Fulminanter Patriotismus

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Mondfrau

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Fulminanter Patriotismus

Stöhnend drehte sie sich auf die Seite. „Das verdammte Abendessen liegt mir im Magen, deshalb kann ich nicht einschlafen“, dachte sie ärgerlich. „Morgen ist der 3. Oktober, der Tag der deutschen Einheit. Ich sollte meinen Vater anrufen. Alle Deutschen sollten sich an so einem wichtigen Tag anrufen und sich gegenseitig ihren tief in den Därmen vergrabenen Nationalstolz, und sei es nur für diesen einen Tag im Jahr, herausziehen.“ Sie stellte sich vor, wie sie ihren Vater anrief. „Nein, ich werde ihm schreiben. Dieser erhabene Anlass verlangt eine förmliche Geste. Lieber Vadder!“ In einem Anflug von Nostalgie nannte sie ihn Vadder, nicht Vater oder Vati oder Papa, sondern so, wie er und seine Geschwister ihren Vater bis zu seinem Tod nannten. „Ja, Vadder, das hat genau die richtige Mischung aus Abstand und Zuneigung. Obwohl, wenn ich es recht überlege, ist bei ihm wohl Hopfen und Malz verloren. Er wird nie ein rechter Patriot werden.

Da war Großvater doch ganz anders. Der war sogar so sehr in sein Land verliebt, dass er 1940 seinen Nachbarn, mit dem er seit zwanzig Jahren Tür an Tür lebte, und der mittlerweile zu einem „Nazibonzen“ aufgestiegen war, über den Gartenzaun hinweg als „Nazischwein“ beschimpfte. Wenn Großmutter, die dem Führer immerhin 4 stramme Kinder schenkte und dafür das Mutterverdienstkreuz erhielt, ihn nicht schnell in den Wintergarten hineingezogen hätte, wer weiß, vielleicht wäre er dann zusammen mit dem kleinen Herrn Rosenberg, dem Krämer aus dem Souterainladen in der Finkenstraße, abgeholt worden. So konnte der Herr Nationalsozialist vielleicht in einer sentimentalen Anwandlung aufgrund der zwanzigjährigen guten Nachbarschaft so tun, als ob er nichts gehört hätte. Vielleicht hat er es aber wirklich nicht gehört und Großvater wird nur in der Erinnerung seiner zahlreichen Enkel zum Helden stilisiert.

Immerhin brachte ihm der Krieg vier Jahre Gefangenschaft in Frankreich ein, wo er fleißig, wie wir Deutschen nun einmal sind, LKW fuhr und auch sonst den Fuhrpark des französischen Militärs in Ordnung hielt. Welch niederschmetternde Überraschung für Großmutter, die sich ihr Leben in der Zwischenzeit so behaglich eingerichtet hatte, als er nach Kriegsende plötzlich wieder in der Tür stand.

Großmutter, mit ihren Nylonstrümpfen, die an vier baumelnden Haltern an der zugehörigen fleischfarbenen Korsage befestigt wurden. Ich sehe sie immer noch vor mir, wie sie in den Jahren nach der Scheidung meiner Eltern, in denen meine Schwester und ich bei ihr lebten, jeden Abend ihre okerfarbenen Strümpfe auswusch und über den Heizkörper hing, während ich versuchte, mein kaltes, einsames Kinderherz auf Tante Lollos Klappsofa zum Stehen zu bringen. Meine Schwester, da zart gebaut und jünger als ich, durfte in die nach Kamillencreme duftenden Mutterersatzarme sinken.

„Vielleicht sollte ich mich doch mit dem Patriotismus anfreunden. Er hat so etwas Erhabenes, etwas Sphärisches, über allem Stehenden. Ich werde Vadder schreiben.“ Sie stellte sich vor, wie der Kugelschreiber die Zeichen aufs Papier brachte. Sie liebte ihre Handschrift, konnte nie genug davon bekommen, sie zu bewundern. „Bis jetzt hat noch wirklich jeder meine Handschrift gelobt. Sie ist wirklich schick, nicht zu rund, aber trotzdem weiblich. Außerdem strahlt sie etwas Intellektuelles aus. Vielleicht könnte ein Graphologe über meine Handschrift etwas über mein Inneres erfahren. Vielleicht würde Vadder meinen Brief zu einem Graphologen bringen…?

Hoffnung keimte in ihr auf. Sie kam sogar ins Schwitzen und stieß die Decke von sich. Der Mustergatte neben ihr schmatzte vernehmlich und knirschte mit den Zähnen. „Aber nein, Vadder hat nicht genug Interesse an mir, wahrscheinlich hat er nicht die leiseste Ahnung, was in mir vorgeht. Wenn ich es recht überlege, hatte er sowieso nie den Durchblick, also warum sollte ich mich überhaupt bei ihm melden. Außerdem, dieser blöde Tag der deutschen Einheit, was ist das schon! Daran auch nur einen Gedanken zu verschwenden, ist reine Zeitvergeudung.“ Energisch zog sie sich die Decke über den Kopf, kuschelte sich an den kleine Spuckebläschen produzierenden Mustergatten und schlief ein.
 
L

Law

Gast
@ Mondfrau,

ich habe glaube ich gerade erst das erstemal was von Dir gelesen. Es gefällt mir gut. Diese geschichte hier ist besonders, nachvollziehbar und eindringlich gut beschrieben, die Großmutter, die Strumpfwaschaktion, oder die Spuckbläschen, als säße ich dabei. Schade das die geschichte so kurz war, hätte gern weiter gelesen.

Gruß
LAW
 

Mondfrau

Mitglied
Hallo LAW,

vielen Dank für deinen netten Kommentar. Diese Geschichte habe ich in einer schlaflosen Nacht in einem Zug durchgeschrieben.Ich habe noch nie darüber nachgedacht, sie evtl. weiterzuschreiben. Ich werden darüber nachdenken.

Antje
 



 
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