Fundbüro

Anonym

Gast
Ich bring Euch beide um
Die Sterne


Beim Aufwachen weiß nicht, ob ich zuerst blinzeln oder tasten soll. Schließlich öffne ich die Augen, ganz vorsichtig, und sehe ein Zimmer vor mir, das aus dieser Lage heraus beinahe wie eine Fabrikhalle wirkt- stilsicher minimalistisch, beinahe uneingerichtet. Schwarzer Holzboden, weißverputzte Wände ohne Tapeten und Bilder, lackschwarze Jalousien. Durch die Zwischenräume schießen gleißendhelle Lichtparallelen in den Raum. Ansonsten steht hier nur ein Bett aus schwarzem Stahl, und ich liege darin, eingehüllt in schwarzen Satin. Nackt. Und – allein.
Erschrocken setze ich mich auf, viel zu schnell, so dass ich nur noch schwarzweißen Wirbel sehe und wieder aufs Kissen sinke. Dann richte ich mich wieder auf, langsamer diesmal, den Trümmerschädel vorsichtig mit den Händen stützend. Das Zimmer dreht sich nicht mehr, aber der dumpfe Schmerz hinter den Augenhöhlen bleibt.
Ich habe keine Ahnung, wo ich hier bin.


Ganz ruhig bleiben. Logisches Denken führt immer zum Ziel. Wenn man etwas verloren hat, geht man zu dem Ort zurück, wo man es das letzte Mal gesehen hat. Also muss ich nur Schritt für Schritt den letzten Abend rekonstruieren und werde das fehlende Erinnerungsfragment zwischen gestern und heute schon finden.
Leider erinnere ich mich nicht einmal mehr an den Namen der letzten Bar, in der wir gewesen sind, geschweige denn an meinen letzten (oder vorletzten) Drink oder irgendwelche Gesichter. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich mich von meinen Freunden verabschiedet habe.
Was nutzt die Suche in Gedanken. Ich beschließe, aufzustehen, mich anzuziehen und dieses schwarzweiße Zimmer zu verlassen.
Also stehe ich auf und ziehe mich- nicht an. Keine Spur von Klamotten; nur ein Schachspiel steht auf dem staubfreien Boden. Sieht schlecht aus für schwarz. Keine Königin mehr. Schachmatt, Baby.
Die Person, der dieses Zimmer gehört muss penibel oder allergisch sein und sich außerdem eine Putzfrau leisten können. Kein bisschen Staub.


Vielleicht sollte ich rufen. Manchmal nützt es, wenn man den Mund aufmacht.
Hallo?
Hallo?
Nunja. Es tut sich nichts. Wirklich viel rufen kann ich nicht. Kenne ja noch nichtmal den zum schwarzen Bett gehörigen Namen.
Ob ich Hilfe rufen soll? Oder Feuer? Angeblich ist das wirksamer.
Apropos Feuer.
Hatte ich Sex gestern nacht?
Die Bettwäsche ist so sauber wie der Fußboden. Nicht das kleinste Hautschüppchen, geschweige denn andere nächtliche Reliquien.
Mir fällt ein, dass der gestrige Tag eine einzige Frustaktion war. Stress mit meiner Freundin. Exfreundin. Ich weiß nicht mehr genau, was schon wieder los war und will es auch nicht wissen.
Ich beschließe, letzte Nacht den besten Fick meines Lebens gehabt zu haben, auch wenn ich mich nicht daran erinnere.


Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, ich weiß nur, dass sich Zeit am Ende niemals zu Null summiert, egal wie oft man die Rechnung durchführt, und egal wie viel positiv und negativ sich gegeneinander aufhabt: unterm Strich kommt immer eine Zahl raus, die nicht Null ist; deshalb hat es wohl keinen Sinn, hier auf dem Bett zu sitzen und zu warten, nackt wie ich bin, also stehe ich nun doch auf und wickle mir diese antiallergisch reine schwarze Bettdecke um die Hüften und durchquere das Zimmer- weiß schneiden mir die Lichtstreifen in die Haut, und ich weiß, wie man sich in einer Zelle fühlen muss- mein Herz schlägt, weil ich nicht weiß, was mich hinter dieser Tür letztendlich erwarten wird. Sag mir, wen du fickst und ich sag dir wer du bist. Ist es so? Die Erkenntnis sitzt dann wohl hinter dieser Tür oder schon in der Uni oder wenn es ganz übel kommt in einem langweiligen Büro in einem grauen Haus.
Ich drücke die Klinke herunter, langsam, und schiebe zuerst meinen Kopf heraus, wenn jemand auf mich schießen wollen würde, wäre nun wohl meine Nase ab; sicherer werdend trete ich in den Flur.


Nun ist alles weiß, selbst der PVC. Keine Wohnung, das sehe ich sofort, es sei denn, es ist wirklich eine seltsame, sehr große Wohnung. Der Flur sieht eher nach Hotel aus, wenn auch steril, oder Krankenhaus oder Büro?
Nach beiden Seiten endlos Weiß.
Ich gehe nach links, schnell und mit ausladenden Schritten. Beim besten Willen kann ich nun nicht mehr sagen, dass ich mich wohlfühle, nein, absolut nicht; ich denke darüber nach, ob ich träume und ob es möglich ist, sich zu fragen, ob man träumt, während man träumt und irgendwie fühle ich mich wie jemand, der versucht, seine eigenen Gedanken zu zählen und nicht vorwärts kommt, weil jede Zahl, die er denkt, ein neuer Gedanke ist, der gedacht und also auch mitgezählt werden muss.
Mit wird schwindelig. Ich muss mich an der Wand abstützen und entdecke eine Tür.
Fundbüro steht in schwarzen Lettern auf dem weißem Lack.


„Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“
Was hätte ich anderes tun sollen als einzutreten? Der schrumpelige Mensch hinter dem schwarzen Schreibtisch scheint sich jedenfalls nicht über nur mit schwarzem Bettzeug bekleidetem Besuch zu wundern.

„Ähm, guten Tag, ähm, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich hier bin? Und wo meine Klamotten sind?“
Ich kann ihn gar nicht anschauen, wenn ich so vor mich hin stammle. Wahrscheinlich wird er mir antworten, dass er mir das nicht sagen könne, aber dass die Zwangsjackenausgabe drei Räume weiter stattfindet.

„Möchten Sie Ihre Kleidung als vermisst melden?“ fragt er gleichbleibend freundlich und höflich.

„Ja, das möchte ich, und bitte, ist dies hier ein Amt?“
Er antwortet nicht, sondern reicht mir einen Formularbogen.

„Ausfüllen bitte!“
Ächzend steht er auf und reicht mir den Klappstuhl, der neben seinem Schreibtisch an der Seite gestanden hat.
Ich nehme den Stuhl und setze mich. Das Formular ist freundlich; oben steht Anmledung und wenn man seinen Namen eingetragen hat, muss man nur noch ankreuzen.
Multiple Choice geht immer, sogar morgens.
Frage Nummer 1. Was vermissen Sie.
Antwortmöglichkeiten: 1. Kleider. 2. Namen. 3. Personen und schon jetzt weiß ich nicht mehr weiter, weil ich plötzlich nicht mehr an Jeans und Marken-Shirt, sondern an meine Freundin denken muss, meine EXfreundin, und ich kreuze Nummer 3 an, obwohl ich mich noch nackter fühle als vorher und anfange zu frieren, und irgendwie scheint mein Magen temporär das Sagen zu übernehmen, denn mir wird schlecht und ich verlasse dieses seltsame Fundbüro, in dem man viel zu viel findet, ohne ein Wort, stehe wieder auf dem Gang, denke immer noch an sie;
das kann doch nicht sein,
vielleicht ist es doch ein Traum?,
denn ich sehe sie den Gang herunterkommen, erkenne ihre schlanke Silhouette, ihren lustigen Gang, immer ein wenig hüpfend, weil ihr linkes Bein ein wenig kürzer ist als das rechte, lächle über ihre wippenden Haare im polarisierenden Licht; sie ist schwarz im gleißend hellen Gang, nur ein Schatten, obwohl uns nur noch wenige Schritte trennen; sie senkt ihr Gesicht, wie sie das immer macht, wenn sie mir das schüchterne Mädchen vorspielt um mir im nächsten Moment in die Arme zu springen, und ich breite meine Arme aus, doch sie bleibt stehen, lässt einen Meter Luft zwischen uns und spielt das Spiel weiter, mein Mädchen, mein schüchternes kleines Mädchen, und ich mache einen Schritt nach vorne, spiele das Spiel mit, hebe ihr Kinn mit einem Finger an und sehe ihr in die Augen, und erschrecke vor der Leere in ihnen noch bevor ich das Einschussloch genau dazwischen entdecke, zurückweiche, auf das Formular starre und hinter dem Wort Anmeldung das Wort Mörder lese und weiß, dass dies kein Traum ist, weil ich niemals wieder träumen werde, ich, einsamer König, und in meiner Hand ist die Waffe, plötzlich wieder, und ich hebe sie zwischen meine Augen, die langsam blind werden vor Tränen und drücke ab. Genau wie beim letzten Mal.
 



 
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