Fünfzehntes Märchen: Von den vier Schlüsseln

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VikSo

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Fünfzehntes Märchen: Von den vier Schlüsseln

Dem Bellen folgte eine neugierige Schnauze, ein pelziger Kopf, ein bunt getupfter Körper und ein aufgeregt wedelnder Schwanz.
„Ein Hund.“, stieß Kai verwundert hervor.
„Ein Golden Retriever.“, präzisierte Maria. Wie zur Bestätigung kläffte der Neuankömmling erneut und lief dann schnurstracks auf Viola zu. In der Zwischenzeit war Georgie zurück gekehrt; allein.
„Wo ist sein Herrchen?“, fragte Kai erstaunt.
„Wessen Herrchen?“
„Der Hund“, rief Kai ungeduldig. „Mit irgendjemandem muss er ja wohl her gekommen sein.“
Georgi runzelte die Stirn. „Wenn sein Herr hätte selbst kommen wollen, dann hätte er wohl kaum seinen Boten schicken müssen, nicht wahr? Das wäre doch reichlich ineffektiv.“
Gegen diese Logik wusste Kai nichts zu erwidern, also hielt er lieber den Mund.
Viola hatte sich in der Zwischenzeit zu dem Tier hinunter gebeugt, um ihm mit der rechten Hand den Kopf zu kraulen. Mit der linken fingerte sie an seinem Halsband herum, bis sie endlich flüsterte: „Da haben wir es ja. Wollen doch sehen, was es gibt.“ In der Hand hielt sie einen vielfach gefalteten Zettel. Konzentriert ließ sie sich auf das Sofa zurück sinken, wo sie den Brief öffnete, während der vierbeinige Bote sich zu ihren Füßen niederließ und erwartungsvoll hechelte.
Eine Weile lang herrschte Schweigen. Viola saß sehr aufrecht. Ihre Hände umklammerten das Papier. Ihre Zähne waren in die Unterlippe verbissen. Ihr Blick fixierte den Zettel und schien doch hindurch zu gehen.
Schließlich hielt Kai es nicht mehr aus. „Was ist? Was steht da?“
Viola zuckte zusammen. Erschrocken blickte sie den Fragenden an, als hätte sie seine Anwesenheit vergessen gehabt. Dann reichte sie ihm wortlos die Botschaft. Kai nahm sie entgegen. Er las:
„Spiegelsaal. Mitternacht. Alle.“
Verwirrt sah er auf zu Viola, in Erwartung einer Erklärung. Doch die junge Frau starrte geradeaus. Schweigend reichte er den Brief an Georgi weiter. Dieser las kurz, schob die Brauen zusammen und ließ Maria einen Blick darauf werfen. Doch weder sie noch einer der beiden anderen schien geneigt, irgendwelche Erläuterungen von sich zu geben. Statt dessen richteten sie ihre gespannten Augen nur abwartend auf Viola. Minuten vergingen. Schließlich blinzelte die junge Frau. „Da braut sich was zusammen.“, murmelte sie. Nichts weiter. Maria nickte, als verstünde sie vollkommen. Georgi brummte etwas, das als Zustimmung gewertet werden konnte. Kai verstand gar nichts mehr.
Plötzlich schoss Viola in die Höhe. „Wir sollten uns jetzt verabschieden, um noch etwas Schlaf zu erhaschen. Lieber Herr Georgi, vielen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft. Wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich Ihre Anwesenheit als Experte morgen begrüßen.“
„Es ist ernst, ja?“ Georgi nickte schwerfällig. „Natürlich. Ich werde mich rechtzeitig bei Ihnen einfinden. Es ist mir eine Ehre, Banríon.“
Und zu Kais großer Verwunderung verneigte sich der würdige alte Zwerg schweigend bis zum Boden vor der jungen Frau. Noch erstaunlicher war, dass Viola diese Geste mit der größten Ernsthaftigkeit erwiderte. Daraufhin wandte sich der Zwerg Maria zu, mit der er einen langen Händedruck wechselte. Kai, der nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, brachte ein knappes Nicken zustande, dem Georgi ein unergründliches Starren entgegenbrachte. Als der Hausherr seine Gäste zur Tür hinaus führte, fühlte sich Kai wie der letzte Idiot. Irgendetwas ging hier vor, das hier nicht verstand, von dem er ausgeschlossen war. Es war wie ein fremdsprachiger Film ohne Untertitel, bei dem er die Figuren handeln sah, ohne die Handlung zu verstehen.
In seinem Magen wuchs ein Knoten von unterdrücktem Frust und Wut, der sich noch verdichtete, als Viola ihn und Maria mit befehlenden Gesten ins Auto manövrierte. Auf der ganzen Fahrt zurück verlor sie kein Wort, weder zu Georgi, noch zu dem Kelpie, geschweige denn über die für Kai unverständliche Botschaft.
„Maria übernachtet bei uns. Sie kann in meinem Bett schlafen.“, war alles, was sie bei ihrer Ankunft im Haus sagte.
„Viola“, setzte Kai ärgerlich an. Doch die junge Frau brachte ihn mit einer gereizten Handbewegung zum Schweigen.
„Später. Wir alle brauchen Schlaf. Und ich muss nachdenken, was zu tun ist.“
Mit dieser Erklärung griff sie Maria beim Arm, führte diese die Treppe hinauf und ließ Kai sprachlos zurück.
Es war bereits kurz vor drei Uhr morgens. Sein Kopf wog schwer wie ein Amboss. Dennoch konnte Kai nicht einschlafen, sondern wälzte sich von einer Seite auf die andere. Endlich sank er in einen unruhigen Schlummer, aus dem ihn erst das Schlagen der Tür weckte. Kurz darauf quietschte das Garagentor und der Motor von Violas Mini knatterte die Auffahrt hinunter. Mit Gliedern wie Stein quälte sich Kai aus dem Bett und schleppte sich die Treppe hinunter. Da sein Magen gegen jede Art von Frühstück rebellierte, trank er lediglich ein Glas Wasser und setzte sich an den Küchentisch, um zu grübeln. Dabei versank er dermaßen in seinen Gedanken, dass er vor Schreck aufsprang, als eine rauchige Stimme ihn ansprach: „Es tut dir nicht gut.“
„Maria!“ Fluchend rieb er sich den Oberschenkel da, wo er soeben an die Tischkante gestoßen war. „Seit wann stehst du schon da?“
„Höchstens 15 Minuten.“, antwortete sie schulterzuckend. In den gleichen luftigen Jumpsuit gewandet wie am Vorabend schwebte sie herein und ließ sich wie ein schwarzer Schmetterling auf einem der Holzstühle nieder. „Es tut dir nicht gut, gegen dich selbst anzukämpfen.“
Aktuell kämpfe ich vor allem gegen meine Kopfschmerzen an., dachte Kai säuerlich. Ich sollte eine Tablette nehmen.
„Medikamente werden dir wenig helfen.“ Kai zuckte zusammen. Sie hatte es schon wieder getan!
„Schon als du vor wenigen Tagen mein Geschäft betreten hast“, fuhr Maria ungerührt fort, „erkannte ich die Besonderheit deines Wesens. Es gehört nicht der magischen Welt an; doch ebenso wenig ist es rein menschlich. Zuerst konnte ich es nicht einordnen. Aber nachdem ich mich an Frau Grünwalds Erzählung von der Beerdigung erinnerte und so erraten konnte, wer du warst, war es mir klar. Ich habe deinen Großvater nie getroffen, aber ich könnte mir vorstellen, dass er eine ähnliche Aura besaß wie du.“
Kai verdrehte innerlich die Augen. „Und was verrät dir diese Aura sonst noch über mich?“
„Das weißt du selbst am besten. Du fühlst die Wahrheit über dich. Du hast bereits erkannt, dass Viola recht hat. Doch du wehrst dich gegen dieses Wissen, weil du dich verzweifelt daran klammerst, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Du versuchst, dich mit Logik gegen das dir Unbekannte zu panzern. Aber Logik, so wie du sie verstehst, hat nicht das geringste damit zu tun. Das Magische, aus deinem Blickwinkel betrachtet, ist so unlogisch und unvernünftig wie nur irgendetwas. Das macht es allerdings nicht weniger real.“
„Maria, mit schwirrt der Kopf, wenn du so sprichst.“
„Das höre ich öfter.“
Gegen seinen Willen musste Kai lachen. Maria verzog keine Miene; nur ihre Augen blitzten kurz verräterisch auf.
Dadurch ermutigt, wechselte Kai das Thema: „Maria, was bedeutete dieser Auftritt gestern? Ich meine, von Georgie selbst einmal abgesehen, der vom gleichen Wahnsinn befallen scheint wie ihr beiden. Aber dann zur Krönung des Ganzen ein Hund – Verzeihung, ein Golden Retriever – der von allein an einer Tür klingelt und Botschaften überbringt. Ich würde das als gekonnte Inszenierung betrachten, wenn nicht Viola ehrlich besorgt gewirkt hätte.“
Marias Blick trübte sich. „Viola sieht Unheil auf uns zukommen. Und ich befürchte, sie hat recht damit.“
„Wie kommst du darauf?“
Die junge Frau griff nach einer Tasse und nahm einen Schluck von der dampfenden Flüssigkeit. Kai blinzelte. Wann hatte sie den Tee gekocht?
„Du kennst das Märchen von den vier Schlüsseln?“, fragte sie über den Rand der Tasse hinweg.
Kai runzelte den Stirn. „Ich erinnere mich, es schon einmal gehört zu haben. Warte, wie war das... Die magischen Völker hatten Könige über sich gewählt, durch die sie miteinander und mit den Menschen in Kontakt bleiben konnten. Diese Könige...“
„...und Königinnen...“
„...waren äußerlich nicht als solche zu erkennen. Vor allem die, welche die Nähe der Menschen suchten, waren kaum von diesen zu unterscheiden. Manche richteten sich als Handwerker oder Kaufleute in den Städten ein; andere bearbeiteten als Bauern das Land. Nur wenige erlangten wirkliche Macht in der menschlichen Welt, noch strebten sie danach. Einige schlugen sich sogar, unbeschadet ihrer königlichen Würde, als Bettler, Tagelöhner oder Gaukler durch die Welt und machten sich einen Spaß daraus, wenn die törichten Menschen sie für ihre Armut und den Schmutz auf ihrer Haut verachteten. Des nachts aber, wenn ihre abergläubigen Nachbarn sich in ihren Schlafzimmern verkrochen aus Angst vor Teufel und Dämonen, hielten sie Hof in Häusern, in Wäldern und auf freiem Feld. Dann berieten sie sich mit ihren Großen und empfingen ihre Untertanen, wenn diese mit Sorgen und Problemen an sie heran traten. Von Zeit zur Zeit ließen sie sich von Mitleid erfüllt sogar von Menschen finden, die sich in Nöten der einen oder anderen Art befanden. Diese prüften sie aber im Vorherein genau, ob ihre Herzen gut und ihre Motive lauter waren; gierigen und boshaften Seelen wollten sie nichts von sich verraten. Den ehrlichen, leidgeprüften Menschen aber halfen sie durch ihre Magie, wofür sie sich nur Schweigen darüber ausbaten, wer und wo sie zu finden seien.
Dieses Versprechen hielten indes nicht alle ein. Die Menschen konnten ihre Zunge nicht zügeln; ob aus Schwatzhaftigkeit, aus Einfalt oder aus Gutherzigkeit, weil sie meinten, einem anderen helfen zu können. Mit den Jahren wuchs die Zahl der Märchen von wundertätigen Feen und zauberkundigen Elfen, die unter dieser Eiche oder bei jedem See, in Vollmondnächten oder bei Neumond anzutreffen seien und beinahe alles vermöchten, was ein Mensch wünschen konnte. Und nicht nur ehrliche Leute hörten solche Geschichten. Gerade die grausamen, geldgierigen, machthungrigen Herzen suchten am ausdauerndsten, die magischen Wesen zu finden, um deren Schätze und Künste in ihre Gewalt zu bringen. So waren die Könige der vier Völker erneut gezwungen, ihre Existenz zu verbergen, diesmal noch besser, noch geheimer. Einmal mehr enttäuscht in ihrem Glauben an das Gute in den Menschen, gaben sie es auf, einem anderen Volk als ihrem eigenen helfen zu wollen. Stattdessen erdachten sie ausgefeilte Winkelzüge, um ihre Feinde zu verwirren.
Sie machten es sich zur Gewohnheit, nie zweimal am gleichen Ort Hof zu halten. Häufig wechselten sie nicht nur das Haus oder die Stadt, nein, sogar das Land dazu. Sie überquerten Grenzen, Gebirge, Flüsse und Ozeane in einer Nacht. Trotzdem lagen sie am nächsten Morgen wieder friedlich auf ihrer Schlafstatt, ohne dass jemand einen Unterschied bemerkt hätte. Wie sie das schafften, fragst du? Aber Kind, denk an die Magie!
Die Zwerge, wie du weißt, waren geschickt zur Herstellung von allerlei Schmiedewerk. Sie erhielten den Auftrag, vier Schlüssel anzufertigen. Das waren natürlich keine gewöhnlichen Schlüssel. Mit diesen Schlüsseln konnte man nicht einfach das eigene Haus aufschließen, den eigenen Weinkeller oder selbst die eigene Schatztruhe. Nein, diese Schlüssel gaben Zugang zu jedem Ort, den es auf der Welt gab; zu Thronsälen und Armenhäusern, zu Wirtshäusern und zu Kerkern, zu festen Burgen genauso wie zu freien Wäldern. Man musste damit nur schließen und dabei an den Ort denken, an den man zu gehen wünschte und schon öffnete sich die Tür, durch die man ihn betreten konnte. Was aber noch erstaunlicher war: Die Schlüssel taten ihr Werk sogar an Plätzen, wo es gar keine Türen, geschweige denn ein Schloss gab. Wenn der Koboldkönig sich im Wald aufhielt und rasch, sagen wir, ins Haus des Müllers zu gelangen wünschte, so brauchte er seinen Schlüssel einfach in ein Astloch oder einen Baumstamm zu stecken, ihn zu drehen und schon tat sich das Portal vor ihm auf und er konnte ungestört dahin reisen.
Immer nun, wenn einer der vier Herrscher eine Versammlung halten wollte, sandte er Nachrichten an alle, die dort erscheinen sollten. Diese Nachrichten erreichten ihren Bestimmungsort auf den verschiedensten Wegen: Die Feen bedienten sich ihrer gefiederten Freunde; die Kobolde benutzten Hunde, Katzen, Schweine oder Pferde als Briefträger. Die Botschaften der Zwerge gar legten viele tausend Meter unter der Erde zurück, wo sie von Ameisen und Würmern durch ihre verborgenen Gänge geschleppt wurden. Manchmal vertrauten die kleinen Leute sie aber auch einer Schnecke an, die sie dann in ihrem Haus versteckte. Wessen aber bedienten sich die Elfen? Pflanzen können sich wohl nicht bewegen? Bist du dir dessen sicher? Nun, auch wenn sie es sonst nicht vermögen: Für die Elfen taten sie es. So konnten sich die magischen Könige also immer mit ihresgleichen verständigen, wenn sie es wollten.
Wenn dann beispielsweise ein Fee eine Taube auf sich zu fliegen sah, die ihm einen Brief überbrachte, dann nahm er ihn möglichst unauffällig an sich und las, um welche Uhrzeit er sich an welchem Ort einfinden sollte. Daraufhin brauchte er nur noch durch eine beliebige Tür zu schreiten und dabei den Zettel in der Hand halten. Denn mit den Briefen war ein Zauber verbunden, der dem, der ihn benutzte, Zugang zu dem Ort gewährte, den sein König auserkoren hatte.
So hätten sich die Magischen sorglos ihren Geschäften widmen können, wenn ihnen nicht wieder die Habgier der Menschen in die Quere gekommen wäre. Denn Schlechtigkeit macht erfinderisch und stachelt den Eifer vieler Personen mehr an als alles andere. So kam es, dass eines Tages ein alter Bettler eine sonderbare Entdeckung machte...
 

molly

Mitglied
Hallo VicSo,

Deine Geschichte finde ich sehr phantasiereich, z. B wie Du die Reisen der Zauberwesen beschreibst:

""Wenn der Koboldkönig sich im Wald aufhielt und rasch, sagen wir, ins Haus des Müllers zu gelangen wünschte, so brauchte er seinen Schlüssel einfach in ein Astloch oder einen Baumstamm zu stecken, ihn zu drehen und schon tat sich das Portal vor ihm auf und er konnte ungestört dahin reisen.""

Ich werde Deine Märchen jetzt alle mal lesen, freue mich aber auch schon auf die nächste Geschichte.

Schönen Sonntag wünsche ich Dir

molly
 



 
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