Fünftes Märchen: Von der Geburt der Hexen

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VikSo

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5. Märchen: Von der Geburt der Hexen

Im November, wenn die Tage schon spürbar kurz und die Nächte ungemütlich und düster waren, dann pflegte der Großvater das elektrische Licht im Hause zur löschen. Es brannte dann nur noch eine kleine Schreibtischlampe mit goldenem Schirm auf dem Beistelltisch und eine dickbäuchige rote Kerze. Zwei Tassen Kakao stießen erwartungsvoll Damfschwaden aus, wenn der Alte sein Märchenbuch hervor holte und mit gesenkter Stimme begann:

„Es war einmal in der Zeit, die studierte Köpfe „Mittelalter“ nennen, die Zeit in der Mitte von zwei Epochen, während andere sie gar als das „finstere Zeitalter“ bezeichnen. Da lebte eine Feenkönigin namens Batseba; die hatte eine einzige Tochter, die sie Maria getauft hatte. Maria war ein Kind von außergewöhnlicher Schönheit, selbst nach dem Maßstab der Feen. Die Sonne wollte nicht aufgehen, bevor sie nicht ihr froh gelauntes Gesicht auf der Straße gezeigt hatte. Wenn sie sprach, schwiegen alle Singvögel still, darauf bedacht, den lieblichen Klang nicht zu stören. Lachte sie, verstummten die schwerfälligen Kirchenglocken und wenn sie tanzte, blieben alle Paare ehrfürchtig stehen. Selbst die eitelsten Frauen bekannten gegen ihren Willen, dass die Jungfer in Schönheit und Anmut jeder von ihnen weit voraus war.
Die Mutter lebte mit ihr in einer Pfalzstadt des Königs als Witwe eines bedeutenden Händlers und Bürgers der Stadt. Sie bewohnten ein stattliches Haus, an dessen Giebel das blaue Wappen mit der Taube prangte. Edelleute gingen zu ihrer Haustür ebenso aus und ein wie Bettler und Bedürftige an ihrer Küchentür. Adlige und Berühmte säumten den Tisch von Frau Batseba und sprachen ihre Bewunderung für die Tochter des Hauses aus. Maria ihrerseits war sich ihrer Reize wohl bewusst und erblühte aufs Entzückendste unter den Komlimenten, die sie nicht ungern hörte.
Als das Mädchen nun älter und mit jedem Jahr nur immer noch hübscher wurde, kam es Batseba in den Sinn, dass sie Maria verheiraten sollte. Und wie es einer Königin gebührt, lud sie zu diesem Zweck die edelsten Jünglinge des Landes in ihr Haus. Drei Tage und drei Nächte lang feierte die Gesellschaft zusammen und die Männer bekamen Gelegenheit, um die Gunst der jungen Schönheit zu werben.
Da erschienen die drei Söhne Gideons, welcher Schatzmeister des Königs der Zwerge war. Sie waren die stärksten und wagemutigsten unter den geladenen Gästen. Gewand führten sie das Schwert gegen jeden, der sie herausforderte. Unerschrocken stellten sie sich allen Hieben, ohne von einem getroffen zu werden. Jeder von ihnen genoss mehr Ruhm als der andere. Allein: Es war unmöglich, sich für einen von den dreien zu entscheiden, so ähnlich waren sie einander. Darum schieden sie als Gatten aus.
Auch unter den Gästen war das Patenkind der Königin Batseba, ein edelmütiger Feenmann. Er war bewandert in Kunst und Wissenschaft seiner Zeit und konnte die unterhaltsamsten Gespräche führen. Im Ganzen war er ein so angenehmer Mann, dass die Damen landauf, landab um seine Gesellschaft stritten. Er hatte nur einen einzigen Fehler, nämlich dass die Prinzessin ihn von Kindheit an kannte und sich nicht überwinden konnte, ihn anders denn als ihren Bruder zu betrachten. So erübrigte sich auch sein Antrag, bevor er überhaupt gemacht worden war.
Der nächste Bewerber war ein Gelehrter aus einem Land sieben mal sieben Meilen von Marias Heimat entfernt. Er war der Direktor der königlichen Universität der Kobolde und konnte alle magischen Herrscher nebst ihren Gattinnen und Nachkommen in chronologischer Reihenfolge aufzählen. Seine Studenten zollten ihm den größten ihm den größten Respekt, wenn sie ihn auf der Straße trafen und lachten gutmütig über ihn in den Wirtsstuben und Weinkellern. Ein Leben an der Seite dieses würdigen Herren hätte für Maria Ehre und Wohlstand bedeutet. Allerdings musste die Prinzessin ihr Alter verdoppeln und dann noch eine Handvoll Jahre drauf zählen, um auf das Alter zu kommen, das dem Herrn Bibleothekar den Rücken beugte. Und um die Haare auf seinem Kopf zu zählen, brauchte sie weniger als zehn Finger. Daher kam er genauso wenig als Ehemann in Frage.
Der beeindruckendste unter den Gästen war sicherlich ein junger Elf. Er war ein entfernter Verwandter des Onkels des menschlichen Kaisers und seine Schwester war verheiratet mit dem Bruder des Vetters vierten Grades einer intimen Freundin der Kaiserin. Seine Familie war von altem Adel und jede Generation hatte eine neue Schatzkammer in der Familienburg angelegt. Der Junker war der reichste unter all seinen Konkurrenten, dafür aber hässlich wie die Nacht, mager wie ein Gerippe, mit dünnem, fettigem Haar und einem krächzendem Lachen, das einen schaudern machte.
All diese und viele mehr erschienen auf Frau Batsebas Fest und stellten Prinzessin Maria ihre Talente, ihr gutes Aussehen und ihren Reichtum zur Verfügung. Den Sieg aber trug einer davon, der sich diese Mühe gar nicht erst machte. Von allen Anwesenden wurde er der „Schwarze Reiter“ und so auch nur im Flüsterton genannt. Er war ein Mensch, ein Raubritter, der sich schon mehr Herren gegen Geld verdingt hatte, als er selbst zählen konnte – was freilich nicht viel heißen mochte. Er besaß weder tiefes Wissen, noch eine außergewöhnliche Begabung, alten Adel, untadeligen Charakter oder unermesslichen Reichtum. In der Tat war er nur in einer Hinsicht den anderen überlegen, nämlich durch seine besondere Dreistigkeit.
So tat er sich, kaum dass er das Haus der hohen Frau betreten hatte, keinen weiteren Zwang an. Er übersah die angebotenen Weine und Speisen, würdigte seine Mitstreiter keines Blickes, sondern marschierte ungehindert direkt zu dem holden Fräulein und gewann ihre Hand auf die denkbar einfachste Art: Er riss die Prinzessin an sich, trug sie auf seinen Schultern hinaus, legte sie wie einen Mehlsack auf sein Pferd und ritt davon in Richtung seiner Burg, womit er das arme Mädchen entführte.
Es muss wohl doch auch finstere Mächte zu dieser Zeit gegeben haben, die dem Bösen Schutz gewährten. Oder sonst erkläre mir einer, wie der Schwarze diese Tat vollbringen und dabei von keinem der Magischen aufgehalten, auch nicht verfolgt und später nicht gefunden werden konnte. Wie immer es auch gewesen sein mag: Der Schwarze Reiter schaffte es mit seiner Geisel ungehindert bis auf die Schwarze Burg. Die lag aus einem hohen Berg, der aus nichts als aus scharfkantigen Klippen bestand. Um den Berg floss ein reißender Fluss eisigen Gletscherwassers, an seiner schmalsten Stelle so breit wie zehn Männer hoch sind. Und jenseits des Flusses begann ein Wald, so dicht und düster, voll Dornengewächs und ständig ausgehungerter Bestien, dass sich noch kein Mensch hindurch gewagt hatte, der nicht vom Herrn der Burg geladen worden war oder in dessen Diensten stand. Frage nicht, wie der Schwarze den Forst durchqueren, über den alles verschlingenden Strom setzen und den unwegsamen Berg besteigen konnte, nicht nur ohne sich selbst zu verletzen, sondern auch ohne seine wertvoll Fracht zu verlieren.
Erst als er, lachend und stolz erhobenen Hauptes, in den Burghof einritt, wurde das geschundene Mädchen vom Rücken des Pferdes gehoben. Doch ihre Fesseln wurden nur gelöst in der Sicherheit, dass sie diesem Gefängnis nicht aus eigener Kraft entkommen könne. Zwar liefen sofort alle Mägde der Burg herbei, um die schöne Braut zu bestaunen und ihr zu Diensten zu sein. Zwar wurde sie sofort in die kostbarsten Kleider gehüllt und mit den edelsten Juwelen behängt, die ein Mann ohne Gewissen stehlen kann. Zwar wurde Maria von diesem Tag an von morgens bis abends mit der größten Sorgfalt behandelt. Aber ein Gefängnis bleibt ein Gefängnis, selbst wenn es aus Gold gefertigt ist. Maria verließ ihres von Stund an nie wieder, so sehr sie auch weinen, so sehr sie auch betteln mochte.
So zogen die Jahre ins Land. Hörte man da nicht Kinderstimmen in den finsteren Mauern der Burg? Zwölf Kinder schenkte Maria dem Schwarzen Ritter. Allerdings umgab diese Kinder ein Fluch. So ist es mit allen Dingen, die aus Gewalt geboren werden. Aus einem schwarzer Tinte kann keiner Quellwasser destillieren. Wenn sich zu diesem Ganzen auch noch Magie mischt, dann wird die Angelegenheit höchst gefährlich. Magie war es, die in Maries Adern floss; das Böse durch die des Schwarzen Ritters. Jeder auf der Burg konnte sehen, dass diese Kinder weder Sonne noch Wärme in ihr Leben brachten, sondern nur immer mehr Kälte und Macht. Mit der Zeit flohen immer mehr Bewohner diesen freudlosen Ort: Zuerst die Leibeigenen mit ihren bloßen Kleidern auf dem Leib, dann die Knechte und Mägde mit ihren Familien und den wenigen Habseligkeiten. Nach ihnen folgten die Knappen und Diener, die dem Schwarzen bis dahin treu zur Seite gestanden hatten. Schließlich verließen die Hunde und Katzen, Ratten und Ungeziefer und sogar die Vögel, Marias einzige Freunde und Verbündete, das Gemäuer. Zurück blieb nur der Schwarze Ritter selbst mit seiner geraubten Braut und den unheimlichen Kindern.
Etwas Schauerliches lag über diesen Bälgern, das keiner in Worte fassen konnte. Lachten sie, so war es eher ein heiseres Krächzen. Ihr Weinen war das Heulen eines hungrigen Wolfes. Streckten sie ihre Hände nach der Amme aus, so sah das aus wie die Klauen eines Raubvogels, der sich in seine Beute krallt. Ihre Augen waren schwarz von der Pupille bis zum Lid, die Gesichter dagegen bleich und knochig. Gierig und boshaft waren sie, listig, verschlagen und selbstsüchtig. Sie hatten Freude am Unheil und stifteten es, so oft sie konnten. Auch verbreitete sich im Umkreis der Burg die Kunde, die Töchter des Ritters seien mit Zauberkräften begabt. Nachts flögen sie durch die Luft auf dem Rücken von Eulen oder gar auf Besen und trockenen Ästen. Dann verfluchten sie das Vieh, dass es krankte, die Kühe keine Milch mehr gaben, die trächtige Sau fehl warf. Felder, über die sie kreisten, wurden noch in der gleichen Nacht von Hagel und Schloßen oder fressendem Feuer verzehrt. Das Haus, auf dessen Dach sie sich niederließen, wurde von Pest und Geschwüren heimgesucht, bis auch noch der letzte Bewohner ums Leben oder um den Verstand gebracht worden war. Tod und Verderben kamen von der Burg auf die Welt hinunter, so sagte man. Die zwölf schrecklichen Bälger wuchsen zur zwölf schrecklichen Weibern heran, noch mehr gefürchtet als seinerzeit ihr Vater, der gefürchtete Schwarze Reiter.
Was war indessen aus dem Vater geworden? Ich weiß es nicht. Einige meinen, er sei am Ende ebenfalls geflohen aus Angst vor seiner eigenen Brut. Andere glauben, er sei gestorben, am Alter oder vielleicht an seiner eigenen Boshaftigkeit. Einige behaupten sogar, die teuflischen Megären hätten am Ende den eigenen Vater getötet, um ihn bei einem besonderen Festmahl gesotten und gebraten zu verspeisen.
Und was die Mutter betrifft – Nun, selbst Ungeheuer haben Respekt vor dem Leib, der sie geboren hat. Wahrscheinlich töteten Maria nur die Einsamkeit und das Unglück, die sie Tag und Nacht fesselten. Niemand hörte je wieder etwas von ihr und ihr Name wäre mit der Zeit in Vergessenheit geraten, wäre sie uns nicht als Mutter dieser gespenstigen Wesen überliefert worden.
Warum, fragst du nun, hat sich denn das Mädchen nicht selbst befreit? War sie nicht eine Fee? Konnte sie nicht zaubern, dem Wind persönlich gebieten? Ja, mein Kind, was lässt das Reh starr stehen und geradewegs in den Lauf der Flinte sehen, obwohl es zwölfmal schneller ist als der Jäger?Ist es Angst? Ist es das Wissen darum, welches Schicksal ihm bevorsteht? Ist es die Überzeugung, dem nicht ausweichen zu können? Oder ist es einfach die Lähmung angesichts des Entsetzens, das es ergreift? Genug: Maria war kein starkes Mädchen. Der düstere Wald, das eiskalte Wasser, der unbezwingbare Felsen, hatten den größten Teil ihres Mutes geraubt und das erste Jahr ihrer tristen Gefangenschaft nahm den Rest davon. Niemals verwendete sie auch nur einen Zauber, um ihre Freiheit zu retten oder wenigstens ihre Gefangenschaft erträglicher zu machen. Zuerst sah man sie noch hin und wieder mit einer Taube oder einer Schwalbe sprechen. Als diese Vögel mit den anderen von der Burg verschwanden, richtete sie an kein lebendes Wesen mehr ein Wort. So starb sie letztlich unbemerkt und vergessen.
Ihre Töchter aber, die aus Dunkelheit und Elend geborenen Ungeheuer, suchten weiter das Land heim. Es heißt, sie schlichen sich von Zeit zu Zeit in die Schlafgemächer jung vermählter Paare. Dann nähmen sie die Gestalt der Braut an, um einige Monate später ein weiteres Ungeheuer von einem Kind zur Welt zu bringen. So pflanzte sich der Fluch von Generation zu Generation fort. Zuerst lebten sie auf der Burg des Schwarzen Reiters, später auch auf anderen verlassenen Festungen, in zerstörten Schlössern, auf gebrandschatzten Höfen, in allen Ruinen, aus denen das letzte Leben gewichen war. Menschen, die besonders gierig und darum besonders dumm waren, suchten sie auf, um mit ihnen einen Handel abzuschließen und sich ihrer Dienste zu versichern. Keiner von denen kam am Ende oben auf; wer sich den bösen Mächten verschreibt, wird am Ende von ihnen verschlungen. Drum gib Acht, mein Kind, und nähere dich ihnen nicht! Damit du sie meiden kannst, nenne ich dir ihren Namen. Aber Vorsicht, nenne ihn niemals laut: Diese Wesen nennen sich selbst Hexen. Auch heute noch ist die Gefahr nicht gebannt. Denn wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
 



 
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