst du ein verdammter Versager. Du mußt dich nicht bei mir bedanken, ich hab es gern getan. Und dir hat es auch Spaß gemacht. Gib es ruhig zu!‘
Max ließ seine Gedanken aus dem Gehirn verebben. Langsam kroch er aus allen Windungen zurück, und verharrte lauernd in einem kleinen Teil direkt hinter dem Stirnbein. Hier hauste er schon seit er geboren wurde, seit Maximilian all den Haß, den Schmerz, aus dem er damals als kleiner Junge zu bestehen schien, abgetrennt und weggesperrt hatte. Max war hier im Lauf der Jahre genährt worden, bis er schließlich so mächtig war, um den Schwächling zu beherrschen.
04.29 Maximilians Augen starrten auf das grellrote Blinken. So eine Uhr besaß er doch gar nicht. Moment, die Sekunden zählten rückwärts.
‚Was soll das?‘ dachte er.
‚Das weißt du ganz genau, du Schwächling‘, ertönte eine Stimme. Maximilian kannte sie, leider. Mit ihr hatte er sich in den letzten Wochen und Monaten intensiv unterhalten, intensiver als mit irgend jemand anderen zuvor in seinem Leben.
„Laß mich in Ruhe!“ wimmerte Maximilian, während er sich vergeblich nach vor stemmte. Er blickte sich um, und langsam kehrte so etwas wie Erinnerung in seine Gedanken, eine Erinnerung, die nicht zu ihm gehörte. Er war auf dem Heuboden seines Vaters – ‚der gehört jetzt dir,‘ mischte sich Max ein – mit Handschellen an einen Pfeiler gefesselt.
04.01 Maximilian riß kräftig an seinen Armen. Ein schmerzendes Brennen, begleitet von einem Knacken durchzuckte seine Schultern, als würde das Gelenk zerreißen.
‚Dein schwächliches Leben ist zu Ende.‘
„Nein. Ich will nicht sterben.“ Maximilian sank zusammen. Tränen bildeten sich in seinen Augenwinkeln.
„Du Flenner. Übrigens, dein Boß hat auch um sein Leben geheult, bevor du ihn umgebracht hast.“
„Ich hab ... nein ...“ stotterte Maximilian
Max schwieg. Er ließ seine Gedanken einen Teil des Gehirns fluten, um Maximilian ein Verbrechen zu verinnerlichen welches Max begangen hatte.

„Chef, ich muß mit dir reden.“ Max hatte die Kontrolle übernommen, und war in das Büro von Maximilians Vorgesetzten geplatzt.
„Sag gefälligst ‚Sie‘ zu mir, sonst ...“ Sein Mund blieb aufgeklappt, als er sah, wie sein Arbeiter, den er zu kennen glaubte, die Anschlußdose des Telefons aus der Wand riß.
„Halt deine verdammte Schnauze, du Arsch! Du hast mich sieben Jahre lang angeschrien und beschimpft. Glaubtest du Trottel etwa, ich würd dir so etwas durchgehen lassen?! Ich werd dich umbringen.“
Max fegte mit einer Handbewegung den Schreibtisch leer. Die Kunststoffgehäuse von Faxgerät, Computer, Scanner und Sprechanlage zersplitterten beim Aufprall.
„Spinnst du, ich ...“ Der Chef bewegte sich einen Schritt auf Max zu, bevor er, eingeschüchtert von Max‘ täuschend echt aussehendem Spielzeugrevolver, rückwärts gegen die Wand stolperte.
„Na, was ist jetzt mit deiner großen Schnauze?! Wie ist es, wenn man plötzlich keine Macht mehr hat?! Setz dich auf deinen verdammten Sessel!“ Max stieß ihm den Drehstuhl mit aller Kraft gegen die Beine.
„Maximilian, ... mehr Lohn ... reden ...“ Zitternd ließ er sich in seinen Sessel sinken.
„Verdammter Schleimer, dafür ist es jetzt zu spät. Unser Schwächling war zu feige dir in den Arsch zu treten. Jetzt tue ich das.“
Max ergriff ohne den Blick von seinem Opfer abzuwenden das zersplitterte Faxgerät. Er legte es auf die Innenseite seines Unterarms, und schwang es weit ausholend gegen den Kopf des Vorgesetzten. Wie in Ekstase hämmerte er weiter auf ihn ein, bis auch der letzte Schädelknochen gebrochen sein mußte. Er ließ den Toten zurück, der zu einem kleinen Paket in seinem schwarzen Ledersessel zusammengesackt war.

02.24 Max verkroch sich wieder in seine kleine Gehirnwindung. Für sein anderes Ich ließ er noch einige Sekunden das Bild seines toten Chefs aufleuchten. Das Blut tropfte auf den polierten Parkettboden.
‚Es hat dir doch auch Spaß gemacht. Du kannst mir ruhig dafür danken.‘
„Dafür, daß du mich zum Mörder gemacht hast? Du bist verrückt.“
‚Nein. Dieser Arsch hat verdient zu sterben, genau wie dein Vater.‘
„Auch meinen Vater hast du ... habe ich ...?“
‚Ja. Du Schwächling warst zu feig dich zu wehren, als er mich so oft mißbraucht hat.‘
„Nein,“ schrie Maximilian in den verstaubten Heuboden hinein. „Mein Vater hat niemals ... Du lügst.“
‚Ich lüge nicht, und das weißt du. Damals hast du mir diesen ganzen Schmerz aufgedrängt, deswegen bin ich heute um vieles stärker als du, du Versager. Kurz bevor dieses Arschloch von einem Vater gestorben ist, meinte er, es täte ihm leid, hah. Willst du es sehen? Ich zeig es dir.‘

„Fahr nicht so schnell Maximilian.“ Sein Vater klammerte sich am Griff der Autotür fest.
„Ich bin Max, nicht Maximilian. Ich bin der, den du vor vielen Jahren mißbraucht hast. Erinnerst du dich?“
„Was ...“ Erbleicht starrte der Alte auf die schmale Straße, die durch einen nicht enden wollenden Wald führte. Einige Stellen des Asphalts waren noch naß vom Regen der letzten Tage.
„Leugnen hilft dir nicht. Ich werd dich jetzt umbringen.“
„Nein ... bitte ...“
„Widerlicher Arsch. Wenn ich dich nur einen Teil von dem Schmerz spüren lassen könnte, den du mir damals bereitet hast.“
„Maximilian, es tut mir leid, wirklich sehr leid. Halt das Auto an, dann können wir über alles reden.“
„MAX heiße ich.“ Er trat das Gaspedal noch mehrere Zentimeter durch, bevor er das Auto langsamer werden ließ. Sein Blick war suchend nach vorn gerichtet. Der Wald begann sich zu lichten.
„Gut so, mein Junge.“ Der Alte war etwas erleichtert. Aber nur wenige Herzschläge lang.
„Du glaubst doch nicht wirklich ich laß dich leben? Schon mal was von Gurtenpflicht gehört?“
Zu spät verstand sein Vater. Er griff gerade nach dem Gurt, als Max laut kreischend das Auto gegen eine vereinsamt stehende Eiche lenkte. Max‘ Körper schnellte nach vor und wieder in den Sitz zurück. Sein Vater wurde durch die Windschutzscheibe gegen den Baum geschleudert. Dabei brach sein Genick.

00.55 Wieder überließ Max seinem anderen Ich den Großteil des Gehirns.
„Wieso,‘ weinte Maximilian.
‚Ich versteh dich nicht. Hast du diesen beiden Ärschen denn niemals den Tod gewünscht?‘
„Nein. Ich habe ihnen vieles zu verdanken. Und du mußtest sie umbringen. Laß mich endlich in Ruhe.“
Max glaubte nicht, was er da hörte. Er fühlte sich ins Gehirn hinein, um Maximilians Gedanken zu erfahren. Tatsächlich, Schmerz und Trauer empfand dieser, über den Verlust der beiden Männer. Durch diesen Schock erlahmte plötzlich ein Teil von Max‘ Macht. Er wurde in seinen Bereich hinter das Stirnbein gedrängt.
„Nein“, schrie Maximilian in die Einsamkeit des Heubodens hinein. „Du kannst mich nicht umbringen.“ Ruckartig stemmte er sich gegen den Pfeiler. Staub rieselte auf ihn herab.
00.39 ‚Die Uhr tickt‘, ertönte es leise von Max.
„Ohne mich würde es dich nicht geben. Mir verdankst du deine Existenz.“ Wieder rammte Maximilian seinen Rücken dagegen.
Max wollte laut auflachen, doch er konnte es nicht. Wie in einem Gefängnis kam es ihm in seiner Gehirnwindung vor, als würden ihn aus Gitterstäben bestehende Wände ruckartig mehr und mehr einengen. Nur ein keuchendes ‚Die Uhr‘ brachte er hervor.
„Ich lasse es nicht zu.“ Laut schreiend riß Maximilian den Pfeiler aus seiner Verankerung. Dieser kippte nach vor, traf ihn am Kopf und drückte ihn zu Boden. Er drohte das Bewußtsein zu verlieren.
00.19 ‚Gib auf, du Schwächling!‘ Max gewann wieder an Macht.
„Nein.“ Maximilian schleppte sich zur Zeitbombe. Er tastete mit hinterm Rücken gefesselten Händen das Gehäuse ab. Endlich fand er wonach er gesucht hatte.
‚Du darfst ni...‘,
Maximilian hatte den Schalter umgelegt.
 



 
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